Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Fisch oder Fleisch?

Gesellschaft|Psychologie

Fisch oder Fleisch?
Ständig müssen wir kleinere und größere Entscheidungen treffen. Warum bloß tun wir, was wir tun?

Max Grundig, einer der erfolgreichsten deutschen Nachkriegsunternehmer, wurde einmal gefragt: „Herr Grundig, nach welchen Kriterien treffen Sie eigentlich Ihre Entscheidungen?“ Da lehnte sich der Patriarch zurück, tippte sich zunächst mit dem Finger an die Stirn und deutete dann auf seinen Solarplexus: „Ich überlege. Mein Bauch entscheidet.“

Gewiss: Ein wenig gönnerhaft formuliert – doch schlecht ist Grundigs Bild nicht. Tatsächlich scheinen wir viele unserer täglichen Entscheidungen gar nicht aktiv zu treffen. Sie fallen einfach – ohne dass wirklich klar wäre, was den Ausschlag gab. Rationale Erwägungen – die Stirn – sind dabei ebenso im Spiel wie Intuitionen, Gefühle oder Vorlieben – der Bauch. Zum Beispiel: Sollen Sie diesen Artikel weiter lesen oder doch lieber einen anderen anfangen? Die schwankenden Aktien noch ein bisschen halten? Die Frau von neulich wieder sehen? Im Restaurant Gänsebrust oder -keule wählen? Wahrscheinlich ist die ehrliche Antwort, warum wir tun was wir tun, mitunter recht schlicht: Wir wissen es selber nicht so genau.

Hirnforscher wollen diese Nuss gerne knacken und aus dem vagen Feld der Entscheidungsfindung eine harte Wissenschaft machen. Seit Jahren boomt dazu ein ganzer Forschungszweig: die Neuroökonomie. An der Schnittstelle zwischen Neurowissenschaft, Verhaltenspsychologie und ökonomischer Theorie sollen die Mechanismen dingfest gemacht werden, die unser Handeln lenken (siehe Beitrag „Die Marke macht’s“). Die grundsätzliche Frage dabei: Wie filtert das Hirn unter mehreren Optionen seine – im besten Fall richtige – Entscheidung heraus? Nicht nur Marketingexperten würden liebend gern wissen, wie und warum wir welche Kaufentscheidungen treffen. Auch Ärzte hoffen auf einen besseren Einblick in die Entscheidungsmaschinerie des Gehirns. Denn sowohl Drogen und verschiedene Medikamente als auch psychische Krankheiten verändern – und behindern – eben jene Entscheidungsprozesse, ohne die unser tägliches Leben nicht ablaufen kann. So ist es gerade ein typisches Merkmal der Depression, das sich die Betroffenen für nichts entscheiden können. Depressive Menschen liegen morgens oft unschlüssig und ohne Antrieb wach im Bett, bevor sie sich – mitunter nach Stunden – zum Aufstehen durchringen. Freilich: Wie sich ein Mensch – oder selbst ein Versuchstier – unter diesen oder jenen Bedingungen im Einzelfall entscheidet, lässt sich durch neurobiologische Messungen im Labor bisher nicht vorhersagen. Gleichwohl haben Hirnforscher in den letzten Jahren eine Reihe von Modellen entwickelt, die zumindest grundsätzlich erklären, wovon unsere Entscheidungen gelenkt werden.

Vor allem eine – ebenso plausible wie simple – These haben Neurobiologen mit einer Fülle von Experimenten belegt: Wir tun etwas, weil wir uns davon einen Vorteil erhoffen. Für diese These spricht, dass das Gehirn über eine Art Belohnungssystem verfügt, wie es Wissenschaftler nennen. Zu diesem Neuronen-Netz gehören Nervenzellansammlungen im Hirnstamm, bestimmte Bereiche der Hirnrinde sowie der so genannte Mandelkern, der an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt ist. „Wie man aus Tierversuchen seit Langem weiß, spricht das Belohnungssystem auf Futter, Sex oder auch Drogen in ganz ähnlicher Weise an“, sagt der Neuropsychologe Peter Kirsch von der Universität Gießen. Offenbar dienen die in den Belohnungszentren erzeugten Nervenimpulse dazu, dem Gehirn das angenehme Erlebnis zu signalisieren und dadurch wiederum Lernvorgänge zu beschleunigen und Handlungsentscheidungen zu beeinflussen. Inzwischen sei klar, dass das menschliche Gehirn mit vergleichbaren Belohnungssignalen operiere, sagt Kirsch – ganz gleich, ob es sich bei der „ Belohnung“ um den delikaten Geschmack eines gut gebratenen Steaks oder einen Geldgewinn im Glücksspiel handele.

Anzeige

Der Clou aber ist: Das Belohnungssystem springt bereits in Erwartung eines zukünftigen Genusses an, wie Kirsch und seine Kollegen bei einer Untersuchung mit Psychologiestudentinnen herausfanden. Die jungen Damen hatten sich für eine Kernspintomographie zur Verfügung gestellt, mit der man die Durchblutung kleinster Hirnareale messen kann. Während sie im Scanner lagen, sollten sie auf ein Lichtsignal hin so schnell wie möglich einen Knopf drücken. Dabei waren die Reaktionszeiten immer dann besonders kurz und gleichzeitig die Belohungszentren schon im Vorhinein besonders aktiv, wenn den Studentinnen für eine gute Leistung ein kleiner Geldgewinn versprochen worden war. Das Hirn spekuliert demnach ständig über die möglichen Gewinne der Zukunft.

Mit dieser Hypothese hatten der US-amerikanische Neurotheoretiker Read Montague und seine Kollegen bereits im Jahr 1997 aufgewartet. In einem viel beachteten Beitrag im Fachblatt Science lieferten die Forscher vom Baylor College im texanischen Houston ein Modell für einen einfachen neuronalen Mechanismus, mit dem das Gehirn fortlaufend seine Profiterwartungen mit der Wirklichkeit abgleicht, um daraus Schlüsse für spätere Entscheidungen zu ziehen.

Die entscheidende Rolle spielen dabei Zellen im Belohnungssystem, die ihre Signale in mehrere Bereiche des Großhirns senden und dort den Botenstoff Dopamin freisetzen. Tatsächlich weiß man aus Experimenten mit Affen, dass diese Nervenzellen bei einer für das Tier unerwartet hohen Belohnung besonders stark feuern – bei einer enttäuschend geringen oder ausbleibenden Belohnung dagegen nur schwach. Das Dopamin-System arbeitet also wie ein neuronaler Gradmesser für den Erfolg einer Handlungsentscheidung. Auf den Menschen übertragen heißt das:

• Wenn man bei einem Aktienkauf überraschende Gewinne macht, führt das zu einer starken Aktivierung der Dopamin-Neurone.

• Unerwartete Verluste dagegen bremsen das Belohnungssystem – und führen dadurch bei späteren Aktienkäufen möglicherweise zu einem Strategiewechsel.

Inzwischen hat Montague sein Modell zusammen mit dem US-Psychiater Gregory Berns von der Emory University in Atlanta erweitert. Demnach werden die Belohnungssignale der Dopamin-Neuronen in ein übergeordnetes Nervenzellennetz im Großhirn eingespeist, das auch Informationen aus den Emotionszentren empfängt (siehe Grafik „Wo die Entscheidungen fallen“). Wenn wir etwas tun, ziehen wir schließlich nicht nur materielle, sondern auch emotionale oder soziale Gewinne in Betracht – etwa die Anerkennung von Freunden, die eine bestimmte Entscheidung mit sich bringen kann. Tatsächlich werden in dem besagten Großhirn-Schaltkreis – der aus Teilen des Stirnhirns und der so genannten Basalganglien besteht – die verschiedenen Aspekte zu einer Art Gesamtnutzen zusammengerechnet, berichten Berns und Montague.

Bemerkenswert ist: Was ein Mensch als Nutzen oder Nachteil betrachtet, kann sich je nach Situation völlig umdrehen. Das hatte bereits der israelisch-amerikanische Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman in den Siebzigerjahren zusammen mit seinem Kollegen Amos Tversky in einem unter Entscheidungsforschern berühmten Versuch beobachtet: Stellt man Menschen vor die Wahl, bei einer Lotterie mit derselben Wahrscheinlichkeit entweder zehn Dollar, zwei Dollar fünfzig oder gar nichts zu gewinnen, empfinden sie einen möglicherweise ausbleibenden Gewinn als ausgesprochen negatives Ergebnis. Geht es in der Lotterie aber darum, entweder nichts zu gewinnen oder Geld zu verlieren, schätzen dieselben Personen bereits die Aussicht nichts zu erhalten als verlockend ein.

inzwischen hat ein Team um den Harvard-Forscher Hans Breiter das Experiment mit modernen Methoden im Neurolabor wiederholt und dabei entdeckt, dass diese je nach Situation unterschiedlich gefärbte Erwartung durch Signalmuster im Mandelkern – dem Gefühleverarbeiter – zu erkennen ist. Salopp gesagt: Was das Gehirn als positiv oder negativ wertet, ist relativ.

Hinzu kommt: Menschen handeln nicht nur aus Vorteilsabsicht, sondern auch aus Vorlieben. Mitunter entscheiden wir uns für etwas, weil wir es schlicht mögen. „Es ist erstaunlich, dass diese Einsicht erst vor Kurzem von den Neurobiologen anerkannt wird“, bemerkt der New Yorker Hirnforscher Paul Glimcher. Neurowissenschaftler haben das Hirn lange Zeit eher als einen Automaten betrachtet, der auf einen spezifischen Anreiz stets mit demselben neuronalen Erregungsmuster reagiert – eine Idee, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Hirnphysiologen wie Charles Sherrington und Ivan Pavlov entwickelt wurde. Heute weiß man, dass selbst Affen für verschiedene Futtersorten ausgeprägte Vorlieben besitzen und dasselbe Futter bei verschiedenen Tieren unterschiedliche neuronale Belohnungssignale auslöst.

Auch andere Studien zeigen, dass sich neuronale Entscheidungsprozesse nur teilweise mit den Kategorien von Nutzen und Nachteil fassen lassen. Viele Hirnforscher – und auch Ökonomen – haben sich inzwischen verabschiedet vom lange propagierten Bild des Homo oeconomicus, der mit rationalem Kalkül stets seinen maximalen Vorteil sucht. Vielmehr wird immer deutlicher, dass die meisten Menschen bei ihren Entscheidungen die Interessen anderer mit einbeziehen (siehe Beitrag „Geben will gelernt sein“). Zumindest in begrenztem Maße sind wir kooperative Wesen.

Was Menschen jedoch überhaupt nicht ertragen, ist das Gefühl „ übers Ohr gehauen“ zu werden. So zeigen viele Verhaltensexperimente, in denen die Teilnehmer in simulierten Verhandlungen Geld gewinnen können, dass es ihnen bei einem als unfair empfundenen Angebot lieber ist, wenn gar niemand von dem Deal profitiert. Was dabei im Gehirn geschieht, hat vor Kurzem das Team um den Psychologen Alan Sanfey von der Princeton University festgestellt: Bei niedrigen, unfairen Angeboten wird die so genannte Inselrinde erregt – ein Teil des Gehirns, der bei der Entstehung von Ekelgefühlen beteiligt ist. Offenbar, so folgerten Sanfey und Kollegen, spielen für unsere Entscheidungen Gefühle mitunter eine größere Rolle als die reine Vernunft.

Auch der Psychologe Luke Clark von der University of Cambridge hält das für plausibel und zweckmäßig: „Ein emotionsabhängiger Entscheidungsmechanismus ist für das Gehirn Ressourcen sparend. Psychologisch betrachtet ist eine rationale Methode, Kosten und Nutzen zu kalkulieren, recht ineffizient.“ Vielmehr scheint das Gehirn gerade in schwer durchschaubaren Situationen auf emotionale Bewertungen und intuitives Erfahrungswissen zurückzugreifen.

Die dabei vielleicht wichtigste Schnittstelle im Gehirn ist der präfrontale Cortex (PFC), ein direkt hinter der Stirn gelegener Teil der Hirnrinde. Sowohl die Arbeitsgruppe um Clark als auch ein Team um die US-Neuroforscher Antoine Bechara und Antonio Damasio von der University of Iowa haben bei Patienten mit Schädigungen des Präfrontalcortex beobachtet, dass sie Schwierigkeiten haben, alltägliche Entscheidungen in ihren Lebensbeziehungen, am Arbeitsplatz oder auch in finanziellen Dingen zu treffen.

Möglicherweise neigen Personen mit bestimmten Formen einer PFC-Schädigung zu einem besonders riskanten Entscheidungsverhalten, einer „Kurzsichtigkeit für die Zukunft“, wie es Bechara und Damasio nennen. So konnten die beiden Forscher zeigen, dass die Patienten bereits bei einem Kartenspiel im Versuchslabor eine überaus waghalsige Strategie verfolgen. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil man weiß, dass die meisten Menschen bei ihren Entscheidungen Risiken zu minimieren versuchen.

Der präfrontale Cortex ist eine Art Generalist im Gehirn. Er steht mit den Sinnessystemen ebenso in Verbindung wie mit Regionen, die Bewegungen steuern, Gedächtnisinhalte speichern und Gefühle verarbeiten. Offensichtlich gehört es zu seinen Aufgaben, verschiedene Informationsströme im Gehirn miteinander zu verknüpfen und die Aufmerksamkeit auf wichtige Punkte zu lenken. Der Psychologe Richard Ridderinkhof von der Universität Amsterdam meint, dass der PFC auch für die geistige Kontrolle unserer Handlungen unentbehrlich ist: Wenn wir zwischen verschiedenen Optionen wählen müssen, ist er immer im Spiel.

Gleichwohl sei der PFC kein neuronales Kommandozentrum, unterstreicht Ridderinkhof. Denn an jeder Entscheidung beteiligen sich unterschiedliche Neuronengruppen, die weit über das Nervensystem verteilt liegen. Doch wie verknüpft das Gehirn die verschiedenen Signale bis hin zu dem Punkt, wo ein Entscheidungsprozess in eine Handlung übergeht? „Trotz aller moderner Forschungsgeräte bleibt das ein ziemliches Rätsel“, bedauert Ridderinkhof. ■

Martin Lindner

Ohne Titel

• Neuroforscher kombinieren klassische psychologische Experimente mit modernen Geräteuntersuchungen, um herauszufinden, was im Gehirn bei einer Entscheidung geschieht.

• Resultat: Die Vernunft spielt eine überraschend kleine Rolle, wenn das menschliche Gehirn etwas abwägt.

• Das Gehirn versucht sich durch seine Entscheidungen vor allem selbst zu belohnen.

COMMUNITY Fernsehen

Was Forscher aus den Gehirnen von Konsumenten ablesen, hat auch die Kollegen vom TV-Wissensmagazin „nano“ fasziniert. In Kooperation mit bild der wissenschaft haben sie einen Fernsehfilm zum Thema produziert. Verpassen Sie nicht die Erstausstrahlung in 3Sat am Donnerstag, den 25. August, um 18.30 Uhr. Wo in den Tagen danach etliche Wiederholungen in anderen Sendern laufen, erfahren Sie im Internet unter der Adresse: www.3sat.de/nano

LESEN

Hans-Georg Häusel

Brain Script – Warum Kunden kaufen

Haufe Verlag 2004, € 24,80

Gerald Zaltman

How Customers Think

Harvard Business School Press 2003, € 27,90

Robert Axelrod

DIE EVOLUTION DER KOOPERATION

Oldenbourg, München 2005, € 19,80

Zwei Klassiker zur Erforschung menschlichen Verhaltens, beide nur noch antiquarisch zu erhalten:

Karl Sigmund

SPIELPLÄNE

Droemer Knaur, München 1997 (antiquarisch ab € 7,–)

und

Matt Ridley

DIE BIOLOGIE DER TUGEND

Ullstein, Berlin 1999 (antiquarisch ab € 3,50)

INTERNET

Übersicht mit vielen Links zu fast allen Forschungsprojekten der Neuroökonomie:

www.richard.peterson.net/Neuroeconomics.htm

Die Neuroökonomen der Universität Münster:

www.neuro-economy.de

So stellen sich die Münsteraner Neuroökonomen die Zukunft ihres Fachgebiets vor:

www.wiwi.uni-muenster.de/%7E02/neuroeconomics/publikation/

neuroeconomics_draft.pdf

Umfangreiche Homepage von Read Montague:

www.hnl.bcm.tmc.edu/

Homepage von Matthias Sutter mit neuen Veröffentlichungen:

www.mpiew-jena.mpg.de/esi/sutter

Homepage von Ernst Fehr mit Informationen zu aktuellen Forschungen:

www.iew.unizh.ch/home/fehr

Dokumentation des Sommerkurses der Deutschen SchülerAkademie

Spieltheorie und menschliches Verhalten

Wonach strebt der Mensch in seinen Geschäften?

Im Sommer 2002 ging eine Gruppe hochbegabter Schüler dieser Frage im Experiment nach. Versuchspersonen waren die Schüler selbst – und es gab etliche Überraschungen!

www.wissenschaft-online.de/artikel/606408

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

as|the|nisch  〈Adj.; Med.〉 1 auf Asthenie beruhend, an ihr leidend 2 = leptosom … mehr

Ana|log|kä|se  〈m. 3〉 Käseersatz, Nahrungsmittel, das ähnliche Eigenschaften wie Käse besitzt, jedoch nicht oder nur zum Teil aus Milch hergestellt wird (bes. auf Fertigprodukten wie Pizza) ● auf Verpackungen sollte ~ gekennzeichnet sein

Ta|cho|me|ter  〈n. 13〉 = Geschwindigkeitsmesser [<grch. tachos … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige