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Überraschend ehrlich

Gesellschaft|Psychologie

Überraschend ehrlich
Brieftasche
Eine Brieftasche liegt auf der Straße – wie viele Menschen geben sie dem Besitzer zurück? (Bild: Andrey Popov/ iStock)

Wenn Sie eine Brieftasche mit Geld auf der Straße finden – was würden Sie tun? Landläufiger Meinung nach steigt die Chance für eine Rückgabe umso mehr, je weniger Geld enthalten ist. Doch das ist ein Irrtum, wie ein Experiment in 40 Ländern und mit mehr als 17.000 „verlorenen“ Brieftaschen enthüllt: Überraschenderweise verhalten sich die Finder umso ehrlicher, je mehr Geld enthalten ist. In nahezu allen Ländern wurden Brieftaschen mit Geld häufiger zurückgegeben als solche nur mit Schlüsseln und Visitenkarten, aber ohne Geld. Nach Angaben der Forscher spiegelt dies unser Bestreben wider, ein positives Selbstbild zu behalten und uns selbst nicht als Diebe zu fühlen.

Moralische Richtlinien und ein ehrliches Verhalten bilden die Basis unserer Gesellschaft. „Ohne Ehrlichkeit werden Versprechen gebrochen, Verträge nicht eingehalten, Steuern bleiben unbezahlt und Regierungen werden korrupt“, erklären Alain Cohn von der University of Michigan in Ann Arbor und seine Kollegen. Schon von klein auf werden wir deshalb dazu erzogen, ehrlich zu sein und unseren Mitmenschen zu helfen. Ein solches prosoziales Verhalten lässt uns hoffen, dass auch andere uns gegenüber ähnlich fair handeln. In der Praxis allerdings nehmen wir es mit der Ehrlichkeit nicht immer so genau. Wir nutzen Notlügen, unterlassen aus Faulheit schon einmal eine Hilfeleistung und nicht zuletzt zeugt auch die Kriminalstatistik von zahlreichen Verstößen gegen Recht und Moral. Psychologische Modelle sehen den Grund dafür in unserem normalen Egoismus: „Das Selbstinteresse dominiert fast immer über die Sorge um das Wohlergehen anderer“, sagen die Forscher.

Der Test mit der „verlorenen“ Brieftasche

Wie es um unsere Ehrlichkeit steht, haben Cohn und sein Team nun in einem umfangreichen Experiment untersucht. Sie wählten dafür eine klassische Alltagssituation: Eine Brieftasche geht verloren und wird auf der Straße gefunden. Sie enthält Visitenkarten, einen Schlüssel, eine Einkaufsliste und entweder kein Geld oder Geld im Wert von rund zwölf Euro. Wird der Finder sich die Mühe machen, den Eigentümer zu kontaktieren und die Brieftasche zurückgeben oder nicht? Diese Frage haben die Forscher in 355 Städten in 40 Ländern mit insgesamt 17.0000 Brieftaschen untersucht. Dabei spielte ein Mitarbeiter den Finder und gab die Brieftasche am Tresen einer Bank, einer Post, eines Hotels, eines Museums oder einer anderen Kultureinrichtung oder aber bei einer Polizeiwache oder anderen Behörde ab. Mit den Worten: „Jemand muss sie verloren haben. Könnten Sie sich darum kümmern, ich bin in Eile“, übergaben sie die Brieftasche dem jeweiligen Mitarbeiter – der Testperson.

Die Visitenkarten in der Brieftasche enthielten eine Adresse in der gleichen Stadt sowie eine E-Mail-Adresse. Das machte es den Empfänger der „verlorenen“ Brieftasche leicht, den Eigentümer zu kontaktieren. Doch würden die Testpersonen dies tun? Und welche Rolle spielt dafür das enthaltene Geld? In einer begleitenden Umfrage stellten Cohn und sein Team diese Frage rund 300 Laien und 279 Wirtschaftswissenschaftlern. Beide Gruppen waren sich einig darin, dass die Rückgabequote umso mehr sinken würde, je mehr Geld in der Brieftasche enthalten war. „Wir nehmen an, dass unsere Mitmenschen sich egoistisch verhalten“, sagt Cohn.

Überraschend hohe Rückgaberaten

Doch die Auswertung ergab Überraschendes: Entgegen den Erwartungen wurden die Brieftaschen mit Geld sogar häufiger zurückgegeben als die ohne. „Das war in 38 von 40 Ländern der Fall“, berichten Cohn und sein Team. „Zwar variierte der Anteil der ehrlichen Finder von Land zu Land, aber die Zunahme der Ehrlichkeit mit dem Geldgehalt war länderübergreifend stabil.“ Um zu testen, ob eine größere Geldsumme vielleicht mehr Anreiz zum Behalten des Fundes bot, führten die Forscher in den USA, in Großbritannien und Polen ein zusätzliches Experiment durch, bei dem auch Brieftaschen mit knapp 100 Euro Geldwert „gefunden“ und abgegeben wurden. Das Ergebnis: „Die Rückgaberaten in allen drei Ländern stiegen sogar noch weiter, wenn eine substanzielle Geldmenge enthalten war“, berichten Cohn und seine Kollegen. Ohne Geld wurden im Schnitt 46 Prozent der Brieftaschen zurückgegeben, mit wenig Geld 61 Prozent und mit viel Geld sogar 72 Prozent.

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Damit scheint klar: Die meisten von uns verhalten sich in einer solchen Situation ehrlicher als selbst von Fachleuten erwartet. Aber warum? Die Auswertungen der Forscher ergaben, dass äußere Faktoren wie die Präsenz anderer Menschen bei der Übergabe, Sicherheitskameras oder ähnliches dafür offenbar keine Rolle spielen. Stattdessen scheint ein Effekt wirksam zu sein, den Forscher auch als „psychologische Kosten“ bezeichnen. Letztere entstehen dadurch, dass der Finder sein Selbstbild anpassen muss: „Menschen wollen sich als ehrliche Personen sehen, nicht als Diebe. Ein gefundenes Portemonnaie zu behalten, führt dazu, dass man sein Selbstbild anpassen muss, was mit psychologischen Kosten verbunden ist“, erklärt Co-Autor Michel Maréchal von der Universität Zürich. Das Experiment belegt, dass ein gutes Selbstbild den meisten Menschen deshalb wichtiger ist als ein kurzfristiger monetärer Gewinn.

„Das ist sehr überraschend, und die Studie zeigt, dass sowohl Laien als auch Experten diesen Effekt nicht vorhersagen können“, kommentiert der nicht an der Studie beteiligte Psychologe Johannes Haushofer von der Princeton University die Ergebnisse. „Meine Vorhersage ist, dass diese Studie eine ganze Reihe von Folgeuntersuchungen anregen wird, die uns mehr über die Faktoren sagen, die ehrliches Verhalten ermöglichen.“ Unklar ist beispielsweise noch, warum sich die Rückgabequote in den verschiedenen Ländern relativ deutlich unterschied. Während in der Schweiz, in Norwegen oder Dänemark rund 80 Prozent der Brieftaschen mit Geld zurückgegeben wurden, waren es in China, Marokko oder Peru nur zwischen acht und 20 Prozent. „Diese Ungleichheit bleibt auch dann erhalten, wenn wir die Geldmenge an das Bruttoinlandsprodukt anpassen“, berichten Cohn und sein Team. Welche kulturellen oder länderspezifischen Faktoren eine Rolle spielen, müsse noch weiter untersucht werden.

Quelle: Alain Cohn (University of Michigan, Ann Arbor) et al., Science, doi: 10.1126/science.aau8712

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