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Psychotherapie — Erfolgreicher als ein Bypass

Gesellschaft|Psychologie

Psychotherapie — Erfolgreicher als ein Bypass
Gewissenhafte psychologische Behandlungen brauchen sich nicht zu verstecken. Immer mehr Studien belegen nachhaltige Heilungen durch psychotherapeutische Interventionen. Die Suche nach dem richtigen Experten ist allerdings oft ein Glücksspiel. Doch es gibt klare Kriterien für Patienten und professionelle Helfer.

„Wir werden von vielen als eine Art Barfußdoktor angesehen”, beschreibt Prof. Jürgen Margraf die Wertschätzung seiner Zunft im öffentlichen wie im Kollegen-Urteil. „Dabei sind wir im Vergleich verdammt gut”, weiß der Forscher an der Universität Basel. „Die Psychotherapie zum Beispiel bietet bessere Aussichten auf Heilung als eine Bypass-Operation”, rückt der Klinische Psychologe die Verhältnisse zurecht (siehe Kasten „Besser als manche andere Medizin” auf S. 64).

Seelische Leiden sind in der Gesellschaft mit einem ähnlichen Tabu belegt wie Krebs. Das manifestiert sich in der Alltagssprache durch abwertende Begriffe wie „Klapsmühle” oder „ Seelenklempner”. Psychische Krankheiten gelten als Schwäche („Da muss man durch”), als bedrohlich oder machten den Menschen vor wenigen Jahrzehnten gar „lebensunwert”.

Kein Wunder, dass sich derlei Stigmatisierung auch bei den Betroffenen festsetzt. Zu oft können sie sich selbst und ihrer Umgebung nicht eingestehen: Ich habe ein Problem, mit dem ich nicht allein fertig werde. Und wenn die Scheu endlich doch überwunden wird, taucht die nächste Frage auf: Wo finde ich den für mich richtigen Helfer für meine psychische Pein?

Nur von Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse haben alle eine Vorstellung – aber meist eine falsche. Die tiefenpsychologischen Couchsessionen des Wiener Modearztes sind allerdings in der Tat nicht mehr allgemein gültiger Stand der Wissenschaft. Amerikanische Auswüchse und das Unbehagen, dass da jemand in meinen seelischen Urgründen wühlen will, um mich umzufunktionieren, rufen zudem abwehrende Angst hervor.

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Der Psychologe Margraf hält dagegen:„Es geht nicht darum, einen neuen Menschen zu schaffen. Wir wollen einen Angstgepeinigten von seiner Angst befreien, um ihm seine Freiheit wieder zu geben.” Margrafs Erfolgsquote bei der psychotherapeutischen Behandlung von Ängsten: 86 Prozent. Gute Psychotherapie setzt gezielt beim aktuellen Problem an und will durch Lernen und Handeln des Patienten – also durch bewusstes „ Selbst-Tun” – eine stabile Besserung der seelischen Beschwerden erreichen.

Denn das Leiden der Seele ist eine ganz normale Krankheit. Die größte Gruppe unter den psychischen Störungen sind die diversen Ängste, die Depressionen und die Suchterkrankungen. Es folgen Abhängigkeiten, Zwangsstörungen und sexuelle Probleme. Die Ängste und Depressionen, da sind sich die Wissenschaftler einig, werden zahlenmäßig ansteigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht nach einer Modellrechnung aufgrund der aktuellen Zahlen für das Jahr 2020 davon aus, dass die Depressionen dann weltweit nach den Herzerkrankungen an zweiter Stelle aller lebensverkürzenden Krankheiten stehen werden.

In unseren Breitengraden rangieren heute bereits bei den 15- bis 44-Jährigen sieben psychische Störungen unter den Top Ten der Erkrankungen, die zu „Verlust an Lebensjahren durch frühzeitigen Tod oder Leben mit schweren Beeinträchtigungen” führen, so die WHO-Definition. Konservativ berechnet, werden hierzulande 40 Prozent aller Bürger einmal in ihrem Leben seelische Probleme bekommen – „und da reden wir nicht von psychischem Schnupfen”, sagt Margraf, „sondern von Störungen mit Krankheitswert”. Eine erste Eigendiagnose, ob eine momentane seelische Unstimmigkeit eine Behandlung nötig ist, kann sich an vier Kriterien orientieren:

• Leide ich?

• Bin ich in meinem privaten oder beruflichen Funktionieren eingeschränkt ?

• Kann ich meine Störung kontrollieren?

• Ist meine Reaktion angemessen?

Auch in Zeiten von Selbsthilfegruppen für alles und jedes tun sich viele Menschen schwer, eine psychische Störung zuzugeben. Die Scheu der Betroffenen wird noch verstärkt durch das unüberschaubare Angebot an professioneller und pseudoprofessioneller Hilfe (siehe Kasten „Der Therapie-Dschungel” auf S. 62): Wo soll ich denn überhaupt hingehen?

„Der erste Gang ist im Allgemeinen der Weg zum Hausarzt – und das ist gut so”, konstatiert Margraf. Nur sollte man sich nicht mit Psychopharmaka einlullen lassen. Es gibt standardisierte Fragebögen, die Margraf mit Experten und Hausärzten entwickelt hat, durch die auch der Allgemeinarzt zu 90 Prozent eine behandlungsbedürftige seelische Störung erkennen kann. Die Hausärzte sind in psychischen Belangen zwar zu wenig ausgebildet, aber Margraf bescheinigt ihnen guten Willen: „Die wollen das besser machen, aber unser Gesundheitssystem unterstützt sie dabei nicht.”

Rund 80 Prozent aller Behandlungen von psychischen Leiden macht der Hausarzt, nur 5 Prozent der Betroffene gehen direkt zu einem Psychiater und 3 Prozent zu einem Psychologen. Nahezu 85 Prozent der Patienten werden von ihren Ärzten allerdings mit Psychopharmaka behandelt. Nur 15 Prozent bekommen eine Psychotherapie.

Bei den Psycho-Angeboten überkommt auch den vehementen Verfechter der Psychotherapie Margraf das Grausen: „Schrecklich! Die Patienten kaufen die Katze im Sack. Woher sollen sie denn wissen, ob für ihre Krankheit ein Analytiker die richtige Adresse ist? Oder sollen sie zu einem Systemiker gehen oder einen Psychotherapeuten aufsuchen?”

Auf alle Fälle muss der Patient, wenn er aus eigenem Antrieb gleich zu einem Psycho-Experten geht, diesen fragen: Kennen Sie sich mit meinem Problem aus? Margrafs Alltagsbeispiel: „Wenn jemand einen Anwalt sucht, fragt er den ja auch: Machen Sie Steuerrecht oder Familienrecht?” Die Approbationslisten für Therapeuten bei den Ärztekammern oder Kassen geben eine erste Auskunft. Der beste Weg aber, so meint Margraf, sei immer noch die Mund-zu-Mund-Empfehlung oder der Gang zum Hausarzt. Doch ein Mangel verwässert hierzulande immer noch die effektive Anwendung von Psycho-Techniken: „Man denkt in Deutschland immer noch zu viel in ‚Schulen‘”. Und die haben oft unantastbaren Glaubenscharakter. „Das ist falsch. Keine Psychotherapie kann für jede seelische Störung gut sein”, erbost sich der Experte. Man wendet ja auch nicht dieselbe chirurgische Methode bei einem Beinbruch und einer Herztransplantation an.

Jürgen Margrafs Mahnung: „Der Therapeut muss auf der Ebene des Patienten agieren: Was hat er für ein Problem? Ist das eine Partnerschaftsstörung, ist es eine Depression, ist es eine Depression mit Alkoholimus?” Allein nach diesen Kriterien habe sich dann die Therapie zu richten und nicht nach den – meist wissenschaftlich nicht überprüften und anerkannten – Richtlinien einer Psycho-Schule. Für die Beurteilung eines professionellen Helfers hat Margraf klare Vorgaben: „Der Therapeut muss den Patienten systematisch über sein Problem befragen. Wenn er sich hinsetzt und sagt: ‚Nun erzählen Sie mal‘, ist das zu wenig.”

Nach der ersten Stunde, in der eine Beziehung aufgebaut werden soll, muss der Psycho-Experte über ein strukturiertes Interview oder einen Fragebogen alle möglichen psychischen Störungen abfragen, zumindest alle Ängste, Depressionen, Sucht oder Essstörungen und ausschließen, dass es sich um eine Schizophrenie handelt. Diese zeitraubenden Erkundungen kann der Therapeut bei den Kassen abrechnen, es gibt also keinen Grund, sich nicht genau kundig zu machen. „Danach muss der Therapeut”, fordert Margraf, „ dem Patienten klar sagen, was er hat, wie der Therapieplan aussieht und was das Ziel der Behandlung ist.” Wenn der Klient andere Ziele hat, müsse man das weitere Vorgehen aushandeln. Wenn der Helfer „einfach weiter macht, ohne zu fragen, würde ich den Therapeuten wechseln”.

Der Baseler Professor, der das Psycho-Feld aus eigener Forschung und Praxis kennt, betont zwar, dass die Psychologen heute psychische Störungen „zuverlässig und gültig” diagnostizieren können, nennt aber auch die Schwierigkeiten seines Fachs. Zum Beispiel die Unterschiede im Umgang mit und bei der Behandlung von psychischen Störungen in den verschiedenen Kulturen: Auch in der psychologischen Forschung gibt es Modewellen, die die Akzente jeweils anders setzen. „Vor 40 Jahren hat man alle Psycho-Störungen auf soziale Faktoren geschoben: schlechte Kindheit, böse Gesellschaft. Heute ist alles ‚ individuell‘ – und ‚individuell‘ meint in der Regel ‚biologisch‘.”

Das Biologische ist ihm wichtig, aber die wissenschaftlichen Belege für prägende Einflüsse der Umwelt sind nicht mehr von der Hand zu weisen. „Schizophrenie zum Beispiel gibt es auf der ganzen Welt etwa gleich häufig. Aber in der Dritten Welt sind die Verläufe sehr viel positiver als bei uns, wo Unmengen Geld für die Behandlung ausgegeben werden.”

Auch die Zunahme von Ängsten aufgrund von sozialen Veränderungen ist inzwischen gut belegt. Eine amerikanische Doktorandin hatte die vermehrten Ängste zwischen den vierziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts verglichen mit dem Wandel in der sozialen Umwelt: Ergebnis I: Wachsende Bedrohung (durch Kriminalität) und geringere soziale Verbundenheit (mehr Singles, mehr Scheidungen) korrelierten mit dem Anschwellen von Ängsten. Ergebnis II: Die Zahl der Angstpatienten stieg infolge der gesellschaftlichen Veränderungen.

Die Forschung bringt immer mehr verlässliche Erkenntnisse für Theorie und Praxis – nur mit der Umsetzung in die alltägliche Anwendung zum Wohle der kranken Menschen hapert es. Und da eine wirksame Qualitätskontrolle bei den Psycho-Behandlungen nicht stattfindet, fehlt auch der nötige Druck auf die Therapeuten, forscherische Erkenntnis in Heilhandlung umzusetzen. „Für immer mehr Störungsbereiche wird belegt, dass Psychotherapie funktioniert”, bekräftigt Margraf und hofft: „In Zeiten knapper Ressourcen müssen sich effizientere Verfahren doch irgendwann einmal durchsetzen!” Denn „seelische Gesundheit”, so der Forscher, „ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts.” ■

Michael Zick

Ohne Titel

Es kommt nicht nur auf die Behandlungsmethode an, auch der Therapeut ist entscheidend. Der Psychologie- Professor Lester Luborsky von der University of Pennsylvania verglich vor ein paar Jahren die Resultate der Behandlungen von 22 Therapeuten. Während es bei einigen hinterher 80 Prozent der drogenabhängigen oder depressiven Patienten besser ging, erzielten andere Therapeuten ziemlich verlässlich Verschlechterungen. Die angewandte Therapie war bei allen die gleiche.

Was unterscheidet gute und schlechte Therapeuten? Dieses Rätsel konnten die Forscher bisher nur teilweise lösen. Am besten wissen sie, worauf es nicht ankommt: Alter und Hautfarbe spielen keine Rolle. Die Vermutung, dass Frauen die besseren Therapeuten seien, ist nicht völlig ausgeräumt, aber besonders wichtig ist das Geschlecht nicht. Berufserfahrung hilft etwas, aber längst nicht so sehr, dass Psychologen mit grauen Bärten grundsätzlich Vertrauen verdienen würden.

Es gibt einige Hinweise, worauf es ankommt. So nützt es, wenn der Therapeut selbst psychisch robust ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit – Psychotherapeuten stellen bis zu sieben Prozent der Klienten ihrer Kollegen.

Von Vorteil ist ein freundlicher, warmer Umgangston. Praktiker, die ihre Patienten gerne knallhart mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren, erhalten von der Therapieforschung schlechte Noten.

Offenbar hilft es auch, wenn der Therapeut in Maßen von sich und seinen Problemen erzählt. Das hatte Sigmund Freud strengstens verboten – der Psychoanalytiker sollte eine leere Leinwand sein, auf die der Patient seine Ideen projiziert. Neuere Forschungen widersprechen dieser Order. Wenn ein Patient etwa von Schwierigkeiten mit seiner Freundin erzählte, und der Therapeut gelegentlich von eigenem Liebeskummer berichtete, ging es den Patienten bei dieser Variante besser und sie fanden die Therapeuten sympathischer.

Die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient galt lange als das Herzstück jeder Behandlung und sollte bis zu 80 Prozent des Erfolgs ausmachen. Nach neuen Studien sind es weniger als 10 Prozent, so der emeritierte Psychologie-Professor Larry Beutler von der University of California in Santa Barbara.

Fazit für die Therapeutensuche: Der Kandidat sollte eine Therapie beherrschen, die bei der fraglichen Problematik nachweislich helfen kann. Im Übrigen kann man ihn getrost nach Sympathie und persönlichen Vorlieben aussuchen.

COMMUNITY Fernsehen

in Kooperation mit bdw hat „nano”, das Zukunftsmagazin in 3Sat, einen Film „Wem nützt die Psychotherapie?” produziert. Die Erstausstrahlung ist am Donnerstag, 26. August, um 18.30 Uhr. Mehr Infos unter: www.3sat.de/nano

LESEN

Jochen Paulus

VERHALTENSTHERAPIE

Der kurze Weg zum Wohlbefinden

Beltz, Weinheim 1998 € 14,90

Colin Goldner (Hrsg.)

DER WILLE ZUM SCHICKSAl

Die Heilslehre des Bert Hellinger

Ueberreuter, Wien 2003 € 22,95

INTERNET

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie: www.wbpsychotherapie.de

NLP-Kritiker Christoph Bördlein:

www.boerdlein.gmxhome.de/nlpmemo.html

Diverse NLP-Verbände:

www.nlp.de/

Bericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen” (Bundestags-Drucksache 13/10950): 0dip.bundestag.de/parfors/parfors.htm

Bert Hellingers Homepage:

www.hellinger.com/deutsch/index.html

THERAPEUTENSUCHE

Die „Arztsuche” der Ärzte-

kammern listet auch Psychologen auf:

www.arzt.de/Arztsuche/ index.html

Psychotherapie-Informations-Dienst des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen

Oberer Lindweg 2

53129 Bonn

Tel.: 0228 | 74 66 99

www.psychotherapiesuche.de

Selbsttest Kompetenznetz Depression:

www.kompetenznetz- depression.de

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