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„Wir kaufen das Mathematikum“

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„Wir kaufen das Mathematikum“
Am 19. November feiert das von Albrecht Beutelspacher ins Leben gerufene Mathematik-Museum in Gießen 10-jähriges Bestehen. Was der Professor damit erreicht hat und wie es um die Mathematik in unserer Gesellschaft steht, erläutert er im bdw-Interview. Albrecht Beutelspacher ist seit 1988 Professor für Mathematik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Leiter der Arbeitsgruppe Diskrete Mathematik und Geometrie. Bereits in seiner Diplomarbeit 1973 an der Universität Tübingen löste Beutelspacher (*1950) das Problem des Parallelismus in projektiven Räumen, was vor ihm kein Mathematiker schaffte. Nach seiner Promotion und einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter war er von 1982 bis 1985 Professor auf Zeit in Mainz. Anschließend arbeitete er zwei Jahre lang in der Forschung bei der Siemens AG. Seit 2002 ist er Direktor des von ihm initiierten ersten Mathematik-Museums in Deutschland. Beutelspacher ist langjähriger Kolumnist von bild der wissenschaft – im Frühjahr 2013 startet er bei uns mit einer neuen Reihe.

bild der wissenschaft: Welche Bilanz ziehen Sie nach zehn Jahren Mathematikum, Herr Professor Beutelspacher?

Albrecht Beutelspacher: Das Mathematikum ist ein großer Erfolg. Anders als andere Science Center stehen wir nicht vor wirtschaftlichen Problemen. Ursprünglich dachten viele, dass der von mir propagierte Dreiklang „Mathematik-Museum, Gießen, 60 000 bis 80 000 Besucher pro Jahr“ nicht funktioniert. Doch es kam anders. Die Zahl der Besucher pro Jahr liegt inzwischen stabil bei 150 000. Damit gehören wir zu den oberen zwei Prozent der besucherstärksten Museen Deutschlands. Knapp die Hälfte der Gäste sind Kinder und Jugendliche.

Welche Erfahrungen machen Sie mit den Besuchern?

Sie bleiben lange. Und die meisten verlassen das Mathematikum glücklicher, als sie hereingekommen sind. Das liegt an den Erkenntnismomenten. Die Experimente sind technisch einfach – Knobelspiele zusammenlegen, Brücken bauen, den goldenen Schnitt entdecken. Viele sehen freilich nur einfach aus, sind es aber nicht. Das motiviert die Besucher, sich länger mit ihnen zu befassen. Schließlich wollen sie ja ein Erfolgserlebnis haben und das Rätsel lösen. Wenn solche Erfolgsmomente mehrmals kurz hintereinander stattfinden, macht es im Geist „klick“ — das steigert das persönliche Wohlbefinden. Und nicht nur das: Lernen durch Erfahrung wirkt sehr nachhaltig. Um es mit einem Satz zu sagen: Das Mathematikum hat die Haltung der Bevölkerung gegenüber Mathematik und Naturwissenschaften positiv beeinflusst.

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Was hat sich anders entwickelt, als von Ihnen angenommen?

Das eigentlich Überraschende ist, dass alles glatt geht. Größere Probleme hatten wir nie. Das liegt auch daran, dass es eine ungewollt lange Experimentierphase im Vorfeld gab. Begonnen hat alles mit einer Wanderausstellung in den 1990er-Jahren. Die Erfahrungen dabei waren beim Aufbau des Mathematikums Gold wert. Ebenso wie die Tatsache, dass wir zu Beginn kein Geld hatten. Diese Ressourcenknappheit schärfte unseren Geist: Wir konnten uns keinen Fehlgriff leisten.

Wie oft sind die Exponate defekt?

Wir haben keine Inszenierungen, sondern einfache Exponate, die meisten bauen wir in unserer Werkstatt selbst. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass nahezu alles funktioniert. Defekte reparieren wir innerhalb von Minuten, manchmal auch Stunden, ganz selten brauchen wir dazu einen Tag. Ich bin überzeugt: Wenn Sie das Mathematikum besuchen, werden alle 160 Exponate funktionieren.

Wenn das bei Ihnen so erfolgreich klappt, gibt es bestimmt Interessenten, die das Mathematikum nachahmen wollen oder Inhalte abkupfern.

In unseren Exponaten stecken in der Tat viele Ideen. Fast jeden Monat kommt jemand zu mir mit einem „tollen“ Projekt und der Bitte, unsere Ideen dort einzubringen. Da sage ich immer: Fangen Sie einfach an, und Sie werden sehen, ob Ihre Ideen funktionieren. Manchmal registriere ich, dass etwas von uns bis ins Detaildesign kopiert worden ist. Da kann man sich ärgern. Man kann sich freilich auch sagen: Wenn unsere Exponate so populär sind, dass sie ohne Quellenangabe zitiert werden, ist das doch ein großes Kompliment für unsere Idee. Einige mathematische Institutionen unterstützen wir explizit – etwa das Erlebnisland Mathematik in Dresden. Derzeit arbeiten wir an einem Hamburger Projekt, das zur Lehrerfortbildung dienen soll. Und wir haben ein Museum in Istanbul ausgestattet. Das begann abenteuerlich: Eines Sonntags wartete im Mathematikum ein älterer Herr auf mich, der sich als Präsident eines Rotary Clubs in Istanbul vorstellte, „ reichster Rotaryclub von Welt“. Und er meinte: „Wir kaufen das Mathematikum.“ Beim Gespräch stellte sich heraus, dass er nicht ganz so weit gehen wollte, sondern einen Saal in dem gut funktionierenden Istanbuler Rahmi M. Koç Museum mit Mathematikexponaten ausstatten wollte. Dort hat man tatsächlich Exponate von uns übernommen.

Wie wichtig war und ist die Galionsfigur Albrecht Beutelspacher?

Es war zunächst ja nicht ich, der ein festes Mathematik- Museum haben wollte, sondern die Menschen, die unsere Wanderausstellung besuchten. Wer aber nicht die Millionen eines edlen Stifters zur Verfügung hat, braucht für ein solches Projekt eine Galionsfigur – eine Person, die kontinuierlich an der Sache arbeitet und darüber hinaus Begeisterung vermittelt. Diese Leitmaxime hat mir früh in meinen Berufsleben jemand vermittelt. Obwohl ich gerne meine Ruhe habe und eigentlich gar nicht ständig in der Öffentlichkeit stehen will, nahm ich diese Rolle im Hinblick auf das Mathematikum gerne an und sagte mir: Das ist die Chance deines Lebens!

Ihnen begegnen sicher ständig Menschen, die damit kokettierten, dass sie mit Mathematik nie etwas anfangen konnten.

Das ist immer mal wieder zu hören. Ich meine aber, etwas seltener als früher.

In der Öffentlichkeit hat der Mathematiker Albrecht Beutelspacher einen Ruf wie Donnerhall. Wie steht es um ihn in der Scientific Community?

Zwei Hauptgründe waren es, weshalb ich Mathematik-Professor werden wollte. Einmal wegen der mathematischen Forschung, in der ich in den ersten 15 Jahren meiner Karriere wohl auch einige gute Ergebnisse erreicht habe. Ich habe mit kombinatorischer Geometrie begonnen und mir dann als zweites Bein die Kryptografie und Datensicherheit erarbeitet. Für meine heutige Vermittlungstätigkeit ist es sehr wichtig, erahnen zu können, welche Erkenntnismomente, aber auch welche Frustrationen man durchlebt, wenn man an der Grenze der Forschung arbeitet. Ich glaube aber, dass meine Hauptwirkung als Mathematik-Professor die von mir verfassten Lehrbücher sind – der zweite Grund, weshalb ich mich für diesen Berufsweg entschieden habe. Insbesondere für ein Buch über Algebra, das sich explizit an Studierende wendet, bekomme ich heute noch Fan-Post – man muss es genau so sagen. Mehrfach habe ich schon total durchgearbeitete Bände signieren müssen. Viele sagen mir, sie hätten das Mathematik-Studium aufgegeben, hätte es da nicht das von mir verfasste Buch über Lineare Algebra gegeben.

Wie beurteilen Sie das Schulfach Mathematik? Was ist heute anders als während Ihrer Schulzeit?

Zu meiner Schulzeit bot die Schule den Schülern praktisch keine Chance, sich mit Mathematik zu identifizieren. Die Aufgaben und Fragestellung des Mathematik-Unterrichts waren für Schüler nicht relevant. Nach der ersten Pisa-Studie hat man angefangen, den Mathematik-Unterricht zu öffnen. Ziel muss sein, die Schüler dazu zu bringen, selber Mathematik zu entwickeln. Da heißt, dass sie nicht nur passiv aufnehmen sollen, was der Lehrer sagt, sondern selber aktiv ausprobieren und nachdenken. Die Lehrer, die in den letzten zehn Jahren ausgebildet worden sind, haben das verstanden und praktizieren das in ihrem Unterricht. Eine Entwicklung ist allerdings gegenläufig: Das Hinarbeiten auf die Abschlussprüfung ist heute weit extremer im Kopf verankert als früher. Die Maxime heißt: Wir müssen jede Stunde nutzen, um auf die Prüfung zu lernen. Wenn ein Lehrer das nicht rigoros umsetzt, drohen Eltern mit Benachteiligungsklagen. Ich meine jedoch, dass es falsch ist, nur für die Prüfung zu lernen. Denn bei einem solchen Unterricht bleibt langfristig kaum etwas hängen. Beim Studium ist es noch extremer: Durch die Bachelor- und Masterausbildung ist für die Studierenden vieles einfacher geworden, denn die Unterrichtseinheiten sind fest vorgeschrieben. Das pure Schmökern abseits der Standardveranstaltungen kommt dadurch viel zu kurz. Aber wir brauchen den Freiraum für Kreativität. Bei unseren Lohnkosten reicht es nicht, Autos zu bauen. Das können die Südkoreaner auch. Wir müssen Autos weiter neu erfinden, damit man sie uns trotz hoher Kosten abkauft. Das heißt: Unsere Ressource ist mehr denn je Kreativität.

Welche Fragen bewegen die Hochschul-Mathematik?

Durch die Weltfinanzkrise weiß heute fast jeder, dass eine große Zahl von Transaktionen nicht mehr Menschen vornehmen, sondern Computer, die durch mathematische Programme gesteuert werden. Das ist ein Beispiel, um zu erkennen, dass dort, wo uns Mathematik weiterhilft – nämlich in der raschen Börsenbewertung –, unter anderem Blickwinkel gerade die Ursache des Problems liegt – nämlich die sich überschlagenden Neubewertungen. Wir erkennen zunehmend, dass wir sehr komplexe Fragen – beispielsweise rechtzeitige und richtige Tsunami-Warnungen – überhaupt nur dann beantworten können, wenn wir die richtigen mathematischen Methoden anwenden. Zu meinen Lieblingsproblemen gehören die Primzahlen: ein uraltes Thema, das in der Kryptografie neue Anwendungen gefunden hat. Wir wissen immer noch viel zu wenig über Primzahlen, zum Beispiel kennen wir keine Formel, die einfach Primzahlen liefert.

Wie wär’s zum Schluss noch mit einem Mathematiker-Witz?

Gerne: Ein Mathematiker möchte ein Bild aufhängen. Er nimmt einen Hammer und einen Nagel, den er einschlagen möchte. Er stutzt. Irgendetwas stimmt nicht. Dann erkennt er: Der Kopf des Nagels zeigt zur Wand, die Spitze auf ihn. Nach fünf Minuten konzentrierter Analyse kommt er zur Erkenntnis: Das ist ein Nagel für die gegenüberliegende Wand! Oder mögen Sie lieber den: In eine leere Straßenbahn steigen drei Leute ein. Bei der nächsten Haltestelle steigen aber fünf aus. Sagt der Biologe: Die haben sich vermehrt. Sagt der Informatiker: Ich habe mich verrechnet. Sagt der Mathematiker: Wenn jetzt noch zwei einsteigen, ist der Wagen wieder leer. ■

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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