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Mit weniger WAchstum ZU Mehr lebensqualität

Erde|Umwelt Gesellschaft|Psychologie

Mit weniger WAchstum ZU Mehr lebensqualität
Welche zentrale Rolle Kulturwissenschaftler bei der Bewältigung des Klimawandels spielen, erläutert Professor Claus Leggewie im Gespräch mit bild der wissenschaft. Claus Leggewie ist seit 2007 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen und seit 1989 Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Gastprofessuren führten Leggewie (Jahrgang 1950) an das Wissenschaftskolleg in Berlin, an die Université Paris X und an das Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Von 1995 bis 1997 war er erster Inhaber des Max Weber Chair der New York University. Claus Leggewie ist Autor zahlreicher publikumswirksamer Bücher wie „Multi Kulti – Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“ und „Die 89er – Portrait einer Generation“.

bild der wissenschaft: „Klimakultur“ heißt ein neuer Schwerpunkt des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Werden Kulturwissenschaftler zu Klimaforschern, Herr Professor Leggewie?

LEGGEWIE: Ja, denn der Klimawandel wird auch in unseren Breiten einschneidende kulturelle Folgen haben: Die Wetterextreme werden zunehmen, Flüsse häufiger über die Ufer treten, Böden stärker erodieren und Stürme häufiger übers Land ziehen. All diese vermeintlichen Naturkatastrophen bringen auch einen unvorbereiteten und raschen sozialen Wandel, der soziale Sicherheiten einstürzen lässt. Damit wird die Natur- zur Sozialkatastrophe. Unsere Aufgabe ist es, naturwissenschaftliche Prognosen und Analysen in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen und plausibel darzulegen, was Klimawandel für die Weltgesellschaft, für Deutschland und die Region, in der wir leben, bedeuten kann.

bdw: Gibt es bereits konkrete Ergebnisse?

LEGGEWIE: Bitte etwas Geduld. Den Projektverbund Klimakultur gibt es ja erst seit 2008. Bereits verändert hat sich aber die Einbindung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in die allgemeine Forschungslandschaft. Wir werden in Gremien wie den WBGU, den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, berufen und wirken mit an der Neuorganisation der Energieforschung in Deutschland. Insgesamt zeigt dies: Energie- und Klimaforschung werden künftig stärker als bisher geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtet sein. Das ist ein ganz wichtiger Erfolg.

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bdw: Welchen gesellschaftlichen Nutzen hat die Einbeziehung des kulturellen Blickwinkels?

LEGGEWIE: Das zeigt ein Beispiel, das gar nicht aus dem Klimabereich stammt, aber auf einer Naturkatastrophe fußt: das Erdbeben von Lissabon 1755, eines der stärksten der neueren Geschichte. Es war nämlich nicht nur bis Helsinki und Algier zu spüren. Es hat auch einen großen Kulturwandel ausgelöst – vom Gott zentrierten zum naturwissenschaftlichen Weltbild. Denn für den späteren Marquis von Pombal, den Staatsgründer des modernen Portugals, war das Beben keine Strafe Gottes mehr, die man fatalistisch hinzunehmen hatte. Er war der Auffassung, dass die Katastrophe menschengemacht sei und befand: Wir haben schlecht gebaut, wir müssen die Häuser bebensicher machen. So anders ist unsere Situation heute nicht: Wie gut ist unsere Gesellschaft auf zunehmende Risiken vom Format des Hurrikans Katrina eingestellt? Die Finanzkrise hat ja gezeigt, wie fahrlässig wir überhaupt Risiken einschätzen. Nicht immer sind die Reaktionen rational: Viele flüchten sich in religiöse Weltbilder oder negieren, als „ Klimaskeptiker“, einfache technisch-naturwissenschaftliche Zusammenhänge.

bdw: Warum tun wir so oft nicht das, was wir angesichts unseres Wissens tun müssten? Nicht mehr rauchen, defensiv Autofahren, dem Klimawandel durch Verhaltensänderungen Einhalt gebieten?

LEGGEWIE: So pauschal stimmt das ja nicht. Umweltkrise, Nachhaltigkeitsidee und der aktuelle Klimawandel haben das Konsumverhalten bereits verändert, die Marktanteile zum Beispiel für Biolebensmittel oder Ökostrom haben sich in kurzer Zeit beachtlich vergrößert. Energiepolitik und Energiewirtschaft in der Bundes- republik orientieren sich stärker an Klima- und Umweltzielen, und selbst ein fragliches Mittel der Konjunktursteuerung wie die Abwrackprämie muss offenbar als Umweltprämie etikettiert werden.

bdw: Die gegenwärtigen Anstrengungen werden nicht reichen, die Treibhausgase so drastisch zu reduzieren, wie es der Bundesregierung bis 2030 vorschwebt.

LEGGEWIE: Das kann ich nur dreimal unterstreichen: Politik und Gesellschaft stellen sich insgeheim bereits auf eine „ Drei-Grad-Welt“ ein, also eine Welt, in der es global um drei Grad Celsius wärmer ist als heute. Dabei ignorieren sie, was dies für unsere Nachkommen bedeuten könnte. Eine Bank kann man rauskaufen, aber den Meeresspiegelanstieg kann man nicht aufhalten. Man sagt, das Meer werde ja erst in Jahrzehnten um einen halben oder ganzen Meter ansteigen, aber wer im Jahr 2003 geboren ist wie meine Tochter, wird die Konsequenzen unserer Trägheit ausbaden müssen. Man muss aber gar nicht Kassandra spielen. Unsere Fallstudien zeigen, dass der vermeintliche Verzicht auf Wachstum von mehr und mehr Menschen als erheblicher Gewinn an Lebensqualität angesehen wird. Viele – um auf Ihre Beispiele zurückzukommen – leben bereits gesünder und fahren mit Bus und Bahn. Kulturwissenschaftler kommen den Leuten ohnehin nicht moralisch, sondern sie fragen nüchtern, welche normativen und institutionellen Widersprüche Menschen daran hindern, Änderungen, die sie durchaus wünschen, rascher anzugehen. Mehr Menschen als wir denken, würden liebend gerne auf Mobilität verzichten und CO2 einsparen. Sie können es aber nicht, weil die zentralistische Organisation der Arbeit dem schlicht entgegensteht und die Zahl der Einpendler in eine Metropole von den Stadtoberen immer noch mit Stolz vermerkt wird.

bdw: Sie glauben, dass sich die Öffentlichkeit deutlicher als bisher bewegen wird?

LEGGEWIE: Ich glaube sogar, dass wir massive Klimaproteste bekommen werden. Man erlebt bereits jetzt Proteste gegen neue Kohlekraftwerke nach dem Vorbild der Anti-AKW-Bewegung. Und beim G20-Gipfel in London hat man gesehen, wie groß der Volkszorn sein kann.

bdw: Was wird die Folge sein?

LEGGEWIE: Auf jeden Fall eine kleine Revolution von unten. Energie- und Material-Effizienz werden mittelfristig wichtiger, alternative Energien und Lebensstile werden sich ausbreiten. Auch Opel überlebt höchstens, wenn dort Elektromobilität ein- geführt und Dreiliterautos hergestellt werden. Ökonomisch entscheiden Kostenersparnisse, Kulturwissenschaftler kennen aber auch den intrinsischen Nutzen.

bdw: Erklären Sie bitte, was „intrinsischer Nutzen“ ist?

LEGGEWIE: Ein Nutzen, der nicht im Ergebnis, sondern im Prozess gesehen wird. Der Genuss, Musik zu hören etwa, oder der Stolz des Mitarbeiters beim Lob durch den Vorgesetzten. Beides zeigt starke Wirkung – und funktioniert ganz ohne finanziellen Anreiz. Sozialpsychologie und praktische Philosophie zeigen, dass Menschen aktiv und altruistisch werden, wenn sie sich als Teil eines größeren Ganzen, einer Bewegung hin zu einer besseren Welt fühlen können und anerkannt werden. „Strategische Konsumenten“ wie die LOHAS sind hier ein Beispiel. Das Kürzel steht für einen Lebensstil, der durch Konsumverhalten und gezielte Produktauswahl Gesundheit und Nachhaltigkeit fördern will. LOHAS sind keine Ökos mehr, die in Sack und Asche gehen, sie verfügen meist über ein überdurchschnittliches Einkommen und sind durch ihr Auftreten in der Lage, eine neue gesellschaftliche Strömung so vorzuleben, dass sie von anderen imitiert werden. Es gibt bereits eine Reihe von Werbekampagnen für edle Produkte – etwa bei Gucci oder Esprit –, die den LOHAS-Lebensstil zum Inhalt haben, aber auch solche der Firma Diesel, die mögliche Folgen des Klimawandels so drastisch vorführen wie seinerzeit Benetton Aids-Kranke oder Bürgerkriegs-Gefallene. Wenn Unternehmer den Markt beobachten, wird der kritische Konsum sich auf die Produktion niederschlagen.

bdw: Demokratien gehören nicht zu den Gesellschaftsformen, die sich rasch auf ein großes Ziel einigen – und wenn, dann nur mit vielen Kompromissen. Beim Klimawandel wären rasche Schritte aber gefragt. Ist die beste aller Staatsformen hier ein Nachteil?

LEGGEWIE: Die Demokratieverträglichkeit des Klimawandels und die Klimaverträglichkeit der Demokratie sind ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit. Man muss ja wohl ernsthaft prüfen, ob ein autokratisches System wie das in China Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und grüne Konjunkturpro- gramme eventuell rascher umsetzen kann, als das in Demokratien nach westlichem Muster der Fall ist. Das ist auch deshalb von Interesse, weil es mit G20 – der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer – nun eine völlig neue Art von „ Weltregierung“ gibt, zu der nicht mehr nur Demokratien westlichen Zuschnitts gehören.

bdw: Die Kulturwissenschaften sind in Deutschland – gemessen an der Bedeutung der Naturwissenschaften – ins zweite Glied gerutscht. Damit werden Sie und Ihre Kollegen wohl noch lange zu kämpfen haben, Herr Leggewie.

LEGGEWIE: Glauben Sie wirklich? Die anderen Wissensdisziplinen brauchen uns doch dringender denn je. Die Wirtschaftswissenschaften haben sich gerade blamiert, die Naturwissenschaften stecken in der permanenten Zwickmühle, dass zu jeder Expertise eine Gegenexpertise kommt. Die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften können mindestens drei Dinge besser, die von großem politischem und gesellschaftlichem Wert sind. Erstens ist Technik nicht neutral, sie bestimmt die Form der Gesellschaft, die als kohlenstoffbasierte ganz anders funktioniert denn als solare. Zweitens berücksichtigen wir mehr als die Naturwissenschaftler, welche unbeabsichtigten gesellschaftlichen Folgen technische Weichenstellungen haben. Deswegen können wir drittens auch realistischere Szenarien etwa unserer Energiezukunft liefern. ■

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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