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Der blinde Fleck

Gesellschaft|Psychologie

Der blinde Fleck
Schon Jesus wetterte gegen Pharisäer, die sich nicht nach ihren eigenen moralischen Ansprüchen richteten. Neue Studien zeigen: So gut wie jeder ist blind für die eigene Heuchelei.

In seiner Evolution hat der Mensch den unwiderstehlichen Drang entwickelt, das Verhalten von sich und anderen moralisch zu bewerten. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er atmet und isst, lehnt er bestimmte Handlungsweisen als „böse“ ab. Dieser Grundtendenz, sagt der Psychologe Benoît Monin von der Stanford University, stehen zwei andere tief sitzende Antriebskräfte entgegen: der Wunsch, einen guten Eindruck zu machen, und das Bestreben, sich selbst in positivem Licht zu sehen. Diese widersprüchlichen Motive verführen im Alltag immer wieder dazu, nach außen hohe moralische Ansprüche zu vertreten, über die man sich aber insgeheim hinwegsetzt. Diese Heuchelei spielt sich in einem blinden Fleck der eigenen Wahrnehmung ab. Man betrachtet die Verfehlungen der anderen mit dem Scharfblick eines Elektronenmikroskops, während man die eigenen übersieht.

Dieses Messen mit zweierlei Maß fällt bei repräsentativen Umfragen deutlich auf, berichtet Monin. Die meisten Befragten sind überzeugt, mehr zum Gemeinwohl beizutragen und fairere Entscheidungen zu treffen als die graue Masse. 86 Prozent aller Manager schätzen ihre eigene ethische Haltung höher als die ihrer Kollegen. Monin deutet das so: Sie legen bei sich selbst mehr Gewicht auf die Absichten, während sie bei anderen moralische Defizite im Handeln monieren.

In einer Studie des Psychologen Thomas Gilovich von der Cornell University in Ithaca erhielten 100 Probanden angeblich die Chance, eine Spende für karitative Zwecke zu erwerben, indem sie ihre Hände länger in schmerzhaft kaltes Wasser tauchten. Die meisten machten viel schneller einen Rückzieher, als sie vorausgesagt hatten. Danach sollten sie auf einer Skala ankreuzen, wie „altruistisch“ sie ihr eigenes Verhalten und das der anderen beurteilten. Während sie ihr eigenes Verhalten durchweg als ziemlich selbstlos ansahen – ungeachtet der Eintauchdauer –, machten sie den Altruismus der anderen streng an den durchgehaltenen Minuten fest.

In einem anderen Experiment stellten die beiden amerikanischen Psychologen Piercarlo Valdesolo und David DeSteno Versuchsteilnehmer vor die Wahl, einen von zwei Tests durchzuführen. Der eine war kurz und interessant, der andere dauerte fast eine Stunde und war langweilig. Der nachfolgende Proband würde die übrig gebliebene Aufgabe vorgesetzt bekommen, hieß es. Die Probanden konnten die Wahl per Zufallsgenerator treffen – was sie als fair erachteten – oder sich eine der Alternativen aussuchen. Und das in dem Glauben, weder der Versuchsleiter noch der nachfolgende Proband würden etwas von ihrer Entscheidung mitbekommen. Das Resultat: 92 Prozent der Probanden spielten sich selbst die kurzweilige Aufgabe zu. Hinterher sollten sie ankreuzen, für wie fair sie die Aufgabenzuteilung hielten. Die Trickser empfanden die Zuteilung als „mittelfair“. Sie konnten an ihrem eigenen Verhalten also nichts grob Unanständiges erkennen. Ganz anders jedoch, wenn sie über Video das Verhalten anderer Versuchsteilnehmer beobachteten, die ebenfalls tricksten: Jetzt empfanden sie das gleiche Verhalten, das sie selbst gezeigt hatten, als „extrem unfair“ .

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Offenbar hatten die Probanden bei ihrer Missetat zunächst Gewissensbisse, rationalisierten ihr Verhalten dann aber und bogen es als akzeptabel zurecht. Das wiesen die Forscher nach, indem sie den Versuchsaufbau änderten: Bevor die Probanden die Fairness der Zuteilung beurteilen sollten, hatten sie sich diesmal Ziffern einzuprägen, die später angeblich abgefragt würden. Die Überlegung der Forscher: Da das Einprägen dieselben kognitiven Ressourcen in Anspruch nimmt wie ein Selbstbetrug, müsste die Möglichkeit zum Rationalisieren blockiert sein. Ergebnis: Unter diesen Umständen fanden die Probanden jede Pfuscherei unfair – bei sich selbst genauso wie bei anderen.

Eine Art moralischer Ablasshandel hilft, die Augen vor der eigenen Scheinheiligkeit zu verschließen: das „Moral Licensing“. Menschen, die etwas Nettes getan haben, glauben, dass es ihnen danach zusteht, etwas weniger Nettes zu tun. Monin hat in einem Experiment festgestellt, dass Menschen eher sexistische oder rassistische Meinungen äußern, wenn sie sich zuvor aufgeklärt und vorurteilsfrei geben konnten. Dadurch bleibt ihr Selbstbild als gut handelnder Mensch trotz des Verstoßes intakt.

Die Psychologen Nina Mazar und Chen-Bo Zhong von der University of Toronto untersuchten, wie sich Probanden verhielten, die gerade ein „grünes“ Produkt erstanden hatten. Machte es aus ihnen generell einen „besseren Menschen“? Das überraschende Fazit: Wenn man etwas gekauft hat, das ein gutes Gewissen erzeugt, verrechnet man das in seiner inneren Bilanz. Die Probanden verhielten sich in einem anschließenden Kooperationsspiel nicht etwa sozialer, sondern egoistischer.

Eine Untersuchung der Psychologin Sonya Sachdeva von der Northwestern University in Illinois weist in eine ähnliche Richtung. Sie ließ Probanden gegen Bezahlung eine Selbstdarstellung schreiben, die entweder ihre angenehmsten oder ihre unangenehmsten Persönlichkeitszüge enthielt. Diejenigen, die über ihre netten Eigenschaften berichtet hatten, rückten hinterher nur einen von ihren zehn Dollar Honorar für einen guten Zweck heraus. Wer sich hingegen mit seinen Schattenseiten beschäftigt hatte, glich seine moralische Bilanz durch eine großzügigere Spende von durchschnittlich 5,30 Dollar aus.

Die Verlockung des Moral Licensing spiegelt sich sogar in der Gestaltung von Supermärkten und Discounterläden wider: Am Eingang lullen frisches Obst und Gemüse das gesundheitlich-moralische Gewissen ein – und geben dem inneren Schweinehund den Freibrief, sich am Ausgang an Zigaretten, Alkohol und Süßigkeiten zu vergreifen.

„Wir möchten zwar nicht behaupten, dass es überhaupt keine moralische Integrität gibt“, kommentieren die Psychologen Daniel Batson und Elizabeth Thompson von der University of Kansas, „aber der Schein kann trügen. Die Kraft der moralischen Integrität wird vermutlich viel zu hoch eingeschätzt.“ Moralische Grundsätze führen oft nicht dazu, dass man moralisch handelt, sondern nur dazu, dass man so erscheint. Wenn es möglich ist, dem Eigeninteresse zu frönen, ohne die moralische Fassade zu gefährden, geben die meisten Menschen dem Ruf der Selbstsucht nach. ■

von Rolf Degen

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