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Ödipus bei Microsoft

Gesellschaft|Psychologie

Ödipus bei Microsoft
Wer sich in Amerika bewirbt, muss beim Einstellungsgespräch mit scheinbar absurden Fragen rechnen – die oft mythischen Rätseln gleichen.

Ein imposanter Lebenslauf oder die Beschreibung der eigenen Schwächen – das reicht nicht mehr. In den USA müssen Bewerber erklären, wie man eine Nadel im Heuhaufen findet oder berechnen, wie viele Tankstellen es im Land gibt.

Was läuft morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei? Ödipus kam in der Tragödie von Sophokles darüber ziemlich ins Schwitzen. Denn die blutrünstige Sphinx, die ihm dieses Rätsel aufgab, hätte ihn bei einer falschen Antwort verschlungen.

Heutzutage stehen Bewerber bei Vorstellungsgesprächen in den USA unter ähnlichem Rätselstress: Jenseits des Atlantik gehören Kopfnüsse, so genannte Brainteaser, immer häufiger zum Fragenkatalog der Personalchefs. Dabei müssen nicht nur Ingenieure und Wissenschaftler klären, wie sie das Gewicht eines Flugzeugs ohne Waage bestimmen würden oder ob die Sonne immer im Osten aufgeht, sondern auch Rechtsanwälte oder Finanzexperten.

Begonnen hat das Rätselfieber in den Technik-Hochburgen des Silicon Valley, inzwischen sind auch die Personalabteilungen der Wall Street infiziert. Zu Recht, findet William Poundstone, Autor des Buchs „How would you move Mount Fuji?“, der diesem Trend nachging. „Unser globaler Markt wird immer schneller und unsicherer. Jede Branche braucht Leute, die damit umgehen können, also kreativ und intelligent sind. Und genau das testen die Fragen.“

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Poundstones Buch, das viele Brainteaser erklärt, verkauft sich besonders gut in Seattle und Umgebung: Dort ist Microsoft ansässig. Hier werden bereits seit Jahren Kandidaten zum Beispiel gefragt, wie oft am Tag sich die beiden Zeiger einer Uhr überlappen. Oder: „Welchen US-Bundesstaat würden Sie verschwinden lassen?“

„Dieser Kult geht ursprünglich auf Bill Gates zurück“, weiß Prof. Christopher Bartlett von der Harvard School of Business in Cambridge. Der Management-Experte hat die Personalstrukturen des Software-Giganten untersucht: „Mit solchen Kopfnüssen will Bill Gates Persönlichkeiten finden, die seiner eigenen entsprechen: schlau und mit Biss“.

Um diese aus den monatlich etwa 12 000 Bewerbungen herauszufischen, werden die meistversprechenden Kandidaten nach Seattle eingeladen: Sie müssen dort einen Tag lang einen Interview-Marathon aus Logikrätseln über sich ergehen lassen. Überraschen sollte das zumindest diejenigen nicht, die Microsofts Homepages gelesen haben. Das Unternehmen warnt: „Be prepared to think“ und gibt Tipps für das Vorstellungsgespräch. „You’ll want your synapsis sparking“ – zu Deutsch: „Schließlich wollen Sie doch, dass Ihre Synapsen Funken schlagen“.

Dass bei so viel erzwungener Denkakrobatik vielleicht auch einmal die Nervenknoten der Besten versagen, wird in Kauf genommen. „Das schadet zumindest nicht dem Unternehmen. Anders herum wäre es schlimmer“, findet Joel Spolsky. Der ehemalige Programm-Manager bei Microsoft folgt dieser Devise bis heute in seiner eigenen Firma Fog Creek in New York. Er stellt Logikrätsel, um mit dem Bewerber ins Gespräch zu kommen. „Ich will wissen, ob der Kandidat von Anfang an seine schlaue Seite zeigt. Und das geht nicht, wenn man ihn fragt, ob ihm die Musik der Back Street Boys gefällt.“

Spolsky ist daher sehr angetan, wenn die Bewerber schon in den ersten Minuten des Kennenlernens erzählen, dass sie ein zu wiegendes Flugzeug auf ein Schiff laden würden, um dessen sich ändernde Wasserlinie als Marker zu verwenden – entweder, indem man in einer zweiten Wägung so lange definierte Gewichte auf das Boot schafft, bis die gleiche Wasserlinie erreicht ist, oder indem man das Volumen des Schiffes zwischen den zwei Wägungen ermittelt und mit der Dichte des Wassers multipliziert.

Wissen die Bewerber dann auch noch, warum die Sonne nicht immer im Osten aufgeht, sind sie schon fast eingestellt. Antworten wie „Ein Fixstern geht weder auf noch unter“ lässt Spolsky dabei genauso gelten wie die Erklärung, dass am Nordpol jede Richtung nach Süden weist und am Südpol jede Richtung nach Norden. Die Frage nach dem Musikgeschmack des potenziellen Mitarbeiters wäre zulässig, viele andere private Themen jedoch dürfen in den USA in Vorstellungsgesprächen nicht berührt werden. Absolut tabu sind Fragen nach dem Familienstand des Bewerbers, nach Kindern, Alter, Rasse, Religionszugehörigkeit, Gewicht, Wahlverhalten, Engagement in karitativen Einrichtungen oder Straftaten. Das schließt auch Fragen aus, die als Eisbrecher benutzt werden könnten, wie „Was würde Ihre Frau sagen, wenn sie mit Ihnen nach Seattle ziehen müsste?“.

Zukünftige Jobsucher – vielleicht auch bald hierzulande – sollten einen kühlen Kopf behalten. Chris Bartlett rät: „Auf jeden Fall das Problem schrittweise analysieren.“ Meistens gilt es, das Pferd von hinten aufzuzäumen, zum Beispiel bei der Frage „ Wie viele Tankstellen gibt es in den USA?“. Personalchefs sind bereits zufrieden, wenn man über die Zahl der US-Bürger (rund 300 Millionen) die Menge der Autos abschätzt (etwa 150 Millionen) und festlegt, dass ein Wagen einmal die Woche betankt wird. Wenn man dann noch taxiert, wie viele Autos eine Tankstelle pro Woche abfertigt – nämlich 1000 bei einer durchschnittlichen Öffnungszeit von 100 Stunden die Woche und 10 Autos pro Stunde – kommt man auf 150 Millionen dividiert durch 1000 gleich 150 000 Tankstellen. Bei derlei unorthodoxen Fragen kommt es nicht darauf an, dass der Bewerber die genaue Antwort liefert – die ohnehin niemand weiß. Wichtiger ist, dass – und wie – man sich dem Problem nähert und eigene Abschätzungen einbringt, mit denen man weiterkommt.

Ödipus konnte sein Rätsel lösen: Es ist der Mensch, der die erste Zeit seines Lebens auf allen Vieren verbringt und später auf zwei Beinen geht, die dann im hohen Alter von einem dritten Bein, dem Krückstock, unterstützt werden.

Vielleicht wäre Ödipus mit so viel Intellekt sogar bei Microsoft gelandet. Heutige Bewerber müssen jedenfalls nicht um Leib und Leben bangen, wenn sie bei der Rätseltour nur die Bronzemedaille schaffen. Denn neben dem innovativen Querdenken sind Fachwissen und Berufserfahrung weiterhin wichtige Entscheidungskriterien für eine Einstellung. ■

Désirée Karge

Ohne Titel

Frage: Von acht Billard-Kugeln ist eine schwerer als die restlichen. Wie kann man mit einer Waage – bestehend aus zwei Waagschalen – mit nur zwei Wägungen herausfinden, welche von den acht Kugeln die schwerere ist?

Antwort: Zunächst legt man drei beliebige Kugeln auf die eine, und drei beliebige Kugeln auf die andere Waagschale. Wenn die Waage im Gleichgewicht ist, muss die gesuchte Kugel eine der zwei übrig gebliebenen Kugeln sein. Im zweiten Schritt werden diese gegeneinander gewogen und somit die schwerere Kugel identifiziert.

Ist die Waage bei der ersten Wägung nicht austariert, liegt die schwerere Kugel auf der Schale, die nach unten ging. Von diesen drei Kugeln nimmt man zwei beliebige und wiegt sie gegeneinander. Sind diese im Gleichgewicht, ist die verbleibene Kugel das gesuchte Objekt –falls nicht, so ist es die, deren Schale nach unten ging.

COMMUNITY INTERNET

www.research.ibm.com/ponder

www.acetheinterview.com

www.microsoft.com/college/joinus/tips.asp

LESEN

William Poundstone

HOW WOULD YOU MOVE MOUNT FUJI ?

Little, Brown and Company

Boston/New York 2003, US $ 22,95

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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