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Erst der Elektroschock, dann der Kuss

Gesellschaft|Psychologie

Erst der Elektroschock, dann der Kuss
Die meisten Menschen bringen Unangenehmes möglichst rasch hinter sich, während sie auf schöne Ereignisse gerne warten. Das ist die Macht der Vorfreude. Forscher haben jetzt herausgefunden, wie stark dieses Gefühl das Verhalten beeinflusst.

Acht bis zehn Prozent aller Geschenkgutscheine werden in den USA nicht eingelöst. Dadurch gehen den Amerikanern alljährlich acht Milliarden Dollar durch die Lappen. Aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften regiert die pure Unvernunft, wenn Konsumenten sich eine bereits bezahlte Gratifikation entgehen lassen. Doch Psychologen verstehen in den letzten Jahren immer mehr, dass das Aufschieben der Wunscherfüllung einer emotionalen Logik folgt. Das Zauberwort heißt Vorfreude – gemeint ist damit das Schwelgen in einem künftigen Lustgewinn.

Jeder kann das Gefühl, dass die Aussicht auf eine in der Zukunft liegende Befriedigung „Schmetterlinge im Bauch” weckt. Es sind knisternde Wonnen, mit denen ein herbeigesehntes Schäferstündchen mit dem Traumpartner vorab beglückt. Und wer hat nicht schon mal begeistert Kataloge gewälzt und in Internet-Seiten gestöbert, um sich mit allen Feinheiten eines gewünschten Objekts vertraut zu machen?

Zu solchen Augenblicken verhalten wir uns entgegen dem Lehrbuchwissen der Ökonomen, sagt der Psychologe George Loewenstein von der Carnegie Mellon University. Denn danach würde ein rational handelnder Mensch die Gelegenheit zu einer Gratifikation sofort wahrnehmen. Ein Lustgewinn, der sich erst in der Zukunft erzielen lässt, entspricht, ökonomisch gesprochen, einer Abzinsung. Die Aussicht darauf müsste weniger wert sein als ihr sofortiges Eintreten. Tatsächlich belegen diverse Experimente, dass Probanden den Geldwert alltäglicher Produkte mit jedem Tag des Wartens weiter nach unten schrauben.

Umso mehr versetzte Loewenstein die Fachwelt mit einer Pilotstudie in Erstaunen, in der er 30 Versuchspersonen danach befragte, wie viele Dollar sie bezahlen würden, um gewisse Wunscherfüllungen entweder sofort oder mit ein paar Tagen Abstand entgegenzunehmen. Die brisanteste Gratifikation war „Ein Kuss deines Lieblingskinostars”, am Ende stand „Der Aufschub eines schmerzhaften Elektroschocks”.

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Entgegen aller wirtschaftlichen Vernunft wollten die Teilnehmer für die Aussicht auf den Kuss in drei Tagen doppelt so viel hinblättern wie für den sofortigen Schmatzer. Umgekehrt wollten sie das Doppelte zahlen, um den Elektroschock gleich hinter sich zu bringen und nicht noch Tage darauf warten zu müssen.

Anfang 2012 wiederholte eine Gruppe um David J. Hardisty von der Stanford University School of Business die Studie mit 271 Probanden und ergänzte sie durch weitere Fragen. Fazit: Je genüsslicher die Teilnehmer die Offerten im Geist vorwegnahmen, desto mehr war ihnen eine Verzögerung wert. Und wieder war die Neigung stärker, unangenehme Dinge gegen einen Aufpreis so schnell wie möglich durchzuziehen – mit Ausnahme der Amputation eines Beins, das jeder verständlicherweise so lange wie möglich behalten will.

„Wir neigen in der Regel dazu, jene Gratifikationen schwelgerisch hinauszuzögern, die uns ein intensives, aber flüchtiges Hochgefühl vermitteln”, erläutert Loewenstein. „Der Aufschub dient dann nicht nur dazu, die Vorfreude zu steigern. Er ermöglicht es uns zudem, Maßnahmen zu treffen, die den Genuss an der Wunscherfüllung noch steigern.” Wer zum Beispiel ein köstliches Mahl im Geist vorwegnimmt, kann seine Begierde durch Fasten auf die Spitze treiben.

Geschenkgutscheine sind besonders dazu geeignet, die Vorfreude zu steigern – vor allem, wenn es sich um luxuriöse Dinge handelt, vor deren Kauf man im Alltag zurückschrecken würde. Das geht aus einer Studie der Psychologin Suzanne Shu von der University of Los Angeles hervor: Sie schenkte 65 Probanden Gutscheine zum Besuch eines Luxus-Cafés, die entweder binnen drei Wochen oder zwei Monaten eingelöst werden konnten. Die Teilnehmer mit der Langzeitoption waren davon überzeugt, die Konsumerfahrung intensiver genießen zu können – „verbummelten” allerdings häufig den Termin.

Die Lust am Träumen erklärt auch, warum Millionen Deutsche ihre Kreuzchen beim Lotto setzen, obwohl dieses Glücksspiel vergleichbar wenig Gewinn abwirft. Während beispielsweise beim Roulette die Verluste der Spieler pro Spiel im Durchschnitt etwa 2,7 Prozent des Einsatzes betragen, sind es beim normalen Lotto 50 Prozent.

Als ein Team um den Ökonomen Martin Kocher von der Universität München in einem Experiment 65 Personen zwei Lotteriescheine zuwies, die sie entweder am selben Tag oder an zwei aufeinander folgenden Tagen spielen konnten, votierten 70 Prozent für die Zwei- tage-Option. Nach ihren Angaben nutzten sie die Wartezeit, um Gefühle von „Hoffnung” und „Erregung” auszukosten.

Die Dinge, die für viel Vorfreude sorgen, sind auch dazu angetan, eine besonders nachhaltige Erfüllung zu bescheren. Die Vorfreude kann sich sogar positiv auf die Gesundheit auswirken, wie ein Team um den Harvard-Psychologen Daniel Gilbert herausgefunden hat. Wenn wir Lebensmittel für den sofortigen Konsum auswählen, erliegen wir leicht der Versuchung, uns mit Fast Food „abzufüttern”. Bei längerfristiger Planung treten solche Verlockungen aber in den Hintergrund, und wir gewinnen die Freiheit, uns auf gesündere Formen des Genusses zu besinnen. In einer Studie stellten die Forscher ihre Probanden vor die Entscheidung zwischen Schokoriegeln und frischem Obst. Wenn die Lebensmittel sofort verzehrt werden sollten, griffen die meisten zu Süßigkeiten – lag die Verkostung aber eine Woche in der Zukunft, wählte die Mehrheit das gesündere Angebot.

Eine Rolle beim Aufschub künftiger Freuden spielt auch die prickelnde Ungewissheit. Wer sich im Geist an einem bevorstehenden Restaurantbesuch delektiert, weiß noch nicht, welche köstlichen Gerichte ihn auf der Speisekarte erwarten. Und wer einem Schäferstündchen entgegenfiebert, hat noch keine Ahnung, was ihn dabei genau erwartet. Die Ungewissheit ist nach Darstellung von Gilbert ein „Konservierungsmittel”, das die Wonnen vor dem abstumpfenden Effekt der Gewöhnung schützt.

Menschen, die angeben, viel Zeit mit Gedanken an zukünftige Genüsse zu verbringen, zeichnen sich laut der Gilbert-Gruppe durch eine höhere Lebenszufriedenheit aus. Dagegen ist die Fähigkeit, Vergnügliches zu erwarten, bei Patienten mit einer depressiven Erkrankung, einer Schizophrenie oder einer Drogensucht das Wohlbefinden, vermindert.

Aber auch die Reichen und Mächtigen dieser Welt haben es schwer mit der Vorfreude. Dies stellte die Psychologin Elisabeth Dunn von der University of British Columbia fest, als sie 374 Probanden danach befragte, wie häufig sie im Alltag in zukünftigen und bereits genossenen Freuden schwelgten. Ergebnis: Je höher der wirtschaftliche Status eines Probanden war, desto weniger konnte er sich an vergangenen oder erwarteten Vergnügungen erfreuen. Die Macht, sich alles schon im Hier und Jetzt gönnen zu können, scheint die Vor- und Nachfreude im Keim zu ersticken.

Eine weitere Erkenntnis: Die Vorfreude verleiht schönen Erlebnissen mehr Glanz als der Gedanke an angenehme Erinnerungen. Diesen Schluss zog der Psychologe Terence R. Mitchell von der University of Washington, als er 21 Probanden bat, vor, während und nach einer Europareise über ihre Gefühle Buch zu führen. Ergebnis: Die Probanden versprachen sich vor der Reise mehr Genuss und empfanden weniger Unbehagen, als ihnen dann tatsächlich zuteil wurde.

Aber auch im Rückblick bauschten sie die befriedigende Seite der Erfahrung auf – wenngleich nicht ganz so stark wie ihre Freude vor der Reise. In dem Augenblick, in dem ein angestrebter Zustand Realität wird, nimmt die „Buchhaltung” in unserem Kopf eine Art Abrechnung vor. Wurden unsere Erwartungen wirklich erfüllt oder besteht Anlass zur Reue, weil eine andere Entscheidung besser gewesen wäre?

Vorfreude ist menschlich. Aber können auch Tiere Vorfreude empfinden? Nimmt der Pawlow’sche Hund, dem bereits beim Läuten der Essensglocke das Wasser im Mund zusammenläuft, im Geist den Genuss der Fütterung vorweg? Kann also bereits die Ankündigung einer Gratifikation das Belohnungssystem des Gehirns stimulieren? Dieses System findet sich im Hirn von Menschen und höheren Tieren. Es setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Der eine Teil, der für die reine Begierde zuständig ist, basiert auf dem Botenstoff Dopamin. Dieser Teil überzieht vom Hirnstamm aufwärts das ganze Gehirn. Der andere Teil vermittelt die Lust an der Wunscherfüllung. Dieses „Befriedigungssystem” besteht aus winzigen, eng umschriebenen „Hot Spots”, die an verschiedenen Stellen des Gehirns sitzen und mit körpereigenen Opiaten und Hanfdrogen (Endocannabinoiden) arbeiten.

„Wenn Tiere einen Genuss vorwegnehmen, werden in ihrem Gehirn die gleichen Hot Spots aktiviert wie im Augenblick der Befriedigung”, erklärt der Psychologe Kent Berridge von der University of Michigan in Ann Arbor, der Entdecker des „dualen Systems”. Berridge hatte Ratten eine begehrte Zuckerlösung vorgesetzt, die durch eine Essensglocke angekündigt wurde. Dem ließ er noch einen weiteren Glockenton vorausgehen. In dieser ausgedehnten Wartephase lief den Ratten nicht nur das Wasser im Mund zusammen, sondern in ihren Hot Spots sammelte sich auch der Glückscocktail. „Allerdings war der Ausschlag nicht so stark wie im Moment der Befriedigung”, sagt Berridge. Tiere sind wohl kaum in der Lage, sich künftige Wonnen in feinsten Details und sattesten Farben auszumalen.

Noch spannender ist die Frage, ob Tiere mit uns die Neigung gemeinsam haben, auf ein momentanes Vergnügen zu verzichten. Ratten verschmähten im Versuch eine angebotene Saccharin- Lösung, wenn sie in einer früheren Sitzung erst das Saccharin und dann eine noch begehrtere Zuckerlösung erhalten hatten, berichtet der Psychologe Andrey Verendeev von der American University in Washington. Allerdings nur, wenn sie nicht unter bohrendem Hunger litten. „Sie verwerfen quasi eine kleinere Freude, weil sie sich einer noch größeren Freude entgegen sehnen”, erklärt Verendeev. Dieser „antizipatorische Kontrast” könnte Tieren in der freien Wildbahn nützlich sein: Sie geben sich dadurch bei der Futtersuche nicht lange mit ein paar Körnern ab, wenn sie ahnen, dass um die Ecke pralle Früchte warten.

Und es funktioniert auch umgekehrt, erklärt Loewenstein: Als Ratten in einem Versuch die Wahl hatten, sich einem leichten elektrischen Schock sofort oder mit Verzögerung auszusetzen, zogen sie die direkte Variante vor. Wenn sogar Tiere diese Lektion beherrschen, sollte sie auch Ökonomen eine Lehre sein: Das Nichteinlösen von Geschenkgutscheinen kann – glückstechnisch gesehen – durchaus ein traumhafter Handel sein. ■

Die prickelnde Vorstellung, Scarlett Johansson demnächst küssen zu dürfen, brachte ROLF DEGEN auf die Idee zu diesem Artikel.

von Rolf Degen (Text) und Matthias Schwoerer (Illustrationen)

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LESEN

Psychologisches Sachbuch: Fred B. Bryant, Joseph Veroff Savoring A New Model of Positive Experience Erlbaum, Mahwa 2006, € 33,99

Wie Reichtum die Vorfreude ruinieren kann: Jordi Quoidbach Money giveth, money taketh away The dual effect of wealth on happiness In: Psychological Science 2010, Vol. 21, S. 759–763

Vorfreude lässt sich bei Tieren nachweisen: Andrey Verendeev Conditioned taste aversion and drugs of abuse History and interpretation In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews 2012, Vol. 36, S. 2193–2205

INTERNET

Menschen zahlen dafür, dass sich die Erfüllung ihres Wunsches verzögert: David J. Hardisty Dread Looms Larger than Pleasurable Anticipation Online verfügbar unter: papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm? abstract_id=1961370

Kompakt

· Die Vorfreude empfinden die meisten Menschen intensiver als die Freude über das Ereignis selbst.

· Wer häufig an künftige Genüsse denkt, ist mit seinem Leben zufriedener.

· Auch Tiere können sich auf etwas freuen.

Schöne Unterwäsche!

Neue Studien zeigen, dass die Wissenschaft die Bedeutung der Vorfreude bisher gründlich unterschätzt hat. Steckt dahinter ein System, Herr von Hirschhausen?

Psychologen haben lange nach der Maxime geforscht: Der Volksmund soll doch bitte die Klappe halten, wenn gebildete Menschen sich unterhalten. Dabei entgingen der Forschung so alltägliche und grundlegende Phänomene wie Lachen, Glück und Vorfreude.

Wie kann sich Vorfreude besonders nachhaltig entfalten?

Aus der Glücksforschung kennt man den anhaltenden Effekt von gemeinsamen Erlebnissen. Deshalb schenkt man auch gern Eintrittskarten für ein Konzert oder Kabarett. Es ist vorher schön, währenddessen und danach. Und man hat paradoxerweise viel länger etwas davon, als wenn man etwas „Haltbares” bekommt.

Vorfreude ist besonders prickelnd, wenn die Details der Wunscherfüllung ungewiss sind. Was verrät das über die menschliche Natur?

Von wegen „Verbraucher wollen Transparenz”: Gerade bei der Vorfreude und bei Geschenken wünschen wir uns größtmögliche Intransparenz! Und wehe, man ahnt trotz Verpackung, was drin ist. Als Kinder haben wir Geschenkpäckchen immer geschüttelt, um zu raten: Lego oder Playmobil?

Kennen Sie einen Trick, mit dem sich die Vorfreude verlängern lässt?

Was ist mit dem ewigen Klassiker, schöne Unterwäsche zu verschenken? Mehr Vorfreude lässt sich doch nicht erzeugen: Etwas Besonderes kaufen, es dann einpacken, damit es jemand Besonderes auspackt, um sich darin wieder einzupacken – um letztlich wieder ausgepackt zu werden!

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
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