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„Wenn wir scheitern, dann bei etwas Großem“

Gesellschaft|Psychologie

„Wenn wir scheitern, dann bei etwas Großem“
In Frankfurt am Main entsteht das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. Der Initiator Wolfgang Klein spricht darüber, was die Forscher hier über Schönheit herausfinden wollen.

bild der wissenschaft: Mit Neugründungen will die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) stets Forschungsrichtungen abdecken, die noch niemand verfolgt. Heißt das, empirische Ästhetik wird in Deutschland bislang nicht beackert?

Wolfgang Klein: Nicht nur in Deutschland: Weltweit existiert keine Einrichtung, die systematisch empirische Forschung im Bereich der Ästhetik betreibt. Das geplante Institut ist also etwas vollkommen Neuartiges.

Wer befasst sich überhaupt mit Ästhetik? Philosophen?

Das stimmt, ebenso natürlich Literaturwissenschaftler und Wissenschaftler aus dem Bereich Bildende Kunst. Sie machen klassische geisteswissenschaftliche Forschung – mit den üblichen Methoden. Diese sind interpretierend, nicht empirisch oder experimentell. Empirische Arbeiten sind die Ausnahme, beispielsweise die Experimente Gustav Theodor Fechners zur Psychophysik vor über 150 Jahren. Einige Psychologen haben untersucht, welche Gesichtsformen als schön gelten. Musikpsychologen versuchen herauszufinden, welche Art von Musik Menschen bevorzugen. Das bekannteste Beispiel sind Untersuchungen zum Gänsehaut-Effekt, der sich beim Hören bestimmter Musik einstellt.

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Und Sie machen nun etwas ganz Neues?

Ja. Wenn das Institut scheitern sollte, was ich nicht erwarte, dann scheitert es bei etwas Großem. Wie der Lateiner sagt: „In magnis et voluisse sat est“, also: „In großen Dingen reicht es, gewollt zu haben“. In etwa fünf Jahren werden wir sehen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

Sie und Ulman Lindenberger vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben das Konzept für das neue Institut entwickelt. Wann entstand der Plan?

Vor etwa fünf Jahren. Wir sammelten zunächst einige Grundideen und luden dann Experten ein – teils Wissenschaftler, teils Kunstschaffende wie den Berliner Komponisten André Werner oder den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Beide machten gute Vorschläge. Auf der Grundlage dieser Gespräche haben wir den Plan konkretisiert. Den zu erstellen, ist immer ein Eiertanz. Er muss zu einer gewissen Klarheit gediehen sein, damit wir ihn den MPG-Gremien präsentieren können. Das Konzept darf aber kein Prokrustesbett sein, das die Suche nach zukünftigen Direktoren einengt. Wenn es in der Max-Planck-Gesellschaft eine heilige Kuh gibt, dann ist es die Rolle der Direktoren. Das sind herausragende Wissenschaftler, die ihre Freiheit haben müssen. Deshalb muss man bei der Planung eine Balance zwischen Festlegung und Spielräumen finden.

Haben Sie von Kollegen schon Kommentare zu dem geplanten Institut vernommen?

Ja, zumeist äußerst positive. Leute aus der MPG, aber auch von außerhalb, finden die Idee hochinteressant. Von manchen hätte ich diese Zustimmung nicht erwartet. Juristen zum Beispiel waren Feuer und Flamme. Skeptiker gibt es natürlich auch, die fragen: Geht das denn überhaupt?

Im Internet hat ein Schreiber beklagt, dass man nach der Psychologie und der Soziologie nun auch noch die Ästhetik ins empirische Korsett zwingen würde. Können Sie diese Kritik verstehen?

Die kann ich vollkommen verstehen. Aber man muss tatsächlich die Ästhetikforschung an die Zügel der empirischen Forschung nehmen. Seit 2500 Jahren reflektieren Denker und Philosophen über das Schöne. Weit gekommen sind sie nicht. Niemand hat bislang mit wissenschaftlichen Methoden nachweisen können, warum Menschen bestimmte Dinge schön finden.

Das geplante Institut soll die Standards empirischer Forschung anwenden. Können Sie das erläutern?

Empirische Forscher sitzen nicht am runden Tisch und spekulieren über Dinge, sie untersuchen sie. Sie untersuchen, was eine Änderung des Taktes in einem Musikstück mit dem Gänsehaut-Effekt zu tun hat. Sie untersuchen, welche Bilder bestimmte Menschen beeindrucken und welche sie kaltlassen. Dafür gibt es methodische Standards. Fragebogen müssen den Kriterien der empirischen Wissenschaft genügen. Befragt man Personen, muss man angeben, um welche es sich handelt und ob die Erhebung repräsentativ ist.

Das klingt nach einer Menge Arbeit.

Da die spekulative Betrachtung der Ästhetik in zwei Jahrtausenden nicht ernsthaft vorangekommen ist, sollte man der empirischen Betrachtung ein paar Jährchen gönnen.

Ein Augenmerk der Forschung soll auf der „ Variabilität“ ästhetischer Wahrnehmung liegen. Was ist damit gemeint?

Der Wissenschaftler fragt nicht: Was ist Schönheit? Er fragt: Was halten bestimmte Leute für schön? Die erste Frage ist eine Scheinfrage, auf die es keine Antwort gibt. Die zweite lässt sich mit den Methoden der Wissenschaft bearbeiten. Welche Dinge manche Menschen für schön halten, ist zum Teil direkt messbar. Oder man befragt sie. Dann sieht man, dass die Leute sich in ihrem ästhetischen Urteil unterscheiden. Selbst dieselbe Person kann je nach Lebensalter, Stimmung oder anderen Umständen unterschiedliche Meinungen darüber haben, welche Musik sie bewegt. Diese Variabilität ist ein Faktor, den man in Rechnung stellen muss. Ebenso: Gibt es einen Unterschied im Hinblick auf Alter oder Geschlecht, Sozialisation oder Kultur? Welche Rolle spielen banale Dinge wie Hörvermögen oder Farbenblindheit?

Im Zusammenhang mit Ästhetik wird seit 2000 Jahren immer wieder ein Dreiklang genannt: das Wahre, das Gute und das Schöne. Ist diese Dreiteilung praktikabel?

Wahr oder nicht wahr sind Aussagen. Schön oder nicht schön sind Objekte, Personen oder Ideen. Gut oder nicht gut sind in erster Linie Handlungen von Menschen. Kategorial gehen die drei nicht zusammen. Es handelt sich um drei Deutungen des Wortes „gut“ : gut im moralischen Sinne, gut im ästhetischen Sinne und gut im Sinne der Wahrheit. Dass diese drei ursprünglich seien und zusammengehörten, ist ein alter Gedanke. Er hat mir nie eingeleuchtet. Wenn ich herausfinde, dass mich meine Frau mit meinem besten Freund betrügt, dann ist das wahr, aber nicht gut.

Gibt es einen universell gültigen Schönheitsbegriff?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass es im ästhetischen Empfinden universale Tendenzen gibt. Das sieht man daran, dass sich manche Formen von Musik leicht verbreiten. So nehmen alle Kulturen Beethoven und Mozart an, während sich etwa indische Ragas nicht global durchsetzen. Offensichtlich gibt es universell gültige Momente, die aber auf einer abstrakten Ebene liegen.

Das Institut soll die psychischen, neuronalen und sozialen Grundlagen ästhetischen Empfindens untersuchen. Die Genetik fehlt. Hat das einen Grund?

Die Genetik kann uns darüber derzeit wenig sagen. Die Forschung ist einfach noch nicht weit genug. Zwar gibt es eine evolutionäre Theorie der Ästhetik, aber deren Aussagen sind recht allgemein. Was wir für schön halten, so sagt sie, bringe einen adaptiven Vorteil. Der Pfau mit seinem prächtigen Rad muss stets als Beispiel herhalten. Aber was heißt da „schön“? Doch nur, dass er einen evolutionären Vorteil davon hat, schön zu sein. Das erklärt nicht, wieso gerade ein Rad als schön empfunden wird, zumindest von der Frau des Pfaus.

In welche Richtung könnte der neurowissenschaftliche Ansatz gehen?

Das müssen die zukünftigen Direktoren entscheiden. Meine Vorstellung ist, dass man in diesem Bereich aus der Struktur des Gehirns kaum etwas herleiten kann. Physiologische Reaktionen lassen sich aber als Messinstrument verwenden. Man könnte zum Beispiel messen, wie das Gehirn reagiert, wenn der Mensch eine bestimmte Landschaft sieht oder eine bestimmte Musik hört. Ich sehe den Hirnforscher also als den Verwalter eines wesentlichen Teils des Messinstruments, das wir in der empirischen Ästhetik verwenden.

Welchen Nutzen kann die Erforschung der Ästhetik bringen?

Nutzen ist nicht unser Ziel. Wir machen Grundlagenforschung. Aber es gibt eine Reihe von Gebieten, die davon profitieren können. Werbung zum Beispiel, vor allem aber Architektur und Industriedesign. Was macht eine Kaffeetasse zu einer schönen Kaffeetasse? Kann man dafür Kriterien angeben? Warum finden Menschen ein bestimmtes Kleid, ein bestimmtes Auto schön? Das sind Fragen von großer praktischer Bedeutung. Später, so hoffe ich, wird es Kooperationen insbesondere mit der Industrie geben.

Sie schreiben, dass man bei der Erforschung des Schönen einen gewissen Mut zur Langeweile haben muss. Könnte das nicht potenzielle Forscher abschrecken?

Wer sich vor Langeweile scheut, sollte kein Wissenschaftler werden. In der Wissenschaft gibt es glückhafte Momente, wenn man Neues entdeckt oder wenn ein Aufsatz zur Veröffentlichung angenommen wurde. Tatsächlich aber ist wissenschaftliche Arbeit zu einem großen Teil Kleinarbeit – mühselige Arbeit. Man muss den Weg der Schnecke gehen und nicht den des Adlers. ■

Das Gespräch führte Heinz Horeis Wolfgang Klein hat Germanistik, Romanistik und Philosophie studiert. Nach Professuren an den Universitäten in Heidelberg und Frankfurt am Main wurde er 1977 Professor bei der Max-Planck-Projektgruppe für Psycholinguistik. Seit 1980 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen. Klein (Jahrgang 1946) hat Erfahrung mit der Neugründung von Max-Planck-Instituten. Unter anderem stammt von ihm das Konzept für das 1997 gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, das inzwischen zu den weltweit führenden Zentren gehört.

Die Personalsuche läuft

Das neue Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik wird in Frankfurt am Main auf dem Campus Westend errichtet, in Nachbarschaft zu den Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften der Universität. Vier Direktoren sollen die Forschungseinrichtung leiten. Zwei davon sind bereits berufen: Der Berliner Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus und die Musiksoziologin Melanie Wald- Fuhrmann. Die zwei noch offenen Stellen sollen mit einem Neurowissenschaftler sowie mit einem Experimentalpsychologen oder einem empirischen Sozialwissenschaftler besetzt werden.

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