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„Jeder KANN ein Held SEIN“

Gesellschaft|Psychologie

„Jeder KANN ein Held SEIN“
Jahrzehntelang erforschte Philip Zimbardo die dunkle Seite des Menschen. Nun hat der 75-jährige Psychologe genug vom Bösen und will beweisen, dass in jedem ein Held steckt.

bild der wissenschaft: Sie haben sich Ihr ganzes Forscherleben lang mit „dem Bösen“ befasst, zuletzt mit den Misshandlungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Das Gute im Menschen hat Sie nicht interessiert?

ZIMBARDO: Das kommt jetzt. Mein Interesse an dem Bösen ist dagegen tief in meiner Kindheit verwurzelt. Ich bin in einem der schlimmsten Ghettos in Amerika aufgewachsen, in der South Bronx von New York. Ich war umgeben von Verbrechen, Drogenhandel, Prostitution und Betrug. Freunde von mir, die ich lange für „gute Menschen“ gehalten hatte, kamen wegen fürchterlicher Dinge ins Gefängnis. Für mich war das faszinierend. Ein weiterer Auslöser für meine Beschäftigung mit dem Bösen war das Buch „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson. Hier kann ein Mensch die Grenze zwischen Gut und Böse mit einer Chemikalie überwinden. Viele denken, dass die Grenze fest ist. Ich wollte herausfinden, ob sie nicht doch durchlässig ist und ich quasi Robert Louis Stevensons Romanfigur in meinem psychologischen Labor zum Leben erwecken kann.

bdw: Was verstehen Sie unter dem Begriff „böse“ ?

ZIMBARDO: Das Ausüben von Macht, um absichtlich anderen Menschen zu schaden, sie zu verletzen oder zu töten. Oder – in Bezug auf ein böses System – wenn Verbrechen gegen die Menschheit begangen werden.

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bdw: In Ihrem Buch „Der Luzifer-Effekt“ schreiben Sie, wie gute Menschen böse werden. Ist damit ein evolutionärer Vorteil verbunden?

ZIMBARDO: Ich denke nicht, dass die Menschen böse auf die Welt kommen. Ein Baby kann zu einem Adolf Hitler werden, aber auch zu einem Nelson Mandela. Zu welcher Person es wird, hängt von dem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld ab.

bdw: Bei Ihrem Experiment in Stanford (Kasten links) war auffällig, dass die „Wärter“ die „Gefangenen“ schon nach drei Tagen sexuell erniedrigten. Was steckt hinter dieser Art von Psychofolter?

ZIMBARDO: David Hellmann, einer der Wärter in unserem Experiment, sagte später, dass er absichtlich diese Erniedrigung wählte, weil das die wirksamste Art sei, Macht über die Gefangenen auszuüben. Für die meisten Männer ist es erniedrigend, wenn man ihnen das Gefühl gibt, ein Homosexueller oder ein Mädchen zu sein. Die Erniedrigungen fingen milde an. Später mussten die Gefangenen Bocksprünge übereinander machen. Sie hatten nur Krankenhauskittel an, sodass ihre Hoden die Köpfe der anderen berührten. Die Wärter lachten darüber. Später ordneten sie an, dass einige Gefangene weibliche Kamele spielen sollten. Andere sollten männliche Kamele spielen, um die weiblichen zu besteigen. Das ist unglaublich!

bdw: Im irakischen Gefängnis Abu Ghraib gab es ähnliche Erniedrigungen. Ging es den Wärtern dabei ebenfalls um Macht?

ZIMBARDO: Es ging ihnen nach eigenen Aussagen lediglich darum, Spaß zu haben. Lynndie England, eine der Wärterinnen, sagte: „ Warum sind die Leute so böse auf uns? Es war doch nur Spiel und Spaß.“ Die Gefangenen würden sowieso abends in den Zellen masturbieren. Warum also könne man sie nicht in eine Reihe stellen, damit sie es gemeinsam vor den weiblichen Wärtern tun.

bdw: Die Wärter ließen Pyramiden aus nackten Gefangenen bauen. Warum sind Menschen so erschreckend kreativ, wenn es um Abscheulichkeiten geht?

ZIMBARDO: Eine Motivation für das Böse ist die Langeweile. Die Wärter in Stanford und in Abu Ghraib hatten nachts Acht- bis Zwölfstunden-Schichten. Sie hatten nicht viel zu tun. Die Gefangenen waren ihr Spielzeug. Außerdem gibt es innerhalb einer Gruppe immer Konkurrenz. Jemand schlägt eine Quälerei vor, ein anderer möchte auch ein paar Lorbeeren einheimsen. So schaukelt man sich gegenseitig hoch. Erst müssen die Gefangenen nackt sein, dann müssen sie sich auch noch zur Pyramide stapeln.

bdw: Das Experiment in Stanford hatte Sie bereits einiges über menschliche Abgründe gelehrt. Haben Sie durch Abu Ghraib irgendetwas Neues herausfinden können?

ZIMBARDO: Was ich bis Abu Ghraib völlig übersehen hatte, war die Frage: Wie entstehen diese schlimmen Situationen? Wir haben bisher die Macht der Situation völlig unterschätzt, die gute Menschen Böses tun lässt. Man muss schauen, wo das Böse residiert und darf sich nicht auf „gute“ und „böse“ Menschen konzentrieren. Das lenkt ab von der Macht der Situation und – noch wichtiger – von der Macht des Systems. So muss man zum Beispiel bei der Analyse von Nazi-Deutschland das System untersuchen, das von der Partei etabliert wurde. Für mich hat das wenig mit Hitler zu tun. Wenn man Hitler umgebracht hätte, wäre es trotzdem weitergegangen. Die Ideologie hat das Rechtssystem, das Bildungswesen, das politische System, die Wirtschaft, einfach alles bestimmt. Dort lag die Macht.

bdw: Nicht jeder Mensch wird in einer schlimmen Situation zu einem Verbrecher, aber nur wenige werden zu Helden. Wie ist das Zusammenspiel von Situation und Charakter?

ZIMBARDO: Darüber ist nicht viel bekannt. Noch bis vor Kurzem haben sich Psychologen und andere Wissenschaftler bloß mit dem Individuum befasst – als Charakter, Schuldigen, Sünder oder als psychisch Kranken. Als Sozialpsychologe sehe ich das Individuum auch als primären Akteur. Man darf aber nicht den Zusammenhang ignorieren, in dem es agiert. Das wäre so, als stünde ein Schauspieler auf der Bühne ohne Publikum, ohne Komparsen, ohne Kostüm. Man muss die speziellen Umstände verstehen, in denen sich jemand befindet und die eine Reaktion erzeugen.

bdw: Was haben Ihre Forschungen dazu beigetragen?

ZIMBARDO: Sie zeigen, dass viele Menschen zu einem Verhalten verführt werden können, über das sie vorher sagen: „Das würde ich nie tun!“ Trotzdem machen es dann zwei Drittel der Leute. Wir haben versucht, deren Charakteristiken herauszufinden. Es gibt jedoch kaum Beweise für einen bestimmten Charakterzug, der Menschen eher böse als gut handeln lässt.

bdw: Warum haben Sie nie ein Experiment entwickelt, dass das Gute im Menschen untersucht?

ZIMBARDO: Das mache ich jetzt. Wir haben gerade in Italien eine Studie abgeschlossen, die erforschte, wann Menschen Aufgaben verweigern, um anderen zu helfen – und sogar ein Risiko dabei eingehen. Es gibt kaum andere Studien dazu. Daher möchte ich mich den Rest meines Lebens der Psychologie des Heldentums widmen.

bdw: Gibt es eine Gebrauchsanweisung für Heldentum?

ZIMBARDO: Um ein Held zu sein, braucht man nur eines: die Bereitschaft, für andere zu agieren. Das ist nicht leicht, denn man fragt sich natürlich: „Was kommt dabei für mich heraus?“ Aber wenn jeder so denken würde, gäbe es keine guten Samariter wie Mutter Teresa und Martin Luther King. Jeder kann ein Held sein, wenn er die Einstellung verinnerlicht: „Ich bin ein Held in Lauerstellung, und wenn die richtige Situation kommt, reagiere ich.“

bdw: Sie versuchen, in Kindern einen „Held in Lauerstellung“ zu verankern. Wie geht das?

ZIMBARDO: Ich erarbeite momentan mit einem Lehrer aus Michigan entsprechende Unterrichtsmaterialien. In einigen Klassen wird bereits so etwas wie „heroische Vorstellungskraft“ unterrichtet. Die Kinder müssen sagen, wer ein Held in ihrer Familie und in ihrem Umfeld ist. Wir lassen die Kinder außerdem Rollenspiele machen, die den Helden in ihnen herausfordern. Sie lernen dabei, dass ein Held immer ein Abweichler ist.

bdw: Sie vertreiben T-Shirts zu Ihrem Buch. So ein Marketing wäre für deutsche Wissenschaftler sehr ungewöhnlich.

ZIMBARDO: Ich weiß. Noch schlimmer finden das meine italienischen Kollegen, die in ihrem Elfenbeinturm leben und alles sehr verbissen sehen. So etwas bringt doch Spaß, sehen Sie! (Zimbardo holt aus seiner Tasche ein schwarzes T-Shirt mit Teufelskopf und hält es hoch.) Das ist doch klasse! Die Kinder lieben es – und ich kann mein Autogramm darauf schreiben! Das Gespräch führte Désirée Karge ■

DAS STANFORD-PRISON-EXPERIMENT

Für sein bekanntes Experiment richtete Philip Zimbardo Gefängniszellen im Keller des Psychologischen Instituts der Stanford University ein. Dann teilte er 24 psychisch stabile College-Studenten in zwei Gruppen auf und wies ihnen zufällig eine Rolle als Wärter oder Gefangener zu. Schon nach kurzer Zeit begannen die Wärter die Gefangenen schwer zu misshandeln und zu erniedrigen. Die reagierten teils mit Protest, teils mit Depressionen. Das Experiment sollte zwei Wochen dauern, wurde aber nach sechs Tagen abgebrochen, weil die Situation eskalierte. Es lieferte nicht nur Erkenntnisse über das menschliche Verhalten in Gefangenschaft, sondern auch darüber, wie stark der Einzelne von seiner sozialen Situation beeinflusst wird. 2001 wurde „Das Experiment“ mit dem Schauspieler Moritz Bleibtreu in Deutschland verfilmt.

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Philip Zimbardo DER LUZIFER-EFFEKT Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2008, € 39,95

PHILIP ZIMBARDO

arbeitete 35 Jahre lang als Psychologieprofessor an der Stanford University – bis zu seiner Emeritierung 2003. Seit seinem 1971 durchgeführten Stanford-Prison-Experiment gilt Zimbardo (Jahrgang 1933) als Experte für die Psychologie des Bösen. Im Folterungsprozess von Abu Ghraib trat er als Gutachter für die Verteidigung auf. Sein Lehrbuch „Psychologie“ (18. Auflage 2008) ist ein Standardwerk an deutschen Universitäten.

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