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Geben will gelernt sein

Gesellschaft|Psychologie

Geben will gelernt sein
Der Mensch ist lieber fair und anständig als egoistisch und berechnend. Allerdings muss er im Laufe seines Lebens erst allmählich lernen, dass Kooperation sich auszahlt.

In keiner Institutsbibliothek wird so viel geklaut wie bei den Juristen und den Wirtschaftswissenschaftlern – besagt ein akademischer Schmäh. Solch unsoziales Verhalten würde dem Menschenbild dieser Wissenschaften entsprechen. Denn danach ist der Mensch ein Egoist und denkt meist nur an seinen Vorteil.

Respekt vor dem Allgemeingut, so die Argumentation dieser beiden Disziplinen, muss daher erzwungen werden. Wenn die Universitätsbibliothek nicht kontrolliert, wer klaut oder mit dem Papiermesser Seiten aus Büchern schneidet, ist sie selbst schuld. Der schlaue Student stiehlt geschickt, heißt es, behindert seine Kommilitonen bei der Examensvorbereitung und bereichert sich später im Leben auf Kosten anderer, wo er nur kann.

Aber diese schlauen Studenten – übrigens auch bei den Ökonomen eine Minderheit – sind nicht mehr auf dem Laufenden. Denn auch in den Wirtschaftswissenschaften hat sich das Bild vom Menschen in den letzten Jahren gewandelt: Der „Homo oeconomicus“, der nur den eigenen Gewinn maximiert und dessen Verhalten sich mathematisch berechnen lässt, ist dem „Homo reciprocans“ gewichen, der einen starken Hang zu Kooperation hat und zu echtem Altruismus fähig ist.

„Der Homo oeconomicus hat zwei Schwachpunkte: Zum einen kann kein Mensch alle Folgen seiner Handlung abschätzen, zum anderen stimmt die psychologische Seite nicht – Menschen können alleine nur schlecht überleben, sie sind stark von der Kooperation und dem Vertrauen zu anderen abhängig“, erklärt Axel Ockenfels. Der Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaft an der Universität Köln und Leiter des Laboratoriums für Experimentelle Wirtschaftsforschung hat am Wandel des Weltbildes der Wirtschaftswissenschaften seit Beginn der Neunzigerjahre kräftig mitgearbeitet.

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Der mathematisch orientierte Student Ockenfels bekam damals während seiner Diplomarbeit zu einem wirtschaftstheoretischen Thema eine Sinnkrise. „Was mache ich da eigentlich?“, habe er sich gefragt und Rat bei dem Spieltheoretiker Reinhard Selten gesucht. Selten, der nur wenig später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, nahm sich Zeit: Er überzeugte den Studenten in tagelangen Gesprächen, experimentell zu arbeiten. „Ich kannte bis dahin nur elegante Theorien und habe Daten gar nicht so ernst genommen, die waren irgendwie minderwertig“, erinnert sich Ockenfels, der vor Kurzem mit dem begehrten und hoch dotierten (1,55 Millionen Euro) Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde.

Dann entdeckte der heute 36-Jährige, zeitgleich mit anderen internationalen Arbeitsgruppen, einige erstaunlich stabile Eigenheiten des Homo sapiens, die dem Bild des Homo oeconomicus diametral widersprechen. Um die Jahrtausendwende veröffentlichte er mit seinem Kollegen Gary Bolton von der Penn State University eine Arbeit über „Gleichheit, Gegenseitigkeit und Wettbewerb“, die wie eine Bombe in das wirtschaftswissenschaftliche Theoriegebäude einschlug.

Zur gleichen Zeit erregte Ernst Fehr, Professor am Züricher Institut für Empirische Wirtschaftsforschung, mit seinen Experimenten zu Fairness und Kooperation Aufsehen – der Damm war gebrochen, die Wirtschaftstheoretiker hatten eine neue Spezies gefunden: Homo reciprocans, der bedingt kooperationsbereite Mensch, trat die Nachfolge von Homo oeconomicus an. Kernthese seitdem: Der Mensch ist kooperativ, er muss es allerdings erst lernen.

Aus dem Tierreich sind die erstaunlichsten Kooperationen bekannt: Ameisen opfern sich für die Kolonie, Vogeleltern füttern ihre Brut, Herden schützen die Jungtiere, Fledermäuse teilen eine Blutmahlzeit mit nichtverwandten Artgenossen. Diese Formen des Altruismus lassen sich meist auf den „Egoismus der Gene“ zurückführen – die Unterstützung kommt Verwandten mit ähnlichem Genom zu Gute. Die Fledermäuse merken sich die Tiere, die sie gefüttert haben – Ausnutzen auf lange Sicht geht nicht, denn es gilt: Wie du mir, so ich dir. Bei Vögeln steigert plakative Großzügigkeit die Fortpflanzungschancen. Und Tiere mit ein bisschen Gehirn können in ihrer Gruppe durch altruistisches Verhalten einen guten Ruf erwerben, der sich in Pluspunkten auf der Attraktivitätsskala beim Wettbewerb um das andere Geschlecht auszahlt.

Alle diese Mechanismen spielen auch beim Menschen eine Rolle: Für die eigenen Kinder tut man, was man kann. Man hilft Menschen, die man wieder treffen könnte. Und natürlich zeigt man sich in der Balzphase von seiner Schokoladenseite.

Bei den Laborexperimenten der Wirtschaftswissenschaftler wurden all diese Faktoren eliminiert. Hier treffen Menschen in winzigen Zellen vor einem Bildschirm auf einen völlig unbekannten Partner. Es gibt keinen der üblichen Gründe, anständig und nett zu sein – schließlich wird man dem unsichtbaren Gegenüber nie wieder begegnen. Und man verdient echtes Geld dabei, das man mit nach Hause nehmen kann.

Bei den meisten Spielen soll der erste Spieler von einem geschenkten Betrag einem Unbekannten etwas abgeben, der dann nach vorher festgelegten Regeln reagieren kann. Der alte Homo oeconomicus müsste sich bei diesem Spiel rational verhalten und allein die eigene Auszahlung maximieren. Aber die Experimente zeigen etwas anderes: den Homo reciprocans. Selbst unter diesen künstlichen Bedingungen kommt eine Kooperation zwischen unbekannten Partnern zustande.

Dieses Verhalten führt zu einem höheren Gewinn für alle Beteiligten. Allerdings können Trittbrettfahrer das soziale Verhalten der Mehrheit ausnutzen – so wie die bücherklauenden Studenten. Aber da greifen ein paar offenbar eingefleischte Verhaltensweisen, konnte Ernst Fehr mit seinen Experimenten nachweisen: Wenn Spieler die Gelegenheit bekommen, Trittbrettfahrer abzustrafen, dann tun sie das gern und heftig, auch wenn sie das selbst ein paar Geldeinheiten kostet. Auf lange Sicht kooperieren selbst harte Egoisten, weil sich Schmarotzen nicht lohnt. Und das gilt rund um die Welt: Menschen sind bereit, zu kooperieren, solange sie sich nicht ausgenutzt fühlen. Menschen bilden und verändern ihre Neigungen und Präferenzen im Kontakt mit anderen – für Psychologen eine Binsenweisheit.

„Für die Ökonomen war diese Vorstellung jedoch immer ein rotes Tuch“, berichtet der Wirtschaftswissenschaftler Matthias Sutter. Dieser Ansatz erschien ihnen bislang geradezu unwissenschaftlich, für sie war der Mensch festgelegt und reagierte nur auf veränderliche Randbedingungen. Sutter kennt beide Seiten: Dem studierten Psychologen ist der Mensch als soziales Wesen vertraut, an der Wirtschaftstheorie reizt ihn die extrem nüchterne Gestaltung der Experimente, die eine klarere Analyse der Ergebnisse ermöglicht.

„Die Fähigkeit zur Kooperation ist nicht angeboren, sondern wird erst durch Erfahrungen erworben“, erklärt Matthias Sutter. Der Professor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in Jena hat zusammen mit seinem Kollegen Martin Kocher, Professor an der Universität Innsbruck, untersucht, wie sich die Kooperationsbereitschaft mit zunehmendem Alter entwickelt.

Sutter und Kocher führten mit 662 Teilnehmern aus sechs Altersgruppen ein einfaches Spiel um Geben und Zurückgeben durch. Die jüngsten Teilnehmer waren Zweitklässler (8 Jahre), außerdem wurden Sechstklässler (12 Jahre) und Zehntklässler (16 Jahre) getestet, ebenso Studierende um die 20, Berufstätige Mitte 30 und Senioren über 60.

Der erste Spieler (Geber) erhielt einen Betrag von zehn Geldeinheiten und konnte davon einem zweiten Spieler (Empfänger) etwas abgeben. Der Betrag, den der Geber überwies, wurde durch den Versuchsleiter verdreifacht, so dass nun insgesamt, je nach Großzügigkeit des Gebers, deutlich mehr Geld im Umlauf war. Der Empfänger sollte nun dem Geber aus dem größeren Topf etwas zurückzugeben.

• Homo oeconomicus würde als Geber selbstverständlich nichts überweisen und seine zehn Einheiten in die Tasche stecken.

• Als Empfänger würde er nichts zurückgeben – denn was man hat, das hat man.

• Homo reciprocans müsste dagegen fast immer etwas geben – und das meist nicht zu knapp.

• Als Empfänger sollte sich Homo reciprocans fast immer erkenntlich zeigen und etwas zurückgeben – und zwar desto mehr, je großzügiger die Geber-Überweisung war. Damit würden beide Spieler zusammen weit mehr verdienen als Homo oeconomicus..

Sutter und Kocher vermuteten, dass der Vertrauensvorschuss mit dem Alter zunimmt. Kinder müssen sich zunächst auf das Wohlwollen ihrer engsten Angehörigen verlassen und begegnen Fremden mit Vorsicht. Tatsächlich zeigte die Studie: Das Vertrauen in unbekannte Partner steigt kontinuierlich von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Es pendelt sich auf hohem Niveau ein und geht im Seniorenalter leicht zurück. Einkommen oder Geschlecht spielen dabei kaum eine Rolle.

• Die achtjährigen Kinder waren dem Homo oeconomicus am nächsten, sie überwiesen im Schnitt nur 2 von ihren 10 Einheiten. Das Empfängerkind hatte so – trotz der Verdreifachung durch den Versuchsleiter – immer noch deutlich weniger als das Geberkind. Es gab im Durchschnitt etwa ein Zehntel seines Besitzes, nämlich 0,66 Einheiten, zurück.

• Die erwachsenen Geber spendeten in der Regel so reichlich, dass der Empfänger nach der Verdreifachung des Betrags durch den Experimentator besser dastand als der Sender.

• Die Empfänger erwiesen sich als dankbar: Die Teenager sandten rund ein Drittel ihrer Einkünfte zurück, die Berufstätigen fast 40 und die Senioren sogar nahezu 60 Prozent.

Bei den Studierenden und Erwerbstätigen war das Vertrauen zwar gleich stark ausgeprägt, bei den Berufstätigen wurde es aber stärker honoriert. Insgesamt schnitten diese beiden Altersgruppen am besten ab, sie erwirtschafteten gemeinsam über 23 Einheiten. Im Vergleich dazu kamen die Senioren und Teenager auf knapp unter 21 Einheiten. Die Achtjährigen verdienten lediglich 14 Einheiten. Zwei Vertreter der Gattung Homo oeconomicus hätten allerdings noch schlechter abgeschnitten und gemeinsam nur 10 Einheiten erwirtschaftet – davon besäße der (Nicht-)Geber alle 10, der Empfänger keine einzige.

Bemerkenswert war die hohe Rücküberweisung bei den Senioren. In dieser Gruppe standen die Geber am Ende deutlich besser da als die Empfänger. Sutter: „Möglicherweise fällt es Älteren zwar etwas schwerer als Jüngeren, einem Unbekannten einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, aber wenn dieser Unbekannte ihnen Vertrauen entgegenbringt, belohnen sie dies umso stärker.“ Die Großzügigkeit erklärt Sutter so: Senioren haben in der Regel nicht mehr so viele Kontakte zu Fremden wie Berufstätige. Das Vertrauen und die Menge der täglichen Sozialkontakte sind bei ihnen eng miteinander verknüpft.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Ernst Fehr mit seiner entsprechenden kulturübergreifenden Studie bei 15 Naturvölkern auf der ganzen Welt. Je isolierter die Menschen lebten und wirtschafteten, desto weniger Sinn sahen sie darin, sich einem fremden Partner gegenüber fair oder großzügig zu verhalten (bild der wissenschaft 7/2002, „Unnatürlich fair“).

Vertrauen in fremde Partner, Transparenz und Fairness scheinen nach alledem wichtige Ingredienzen für ein florierendes Wirtschaftsleben zu sein. Misstrauen und Kontrolle kosten Geld und engen den Handlungsspielraum ein. In einer Untersuchung von 1997 wiesen die beiden Weltbank-Ökonomen Philip Keefer und Stephen Knack nach, dass dieses „Soziale Kapital“ eines Landes sich in Heller und Pfennig auszahlt: Wo kein Vertrauen herrscht, fallen hohe Kosten an, um Verträge durchzusetzen oder Regeln zu überwachen, viele Transaktionen werden unmöglich, nur auf enge Verwandte ist Verlass. Wo Verträge dagegen „per Handschlag“ besiegelt und dennoch eingehalten werden, wächst die Wirtschaft leichter, die Freiheitsräume sind größer, neue Ideen und Innovationen gedeihen.

Das Soziale Kapital interessiert auch Axel Ockenfels: Mit dem Geld des Leibniz-Preises will er in den kommenden Jahren genauer untersuchen, wie es darum in den verschiedenen Industriegesellschaften bestellt ist, wie es sich dort bildet und wie es vernichtet wird. „Im Laborexperiment können wir das Verhalten von Menschen jetzt sehr gut vorhersagen“, sagt Ockenfels. Im gleichen Atemzug fügt er hinzu, dass dies für die großen makroökonomischen Entwicklungen allerdings noch nicht möglich sei.

Dennoch: „Der Schritt von der Forschung zur Praxis ist inzwischen ziemlich klein“, sagt Ockenfels. Intelligente Organisationsregeln, die „das Gute“ im Menschen fördern und die Egoisten zwingen, sich „nett“ zu verhalten, lassen sich aus den Ergebnissen durchaus ableiten – wie etwa bei den Geben-und-Wiedergeben-Spielen.

Zumindest kann sich der klauende BWL-Student nicht mehr darauf berufen, dass er sich nur wie das Standardmodell des handelnden Menschen verhält. ■

Dr. Antonia Rötger ist freie Journalistin in Berlin und schreibt mit Vorliebe über Themen, die zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen liegen.

Dr. Antonia Rötger

Ohne Titel

• Neuerdings erforschen Wirtschaftswissenschaftler menschliches Verhalten im Labor.

• Resultat: Sie müssen ihr theoretisch entstandenes Bild vom selbstsüchtigen Homo oeconomicus korrigieren.

• Denn der Mensch setzt auch auf Kooperation und Fairness – und nicht nur auf nackten Egoismus.

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