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Gemeinsam sind wir schwach

Gesellschaft|Psychologie

Gemeinsam sind wir schwach
Sie mögen keine langen Sitzungen mit zermürbenden Diskussionen? Dieses Forschungsergebnis bestätigt Sie: Gruppen entscheiden selten besser als Einzelne.

Der Wille ist da – bei Krisengipfeln zur Eurorettung, in Gerichtsprozessen und in Auswahlgremien: Gemeinsam ringen die Entscheidungsträger um das bestmögliche Ergebnis. Auch Geschäftskonferenzen stehen so gut wie überall auf der Tagesordnung. Unzählige Male setzen Menschen auf der ganzen Welt sich in Gruppen zusammen und diskutieren. Für die USA kursieren im Internet Angaben von 11 bis 25 Millionen Meetings pro Tag. Schließlich sind viele Köpfe klüger als einer, heißt es. Doch lohnen sich die investierte Zeit und das Geld für Konferenzräume, Anreisen, Kaffee und Kekse wirklich?

Frank Wieber weiß: Wenn Menschen beisammensitzen und nach Problemlösungen suchen, geht häufig etwas schief. Der promovierte Psychologe von der Universität Konstanz hat immer wieder Gruppen dabei beobachtet, wie sie sich in eine Idee verrennen. Entscheidungsforscher nennen dieses Verhalten „escalation of commitment“ (auf Deutsch: „übersteigertes Engagement“). Das Problem ist: Menschen können sich nur schwer von einer Idee verabschieden, wenn sie bereits viel Zeit, Geld oder Gefühle in die Umsetzung investiert haben. Stattdessen werfen sie dem schlechten Geld gutes hinterher und hängen an aussichtslosen Projekten. Auch bei Kriegen argumentieren Politiker mitunter so: „ Wir müssen den Einsatz zu Ende bringen, damit die vielen Opfer nicht umsonst waren.“ Sogar wenn alle insgeheim denken: „Wir sollten das abbrechen“, kann der Gruppendruck einen Ausstieg verhindern.

Und doch gibt es Wege, sich von hoffnungslosen Projekten zu lösen. In Testdiskussionen verriet Wieber seinen Probanden eine einfache Technik: Sie sollten die Perspektive eines neutralen Beobachters einnehmen, wenn sie etwa über die Weiterfinanzierung eines Projekts befinden müssten. „Wenn man nicht für die vorherigen Entscheidungen verantwortlich ist“, erklärt Wieber, „ fällt es einem viel leichter, sich von ihnen zu trennen.“

Das gemeinsame Nachdenken könnte auch dann produktiver sein, wenn es bestimmte Gruppenmitglieder nicht gäbe: etwa den Kollegen, der sich als Erster einen Kaffee einschenkt und sämtliche Schokokekse sichert, um sich dann entspannt zurückzulehnen. Sein geistiger Input beschränkt sich auf Kommentare wie: „Da sollte man mal drüber nachdenken.“ Meistens ist er männlich, stammt aus einer westlichen Kultur und bevorzugt größere Gruppen, wie verschiedene Studien gezeigt haben. Die anderen werden es schon richten, glaubt dieser „soziale Faulenzer“ – und freut sich, dass kaum einer erkennt, wie wenig er zur Diskussion beigetragen hat.

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Tatsächlich fällt es Gruppen unerwartet schwer, Faulenzer zu enttarnen, stellte die Wirtschaftswissenschaftlerin Lynne Freeman von der University of Technology in Sydney in einem Experiment fest. Studenten, die sich konstruktiv beteiligten, konnten in ihrer Gruppe die sozialen Faulenzer nur selten von den Bemühten unterscheiden, die wirklich mit der Materie kämpften. Denn genau wie die Faulenzer tragen die Bemühten wenig zur Gruppendiskussion bei – nicht aus bösem Willen, sondern weil sie Zeit brauchen. Im Zweifelsfall vermuteten die Studenten bei beiden, dass sie sich ausruhten. Das Verhalten der Faulenzer warf also ein schlechtes Licht auf die bemühten Kollegen. Zudem gefährden die Schmarotzer das gemeinsame Denken und Arbeiten, weil sie den „Trottel-Effekt“ auslösen können: Wenn zunächst engagierte Mitglieder beobachten, dass sich andere gar nicht anstrengen, denken sie sich: „Warum soll ich der Trottel sein, der arbeitet, während die anderen sich ausruhen und nachher die Lorbeeren ernten?“

Neben Faulenzern sind auch Selbstdarsteller eine Belastung. Diese Narzissten schwingen sich gerne zu Diskussionsleitern auf. Dadurch verschlechtern sie die Leistung der gesamten Gruppe, entdeckte kürzlich ein Team um die Arbeitspsychologin Barbora Nevicka von der University of Amsterdam. Unter narzisstischer Führung tauschen sich Mitglieder weniger aus, und abweichende Informationen gelangen seltener auf den Tisch.

Zu störenden Mitmenschen und einem schlechten Gruppenklima kommt manchmal auch noch fehlender Schlaf: So beschlossen die EU-Politiker den Schuldenschnitt für Griechenland am 27. Oktober 2011 kurz nach 3 Uhr morgens. Ein weiser Entschluss? Wer weiß: Übermüdete Menschen entscheiden anders als wache, berichtete vor Kurzem ein Team um Michael W.L. Chee von der Duke University in Singapur. Nach einer schlaflosen Nacht neigten die Probanden des Neurowissenschaftlers bei Glücksspielen zu risikoreicheren Entscheidungen, was sich auch in ihrer Hirnaktivität zeigte. „ Regionen, die beim Erwarten einer Belohnung beteiligt sind, waren aktiver“, erklärt Chee. „Weniger stark feuerte dagegen die Inselrinde der Schläfrigen, die unangenehme Ergebnisse überwacht.“ Andere Studien belegen, dass Teams nach durchwachten Nächten weniger sorgfältig und langsamer entscheiden.

Was passiert, wenn all diese Fallstricke beseitigt werden? Wenn weder Vielredner noch Faulpelze die Diskussion stören, alle ausgeschlafen sind, keine geheimen Absichten hegen und gemeinsam die beste Entscheidung treffen wollen? Solche scheinbar idealen Fälle hat sich Stefan Schulz-Hardt, Professor für Wirtschafts- und Sozialpsychologie an der Universität Göttingen, in Experimenten angeschaut. In kleinen Gruppen von drei bis vier Personen sollten die Teilnehmer entscheiden, welchen von mehreren Kandidaten sie als Piloten einstellen würden. Vorab hatte jeder ein Blatt erhalten, auf dem unterschiedliche Vor- und Nachteile der Anwärter standen. Nachdem jeder seine Unterlagen intensiv studiert hatte, kamen die Gruppen zusammen. „Es gibt eine richtige Entscheidung. Um diese zu erkennen, müssen Sie Ihr Wissen zusammenführen“, mahnte der Versuchsleiter. Bei der Wahl des am besten geeigneten Kandidaten winkten den Probanden Film- und CD-Gutscheine.

Doch in der Gruppensitzung zeigte sich rasch, wie schwer es ist, zielführend zu diskutieren. Kaum hatten sich alle am Tisch niedergelassen, platzte der erste Teilnehmer heraus: „Ich würde Kandidat A nehmen“, und blickte auffordernd in die Runde. „Ja“, stimmte ein anderer zu, „der hat auch bei mir am besten abgeschnitten.“ Was die Probanden nicht wussten: Schulz-Hardt hatte sie auf eine falsche Fährte gelockt. Kandidat A wirkte nur auf den ersten Blick am tauglichsten. Dass tatsächlich Pilotenanwärter D besonders umsichtig flog, wusste lediglich ein einziges Gruppenmitglied. Und nur ein weiteres hatte erfahren, dass D selten cholerisch reagierte. Doch diese beiden schafften es nicht, ihre Informationen in die Diskussion einzubringen, und die Wortführer in der Runde fragten nicht nach anderen Meinungen.

Eine Falle? Nein – ein Beispiel für die einzige Situation, in der sich eine Gruppendiskussion lohnen kann, weiß Schulz-Hardt: „ Sie müssen in der Gruppe etwas herausfinden wollen, was sich alleine nicht ermitteln lässt. Sonst brauchen Sie sich nicht zusammenzusetzen, sondern können einfach abstimmen.“ Es gibt auch im Alltag Fälle, in denen wichtige Informationen so auf verschiedene Personen verteilt sind, dass die beste Lösung versteckt ist. Gruppenforscher sprechen von einem „hidden profile“ . Auch Schulz-Hardts Piloten-Gremium hätte sein Spezialwissen wie die Teile eines Puzzles zusammenführen müssen, um D als den Geeignetsten zu identifizieren. Doch dazu kam es nicht.

Aus einer aktuellen Meta-Analyse zog die Kommunikationswissenschaftlerin Li Lu von der University of Southern California in Los Angeles die Erkenntnis, dass Gruppen bei solchen Informations-Puzzles achtmal so häufig die richtige Lösung finden, wenn alle auf dem gleichen Stand sind. Ähnliche Erfahrungen hat Schulz-Hardt gemacht: „Katastrophengruppen mit Dauerrednern und Trittbrettfahrern schauen wir uns gar nicht erst an. Denn schon normale Gruppen schaffen es ja kaum.“ Nur etwa sieben Prozent seiner Kleingruppen gelang es, am Ende die korrekte Lösung zu finden, wenn die Teilnehmer zu Beginn einen falschen Kandidaten für den richtigen hielten. Präferierten am Anfang nicht alle Teilnehmer den gleichen Falschen, konnte immerhin ein Viertel der Gruppen das „hidden profile“ lösen. War gleich einer auf dem richtigen Weg, entschied sich sogar etwas mehr als die Hälfte der Gruppen für den richtigen Kandidaten.

Damit die Lösungsrate steigt, sind nicht einmal komplizierte Techniken nötig. „Teilen Sie Ihre Arbeit in zwei Phasen“, fordert der Versuchsleiter die Piloten-Gruppe auf. „Tauschen Sie erst ihre Informationen aus. Fällen Sie danach eine Entscheidung.“ Ein kleiner Fingerzeig mit großer Wirkung. So gebrieft beginnt die Gruppe systematisch mit ihrer Arbeit. „A kann meines Wissens nach gut fliegen. Was wisst ihr denn über Kandidat B?“, fragt der Erste. Ein anderer schlägt vor, alles aufzuschreiben und zückt seinen Kugelschreiber. „Gute Idee. Dass A gut fliegen kann, weiß ich auch noch“, stimmt der dritte Diskutant zu. Schüchtern hebt der vierte Teilnehmer die Hand: „B hatte irgendeinen körperlichen Vorteil.“ Doch der mit dem Kugelschreiber wischt das Argument beiseite: „So ungenau kann ich das nicht notieren.“

Trotz der Zwei-Stufen-Technik stolpert diese Gruppe, weil der Informationsaustausch ungleich abläuft: Über die Fakten, die alle kennen, redet die Gruppen mehr. „Dabei ist das Spezialwissen wichtig, das nur eine Person hat“, betont Schulz-Hardt. „Aber wenn sie es vergisst, nicht für wichtig hält oder nicht zu Wort kommt, ist es verloren.“ Über die Informationen, die die anfängliche Präferenz der Probanden untermauern, wird mehr geredet. Der Psychologe erklärt: „Wir neigen dazu, das für wichtiger, überzeugender und glaubwürdiger zu halten, was unsere Meinung unterstützt.“

Einmal auf der falschen Fährte, orientieren Gruppen sich nur schwer in eine andere Richtung. Doch auch hier kann Schulz-Hardt helfen: Jede Gruppe sollte sich zum Ziel setzen, offen gegenüber kritischen Stimmen zu sein und Meinungskonflikte nicht zu unterdrücken. Denn sachliche Konflikte verbessern den Austausch und das Ergebnis. Ein künstlicher Advocatus Diaboli, der die Gegenmeinung vertritt, fördert zwar auch die Diskussion – die Entscheidung allerdings verbessert er nicht.

Wenn schließlich alle Mitglieder verstummen, der Schreiber den Stift beiseitelegt und alle wichtigen Informationen bekannt sind, steht die Gruppe vor der letzten Schwierigkeit: „Die Fakten erscheinen uns nicht gleichwertig“, meint Schulz-Hardt. „Wir präferieren auch beim letzten Schritt der Entscheidung jene Informationen, die den meisten vertraut sind und die unsere anfängliche Meinung bestätigen.“ Ist auch diese Hürde genommen, winkt die Belohnung: eine optimale Lösung des Problems – und das befriedigende Gefühl, dass das Meeting sinnvoll war. ■

HANNA DRIMALLA, freie Journalistin in Bochum, erlebt in ihrem Psychologiestudium lohnende und katastrophale Diskussionen.

von Hanna Drimalla (Text) und Matthias Schwoerer (Illustrationen)

Schwarmintelligenz – jeder überlegt für sich

Ob als Publikumsjoker oder beim Aufdecken von Plagiaten: Schwarmintelligenz hat sich als hilfreich erwiesen. Hinter dem Begriff steckt die Annahme, dass viele Menschen mehr sehen, hören und wissen als ein Einzelner. Anders als bei Gruppendiskussionen interagieren die Mitglieder eines Schwarms in der Regel aber nicht, sondern jeder überlegt für sich. Die Ansichten werden einfach zusammengerechnet – als Durchschnittswert oder als Mehrheitsmeinung. Wenn beispielsweise viele Menschen unabhängig voneinander die Zahl von Murmeln in einem Glas oder das Gewicht eines Bullen schätzen, liegt der Durchschnittswert ihrer Vermutungen nah am tatsächlichen Ergebnis.

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Kompakt

· Selbst wenn eine Gruppe ausdauernd diskutiert, kommt oft nicht die beste Lösung heraus.

· Faulenzer und Selbstdarsteller stören den Entscheidungsprozess.

· Teilnehmer mit einer Information, die nur sie haben, müssen auf jeden Fall Gehör finden.

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