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DAS LEBEN MACHT DEN UNTERSCHIED

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DAS LEBEN MACHT DEN UNTERSCHIED
Was prägt den Menschen mehr – Erbgut oder Umwelt? Zwillinge gelten als die idealen Versuchspersonen, um diese Frage zu klären. Doch jetzt bringen neue Erkenntnisse die Fundamente der Zwillingsforschung ins Wanken: Eineiige Zwillinge sind gar nicht genetisch identisch.

Zwillinge umgibt seit jeher eine besondere Aura. In manchen alten Kulturen wurden sie als göttliche Geschöpfe und Glücksbringer verehrt, in anderen als Ausgeburt des Teufels verfolgt und sogar getötet. Romulus und Remus gründeten der Sage nach die Stadt Rom. Hanni und Nanni machten Enid Blyton zu einer der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen. Und ob die Kessler-Zwillinge es einzeln zu Weltruhm gebracht hätten, erscheint zumindest fraglich. Auch die Wissenschaft ist von den Doppelgängern schon lange fasziniert. „Zwillinge bieten die ideale Grundlage, um den Einfluss von Genen und Umwelt auf individuelle Unterschiede zu erforschen“, sagt Heike Wolf, Verhaltensgenetikerin an der Universität Saarbrücken. Und somit eine Schlüsselfrage des menschlichen Seins zu ergründen: Was macht uns zu dem, was wir sind? Sind es vor allem die Gene? Oder die Welt, in der wir leben? Bei weltweit einer von 250 Geburten können sich Eltern über eineiige Zwillinge freuen, weil die befruchtete Eizelle, die Zygote, sich in den ersten Tagen der Schwangerschaft in zwei Hälften geteilt hat. Warum es zu dieser körperinternen „Klonierung“ kommt, ist unklar.

Fest steht indes: Solche monozygoten Zwillinge beginnen ihre Existenz mit der gleichen genetischen Ausstattung. Kein Wunder also, dass sie sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Zweieiige (dizygote) Zwillinge hingegen stimmen nur in der Hälfte ihrer DNA überein, sind also vom Genom her betrachtet nichts anderes als am selben Tag geborene Geschwister. Was die beiden Gruppen eint: Zwillingspaare wachsen normalerweise in derselben Familie auf und unterliegen deshalb größtenteils denselben äußeren Einflüssen. Angefangen von der Ernährung der Mutter in der Schwangerschaft über Hygiene, sozialen Status und finanzielle Verhältnisse der Eltern bis hin zu Erziehung, kulturellem und gesellschaftlichem Hintergrund – ihre Lebensumstände sind weitgehend dieselben. „ Deshalb sind Zwillinge für verhaltensgenetische Studien so wertvoll“, sagt Heike Wolf. Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen im Bezug auf ein bestimmtes Merkmal, etwa Körpergröße oder Intelligenz. Wenn monozygote Zwillingspärchen sich darin mehr ähneln als dizygote, muss dieser Unterschied genetisch bedingt sein – und nicht äußeren Bedingungen geschuldet, da diese bei Zwillingsgeschwistern ja die gleichen sind.

DARWINS CoUSIN HATTE DIE IDEE

Das ist die Grundidee der Zwillingsforschung. Erstmals geäußert hat sie 1875 Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin. Die Zwei aus einem Ei seien das Mittel, „um zwischen den Auswirkungen von Neigungen, die sie bei Geburt erhielten und solchen, die ihnen die Umstände ihres späteren Lebens auferlegt haben, zu differenzieren“, so Galton. Also zwischen „Nature“ (Natur) und „Nurture“ (Ernährung) – wie die Engländer den Gegensatz von Erbe und Umwelt mit einem Stabreim auf den Punkt bringen. Während sein berühmter Cousin Geschichte schrieb, schoss sich Galton ins wissenschaftshistorische Abseits. Denn er begründete nicht nur die Zwillingsforschung, sondern auch die Eugenik, die in Hitlers Ausrottung „lebensunwerten Lebens“ ihre grausige Anwendung fand. Die Debatte, ob die Gene das Wesen des Menschen bestimmen oder doch Erziehung und Umwelt, hat bis ins 21. Jahrhundert überdauert. Und nach wie vor stehen Zwillinge dabei im Mittelpunkt. Heike Wolf ist froh, dass die Nature-versus-Nurture-Diskussion heute weniger dogmatisch geführt wird als noch vor einigen Jahren. „Die meisten Wissenschaftler erkennen inzwischen an, dass es eigentlich kein Persönlichkeitsmerkmal gibt, bei dem nur Natur oder nur Lebensumstände eine Rolle spielen.“ Interessant ist heute vielmehr, was von beiden wie relevant ist.

Von Nahrungsvorlieben und Sportsgeist über sexuelle Orientierung und Aggressivität bis hin zur Zufriedenheit im Beruf und politischen Überzeugungen – nahezu jede menschliche Eigenschaft haben Zwillingsforscher inzwischen unter die Lupe genommen und dabei einen erheblichen Einfluss der Erbanlagen festgestellt. Selbst den Glauben sollen laut einer Studie der University of Minnesota überwiegend genetische Faktoren bestimmen. „Religiosität wird vererbt“, lautet das Fazit der US-Wissenschaftler aus dem Vergleich von 104 zweieiigen und 169 eineiigen Zwillingen. Auch Gavin und Jason, zwei bärtige Endzwanziger, sind eineiige Zwillinge. Ihr Foto ziert die Informationsbroschüre und die Website des europäischen Epigenom-Exzellenznetzwerks „Epigenome NoE“. Damit sind die beiden die Galionsfiguren des derzeit wohl heißesten Forschungsgebiets in der Biologie – der Epigenetik. 20 000 bis 25 000 Gene hat unser Genom. Sie liefern den Bauplan für das Leben. Es braucht aber mehr als diesen Plan. Denn obwohl alle Zellen im Zellkern das gleiche Erbmaterial tragen, gibt es im menschlichen Körper Hunderte von Zelltypen: zum Beispiel Nervenzellen, Hautzellen und Leberzellen. Zelltypen, die ganz verschiedene Eigenschaften haben und vollkommen unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Welches Schicksal menschliche Zellen nehmen, hängt davon ab, welche Gene im Laufe ihrer Entwicklung wie aktiv sind.

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Teils wird das durch Steuerungs-Gene reguliert, die in den auf 46 Chromosomen verteilten und in der Summe zwei Meter langen DNA-Strang integriert sind. Doch seit einigen Jahren zeigt sich immer deutlicher: Entscheidende Einflüsse auf die Genaktivität kommen von außen, von molekularen Steuermechanismen, die nicht in der DNA selbst stecken, sondern vielmehr auf ihr. Solche epigenetischen Faktoren kontrollieren die Genomfunktion, indem sie beispielsweise Gene anschalten oder stilllegen. Die DNA sei wie ein Tonband, auf dem Informationen gespeichert sind, erläutert Bryan Turner. „Doch ein Tonband nützt uns ohne Abspielgerät rein gar nichts“ sagt der Genetiker von der University of Birmingham. „Die Epigenetik befasst sich mit dem Abspielgerät.“

DIE BEWEISE AUS MADRID

Turners Institute of Biomedical Research gehört zu den 25 ständigen Mitgliedern von Epigenome NoE. Dass Gavin und Jason als „Gesichter“ des Netzwerks fungieren, hat gute Gründe. Denn einerseits können Zwillinge Epigenetikern tiefe Einblicke liefern. Umgekehrt hat die Epigenetik das Zeug, die bisherigen Ansichten über die Gleichheit und Unterschiede der genetischen Doppelgänger auf den Kopf zu stellen. Eindrucksvoll demonstriert das eine Studie spanischer Wissenschaftler: Die Forscher um Manel Esteller vom Nationalen Krebszentrum in Madrid analysierten das Erbgut von 40 monozygoten Zwillingspaaren zwischen 3 und 74 Jahren, wobei sie sich auf die zwei zentralen epigenetischen Prozesse konzentrierten: einerseits die DNA-Methylierung, die Gene inaktiviert, andererseits die sogenannte Histon-Acetylierung, die schlummernde Erbgutabschnitte wiedererweckt (siehe Grafik „Die Schalter der Gene“).

Ergebnis: Zahl und Verteilung dieser Schaltelemente wichen zwischen den Zwillingsgeschwistern teils deutlich voneinander ab – und damit auch das Aktivitätsmuster ihrer Gene. Auffällig war, dass diese Unterschiede bei älteren Zwillingen besonders deutlich zu Tage traten. Bei sehr jungen Zwillingspärchen waren die epigenetischen Profile hingegen weitgehend identisch. Für Estellers Entdeckung gibt es zwei mögliche Erklärungen. Eine ist die „epigenetische Drift“: Modifikationen und Defekte im Epigenom reichern sich im Laufe der Zeit an. Da diese Veränderungen zufällig geschehen, sind sie bei den beiden Teilen eines Zwillingspaars nicht die gleichen. Die andere Erklärung lautet, dass persönliche Erfahrungen und Umweltfaktoren sich im epigenetischen Muster niederschlagen. Manel Esteller sieht beide Kräfte am Werk, doch für die zweite These hat er stichhaltige Beweise gefunden.

EINE SACHE DES LEBENSSTILS

Der Forscher analysierte nicht nur die Erbanlagen seiner Probanden, sondern befragte sie auch zu Lebensweise und Biografie. Und stellte fest: Die Zwillinge, die am längsten getrennt gelebt hatten, waren sich epigenetisch am wenigsten ähnlich. Je unterschiedlicher ihre Erfahrungen und Gewohnheiten – von der Ernährung und der sportlichen Aktivität über die Krankheitsgeschichte und den sozialen Status bis hin zum Tabak- und Alkoholkonsum –, desto größer die Abweichungen in ihrem Epigenom. „Sowohl die angeborene Natur als auch Umgebungsbedingungen wirken auf die Zwillinge ein“, sagt Esteller. „Die Epigenetik ist die Brücke dazwischen.“

Prägt die Umgebung einen Menschen somit biologisch, indem sie die Aktivität seiner Gene verändert? Jörn Walter, Genforscher an der Universität des Saarlandes, räumt zwar ein, dass viele Belege noch aus Tierversuchen stammen, doch für ihn steht trotzdem fest: Essen, Gifte, Klima, Stress, Verhalten, persönliche Erfahrungen – alles was wir erleben, kann sich epigenetisch niederschlagen und so die Genomfunktion beeinflussen. „Indem Gene aktiviert und deaktiviert werden, passen wir uns bestimmten Lebensbedingungen an“, sagt Walter, dessen Arbeitsgruppe ebenfalls zum europäischen Forschungsnetzwerk Epigenome NoE gehört. „Während die Genetik über Millionen von Jahren wirkt, verändert die Epigenetik Organismen innerhalb einer Generation.“

Immer deutlicher zeichnet sich ab: Das Erbgut ist ein sehr viel offeneres System, als man lange dachte. Die DNA gibt zwar den grundsätzlichen Bauplan des Lebens vor, doch über epigenetische Prozesse arbeiten verschiedenste Kräfte von außen bis in den Zellkern hinein, schalten Gene an und ab und bestimmen so zumindest mit, was aus einem Individuum wird und wie es wird. So stellten Forscher um den Epigenetik-Pionier Moshe Szyf fest, dass neugeborene Ratten, die von ihren Müttern vernachlässigt werden, im Erwachsenenalter ängstlicher und stressanfälliger sind. Untersuchungen ihrer Hirne ergaben: Im Hippocampus, einer für Gedächtnis und Verarbeitung von Emotionen zentralen Region, war bei den vernachlässigten Tieren die Aktivität wichtiger Gene gedrosselt. Ähnliche epigenetische Veränderungen durch Methylgruppen, die das Ablesen verhindern, fand Szyf vergangenes Jahr in den Gehirnen von Selbstmördern, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren. Sie könnten der Grund sein, warum diese Menschen sich das Leben genommen haben, spekuliert der Forscher von der McGill University in Montreal.

DIE SPIELWIESE DER GENETIK

Dass das Epigenom aufgrund solcher Befunde oft als „das wahre Genom, das über alles entscheidet“ angesehen wird, missfällt Jörn Walter. Er sieht die Epigenetik vielmehr als eine „Spielwiese der Genetik“, die rasche Anpassungen an bestimmte Zustände und Bedingungen erlaubt. Und zwar in alle Richtungen, denn anders als genetische Mutationen können die molekularen Signalgeber an der DNA jederzeit modifiziert werden. „Epigenetische Veränderungen sind metastabil“, sagt der Forscher. Das heißt: Sie entstehen schneller und sind auch leichter wieder rückgängig zu machen als Veränderungen der Gene selbst. „Die Möglichkeit, so flexibel zu reagieren, ist für den Organismus von großem Vorteil.“ Wie die DNA-Methylierungsmaschinerie arbeitet, was sie beeinflusst und welche Folgen die Methylierungsmuster auf das Erscheinungsbild und das Wesen eines Menschen haben – wissenschaftlich gesprochen: auf seinen Phänotyp –, will nicht nur Jörn Walters Arbeitsgruppe in Saarbrücken klären. Rund um den Globus versuchen Forscher, dem Epigenom seine Geheimnisse zu entlocken. Zwillinge könnten dabei zu den wichtigsten Studienobjekten werden, meint Andreas Busjahn: „Da Eineiige die gleiche Basensequenz besitzen, findet man bei ihnen die optimalen Bedingungen, um phänotypische Auswirkungen epigenetischer Effekte zu untersuchen – ebenso wie die Auswirkungen von Umweltfaktoren auf die Epigenetik.“ Der 50-Jährige hat lange selbst als Zwillingsforscher gearbeitet – an der Berliner Charité und am Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin. Seit 2002 leitet Busjahn die Firma HealthTwiSt. Von vier Büroräumen in Berlin-Buch aus organisieren er und seine vier Mitarbeiter Zwillingsstudien für die Genforschung. Aufträge kommen in erster Linie von Universitäten. Das Betriebskapital von HealthTwiSt ist eine Datenbank, in der über 1700 Zwillingspaare registriert sind, eineiige und zweieiige. Manche der doppelten Lottchen und Hänschen hätten schon an zig Projekten teilgenommen, erzählt Busjahn. „Zwillinge stellen sich der Wissenschaft meist gerne zur Verfügung, weil sie wissen, dass sie genetisch etwas Besonderes sind.“ Über mangelnde Nachfrage an seinen Diensten kann der studierte Psychologe sich nicht beklagen. Und er rechnet damit, in Zukunft noch begehrter zu sein. „Welches Potenzial Zwillingsuntersuchungen der Epigenetik bieten, wird gerade erst erkannt.“

MERKWÜRDIGE BEOBACHTUNGEN

Auch Tim Spector, Leiter des Department of Twin Research am Londoner King’s College, ist überzeugt, dass die Untersuchung epigenetischer Prozesse mit dem Zwillingsmodell „die Zwillingsforscher für die nächsten fünfzig Jahre glücklich machen“ wird. Umgekehrt könnte die Epigenetik auch manch merkwürdiges Phänomen bei Zwillingen erklären. So lassen sich Gavin und Jason, die eineiigen Botschafter des Epigenom-Exzellenznetzwerks, zwar optisch kaum auseinanderhalten, teilen Hobbys wie das Wellenreiten und haben auch beide eine ererbte Veranlagung für Typ-II-Diabetes. Doch nur Jason musste schon wegen erhöhtem Blutzucker vom Arzt behandelt werden. Bruder Gavin hingegen hat keine Probleme mit der Bauchspeicheldrüse. Dabei besitzen sie genau die gleiche DNA. Doch dass von zwei genetisch identischen Zwillingen nur einer eine Krankheit mit erblicher Komponente bekommt, ist – anders als man denken könnte – gar nicht so selten.

EXOTEN IM GENOM

Der Grund könnte ein Phänomen sein, das Genetiker monoallelische Expression nennen. Außer in den Keimzellen finden sich im Kern menschlicher Zellen zwei Kopien jedes Gens, eine vom Vater ererbt, die andere von der Mutter. Gemäß der Lehrmeinung werden immer beide Kopien (Allele) eines Gens abgelesen und in das entsprechende Genprodukt umgesetzt – von wenigen Einzelfällen abgesehen. Bekannteste Ausnahme ist das zweite X-Chromosom bei Frauen, welches stets stillgelegt ist. Aber auch Erbgutabschnitte für bestimmte Botenstoffe des Immunsystems und Geruchsrezeptoren gehören zu den Exoten im Genom, die monoallelisch umgesetzt werden.

Nur sind diese Exoten offenbar gar nicht so exotisch. Etwa 4000 menschliche Gene hat Alexander Gimelbrant von der Harvard University gescreent und dabei mehr als 300 gefunden, bei denen mal das eine Allel, mal das andere und manchmal auch beide verwendet wurden. Und das, obwohl die DNA-Sequenz der getesteten Zellen identisch war – es handelte sich um Klone von Immunzellen des Menschen, die in Laborgefäßen herangewachsen waren. Ob jeweils die mütterliche oder die väterliche Variante gewählt wird, scheint zufällig zu sein und kann von Zelle zu Zelle variieren. Dass epigenetische Effekte die jeweiligen Allele aktivieren und deaktivieren, vermuten die Harvard-Forscher bislang nur. Doch Gimelbrant ist überzeugt: „Selbst bei eineiigen Zwillingen wird es die beobachteten Unterschiede geben.“ Möglicherweise hat Jason deshalb einen erhöhten Blutzucker und Gavin nicht. Denn wenn bei Jason von einem Gen nur ein Allel eingeschaltet ist, werden auch geringere Mengen des von diesem Gen codierten Produkts hergestellt. Ist dieses Genprodukt wiederum bedeutend für den Zuckerstoffwechsel, wird die Entwicklung eines Diabetes dadurch begünstigt. Und nicht nur die Entwicklung eines Diabetes oder anderer Leiden, meint der Berliner Zwillingsforscher Andreas Busjahn: „Die monoallelische Expression kann genauso phänotypische Konsequenzen haben, die Persönlichkeit und Charakter betreffen.“

DARUM IST JEDER EINZIGARTIG

Rechnet man die Ergebnisse aus Harvard auf das gesamte menschliche Genom hoch, werden von über 1000 Genen mal die mütterliche Kopie, mal die väterliche und mal beide benutzt. Die schier unendliche Zahl von Kombinationen, die sich daraus ergibt, ist ein Faktor, der jedes Individuum einzigartig macht, so Gimelbrant, auch bei identischer genetischer Grundausstattung. Eineiige Zwillinge sind demnach wie zwei Musiker, die von derselben Partitur spielen, sie aber unterschiedlich interpretieren. Wie die Noten interpretiert werden, ändert sich ein Leben lang, das zeigt Manel Estellers Studie. Der Dirigent ist dabei offenbar das Epigenom, das mitbestimmt, wann ein Gen zu tönen und wann es still zu sein hat. Über die Epigenetik können Umweltfaktoren in die Genomregulation eingreifen, was sich wiederum auf das Wesen eines Menschen mit all seinen Facetten auswirkt.

So schließt sich der Kreis und macht die Frage „Nature or Nurture?“, die Andreas Busjahns Forschungsgebiet so lange dominiert hat, hinfällig. „Gene und Umwelt lassen sich nicht getrennt betrachten, weil sie in einem ständigen Wechselspiel stehen. Die Zwillingsforschung sollte sich darauf konzentrieren, dieses Wechselspiel zu verstehen.“ Zwar verblüfft es ihn nach wie vor, wie sehr sich die natürlichen Klone oft gleichen, selbst wenn ihre Lebenswege weit auseinander führen. Doch das, so Busjahn, liege wohl daran, dass man besonders auf Gemeinsamkeiten achtet, weil die eben das Faszinierende an Zwillingen sind. Beim näheren Hinsehen merke man aber, „dass sie trotz aller Ähnlichkeit zwei eigenständige Persönlichkeiten sind, mit ihren individuellen Vorlieben, Eigenarten und Charakterzügen.“

Mit Abweichungen hatte das Forscherteam um Carl Bruder von der University of Alabama also durchaus gerechnet, als es letztes Jahr die Genome von 19 monozygoten Zwillingspaaren verglich. Allerdings nur im epigenetischen Profil. Doch was die Wissenschaftler fanden, erschüttert die Zwillingsforschung in ihren Grundfesten. Denn auch in der DNA selbst gibt es Unterschiede. Und zwar bei der Zahl der Kopien eines Erbgutabschnitts. Solche sogenannten Copy Number Variants (CNV) sind nicht vererbt, sondern entstehen im Laufe des Lebens, wenn sich teilende Zellen die Erbinformation kopieren. Das bedeutet: Eineiige Zwillinge sind genetisch gar nicht identisch. „Ein wirklich aufregendes Ergebnis“, sagt Andreas Busjahn.

AUF DIE UNTERSCHIEDE KOMMT ES AN

CNVs wurden erst vor wenigen Jahren entdeckt. Wie man inzwischen weiß, sind sie an der Entstehung verschiedener Krankheiten beteiligt, unter anderem an neuropsychiatrischen Leiden wie Autismus und Schizophrenie. Jörn Walter hält es für sehr gut vorstellbar, dass Copy Number Variants auch die Ausprägung gesunder psychischer Eigenschaften beeinflussen. Die von Carl Bruder erstmals festgestellten Abweichungen in der DNA-Sequenz „könnten ein Grund sein, warum monozygote Zwillinge sich in ihrer Persönlichkeit und ihren Charaktereigenschaften eben nicht gleichen wie ein Ei dem anderen.“ Der Epigenetiker von der Universität Saarbrücken kritisiert, dass die verhaltensgenetische Zwillingsforschung die Gemeinsamkeiten zu sehr in den Vordergrund gestellt hat. Viel aufschlussreicher sei es, zu untersuchen, welche Umweltfaktoren und welche Interpretationen des genetischen Materials dazu geführt haben, dass es zwischen Eineiigen Unterschiede gibt. „So kann man der uralten Frage, was den Menschen prägt, wirklich näher kommen“, sagt Walter. Zwillinge dürfen sich jedenfalls freuen. Schließlich wollen sie nicht als kurioses Doppelpack wahrgenommen werden, sondern als zwei eigenständige Menschen. Und das sind sie – auch biologisch. ■

bdw-Autor ULRICH KRAFT geriet letztes Jahr zufällig auf ein Zwillingstreffen. Das machte ihn neugierig auf das hochaktuelle Thema.

von Ulrich Kraft (Text) und Claudia Hentrich (Fotos)

KOMPAKT

· Im Laufe des Lebens weicht auch das Erbgut eineiiger Zwillinge voneinander ab.

· Abhängig vom Lebensstil werden Gene ein- oder ausgeschaltet. Aber auch der Zufall spielt dabei eine Rolle.

· Weitere Variationen entstehen durch Genverdoppelungen.

DiE Schalter der Gene

Die DNA ist wie eine Strickleiter aufgebaut, bei der jede Sprosse für einen Buchstaben des genetischen Codes steht. Ob der Code gelesen werden kann oder nicht, darüber entscheiden sogenannte epigenetische Schaltelemente.

Als „Anschalter“ fungieren die Acetylgruppen. Sie hängen sich an die Schwänze der Histon-Proteine (grün). Je acht Histon-Proteine bilden einen Komplex, um den der DNA-Faden gewickelt ist wie Haare um einen Lockenwickler, eine Wicklung heißt „Nukleosom“. Sind die Histone acetyliert (mit Acetylgruppen versehen), lösen sich die Nukleosomen voneinander und geben die DNA zum Ablesen frei. Fehlen die Acetylgruppen, liegt das Erbgut kompakt verdrillt vor – besonders in der kurzen Phase der Zellteilung, wenn es als Chromosom sichtbar wird.

Als epigenetische „Abschalter“ wirken Methylgruppen. Sie binden an bestimmte Sprossen der DNA-Strickleiter und verhindern dort das Ablesen der Gene. Beide Arten von Genschaltern sorgen auch bei eineiigen Zwillingen für biologische Individualität.

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