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Soziale Medien versetzen uns in „dissoziativen Zustand“

Gesellschaft|Psychologie

Soziale Medien versetzen uns in „dissoziativen Zustand“
Social Media
Wir verbringen oft mehr Zeit mit Social Media als wir eigentlich wollen. © Victollio/ iStock

Viele Menschen haben das Gefühl, mehr Zeit mit sozialen Medien zu verbringen, als sie eigentlich wollen. Forscher haben den Zustand, in dem wir gedankenverloren durch Facebook, Twitter und Co. scrollen, nun als eine Art von Dissoziation definiert – einen Zustand, in dem wir die Welt um uns herum vergessen und uns ganz in einer Tätigkeit verlieren. Zusätzlich haben sie erforscht, welche Änderungen im App-Design uns helfen könnten, unsere Zeit bewusster zu gestalten und die Dissoziation zu vermeiden. Hilfreich sein könnte es demnach, wenn sich Inhalte in Listen organisieren lassen und die Nutzer benachrichtigt werden, wenn sie alle neuen Nachrichten gelesen haben oder bereits eine bestimmte Zeit auf der Plattform verbracht haben.

„Nur eben die neuesten Benachrichtigungen checken…“ – und schon ist wieder eine halbe Stunde vergangen, ohne dass wir uns richtig daran erinnern können, was wir in dieser Zeit überhaupt gemacht haben. Manche Menschen beschreiben ihren Social-Media-Konsum als eine Art Sucht, bei der sie, ohne es wirklich zu wollen, Stunden damit verbringen, durch verschiedene soziale Netzwerke zu scrollen, und sich am Ende darüber ärgern, die Zeit nicht sinnvoller genutzt zu haben. Und auch ohne das Gefühl einer Sucht kennen viele Menschen den Effekt, dass die Uhr schneller zu gehen scheint, wenn sie sich mit Facebook und Co. ablenken.

Gedankenloses Scrollen

Ein Team um Amanda Baughan von der University of Washington in Seattle hat sich nun näher mit diesem Effekt und möglichen Abhilfen beschäftigt. Dazu entwickelten die Forscher eine eigene App namens Chirp, die das reale Twitter-Konto der Nutzer einbindet, zugleich aber integrierte kurze Befragungen sowie Interventionen ermöglicht. 43 Twitter-Nutzer aus den USA verwendeten die App zu Forschungszwecken einen Monat lang. Bei jeder Sitzung poppte nach drei Minuten und in regelmäßigen Abständen danach ein Dialogfeld auf, in dem die Nutzer auf einer Skala von eins bis fünf angeben sollten, inwieweit sie der Aussage zustimmten „Ich benutze Chirp derzeit, ohne wirklich darauf zu achten, was ich tue.“

18 der 42 Testpersonen stimmten dieser Aussage mindestens einmal zu – für die Forscher ein Hinweis darauf, dass die Teilnehmer in einen Zustand der Dissoziation geraten waren. „Dissoziation wird dadurch definiert, dass man völlig in das vertieft ist, was man gerade tut“, erklärt Baughan. „Aber die Leute merken erst im Nachhinein, dass sie dissoziiert haben. Wenn man aus der Dissoziation herauskommt, hat man also manchmal das Gefühl: Wie bin ich hierher gekommen?“ Ein ähnlicher Effekt kann sich einstellen, wenn man ein spannendes Buch liest oder sich Tagträumen hingibt.

Dissoziation statt Sucht

Baughans Beobachtung nach schämen sich viele Menschen für ihre exzessive Nutzung sozialer Medien. Aus Sicht der Forscherin kann der Begriff „Dissoziation“ statt „Sucht“ dabei helfen, das Narrativ zu verändern: „Anstelle von: ‚Ich sollte in der Lage sein, mehr Selbstkontrolle zu haben‘, heißt es eher: Wir alle dissoziieren im Laufe des Tages auf vielfältige Weise – ob wir nun träumen oder durch Instagram scrollen, wir hören auf, auf das zu achten, was um uns herum passiert“, beschreibt sie. Das sei nicht unbedingt schlecht, sondern könne durchaus zur Entspannung beitragen. Problematisch werde es allerdings, wenn die Nutzer das Gefühl haben, ihre Zeit verschwendet zu haben und in der Folge unzufrieden sind.

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„Eine der Fragen, die wir uns gestellt haben, war: Was passiert, wenn wir eine Social-Media-Plattform so umgestalten, dass sie weiterhin das bietet, was die Leute an ihr mögen, aber mit dem ausdrücklichen Ziel, dass der Benutzer die Kontrolle über seine Zeit und Aufmerksamkeit behält?“, sagt Baughans Kollege Alexis Hiniker. Nach der ersten Woche, während der die Probanden die App Chirp frei genutzt hatten, bauten die Forscher daher Interventionen ein, die den Nutzern helfen sollten, ihre Mediennutzung bewusster zu gestalten. Nach einem Monat führten sie mit elf Teilnehmern ausführliche Interviews zu ihren Nutzungserfahrungen.

Interventionen für besseres Zeitmanagement

Um den Probanden zu ermöglichen, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen wichtig ist, baten die Forscher sie, alle gefolgten Kanäle in Listen zu sortieren. Hatte ein Nutzer alle neuen Nachrichten in einer Liste gelesen, erhielt er die Nachricht „Du bist auf dem Laufenden!“. Von den Interviewpartnern erhielten die Forscher ein positives Feedback für diese Funktion. „Eine in eine Liste eingebaute Unterbrechung bedeutete, dass sie nur ein paar Minuten lesen mussten und dann, bevor die Gefahr drohte, hineingezogen zu werden, eine andere Liste lesen konnten“, erzählt Baugham. „Diese mundgerechten Inhalte zu konsumieren war etwas, das wirklich gut ankam.“

Als weitere Intervention wurde alle 20 Minuten ein Dialogfeld eingeblendet, das auf die bisherige Nutzungszeit aufmerksam machte und fragte, ob der Nutzer wirklich weiterhin auf Chirp bleiben möchte. Diese Intervention wurde gemischt bewertet. „Wenn die Leute sich ablenken wollten, half ihnen ein Dialogfeld dabei, zu bemerken, dass sie gedankenlos geblättert hatten. Aber wenn sie die App bewusster und absichtsvoller nutzten, empfanden sie das gleiche Dialogfeld als sehr störend“, so Hiniker. „In Interviews sagten die Leute, dass diese Maßnahmen wahrscheinlich gut für ‚andere Leute‘ seien, die keine Selbstkontrolle hätten, aber sie wollten sie nicht für sich selbst.“

Zeit für Entspannung

Das Problem mit Social-Media-Plattformen liegt den Forschern zufolge nicht in der mangelnden Selbstkontrolle der Nutzer, sondern daran, dass die Plattformen darauf ausgelegt sind, die Nutzer möglichst lange auf der Seite zu halten. „Social Media-Plattformen sind so konzipiert, dass die Leute ständig scrollen“, erklärt Baugham. „Wenn wir uns in einem dissoziativen Zustand befinden, haben wir ein vermindertes Gefühl der Handlungsfähigkeit, was uns anfälliger für diese Designs macht und wir verlieren das Zeitgefühl.“ Um hingegen tatsächlich den Nutzwert für die Menschen zu maximieren, müssten die Plattformen bessere Möglichkeiten des Zeitmanagements bieten, so die Forscher. Denn wer nicht das Gefühl hat, wie in einer Sucht gefangen zu sein, kann von Zeit zu Zeit den dissoziativen Zustand als willkommene Pause genießen und sich dabei entspannen.

Quelle: Amanda Baughan (University of Washington) et al., CHI Conference on Human Factors in Computing Systems 2022, doi: 10.1145/3491102.3501899

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