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Der Angst auf den Fersen

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Der Angst auf den Fersen
Mann oder Maus: Bei der Angst ist dieser Unterschied kleiner, als man vielleicht denkt. Das hilft Forschern, die neuronalen Mechanismen dieses mächtigen Gefühls zu ergründen – und macht Menschen mit Phobien das Leben schwer.

Keine Ahnung, wann es angefangen hat. Als Kind bin ich jeden Bergpfad wie eine Gämse entlang gehüpft. Von Furcht keine Spur. Heute ist das definitiv anders, so die bittere Erkenntnis einer Wandertour durch die Alpen im vergangenen Sommer.

Unser Weg führt über einen Grat, links geht es senkrecht in die Tiefe, rechts fällt ein Schotterhang steil ab. Ein schmaler Pfad, zugegeben, aber doch allemal breit genug und mit einem Sicherheitsabstand von mindestens einem halben Meter zum Abgrund. Rein rational besteht also nicht der geringste Anlass, einen Absturz zu befürchten. Die Realität: Das Herz schlägt mir bis zum Hals, die Beine zittern wie Espenlaub, die Angst ist so überwältigend, dass ich am liebsten auf allen Vieren weiterkriechen würde. Zumindest das verhindert mein letzter Rest Stolz. Absteigen müssen wir trotzdem, denn an ein Weitergehen ist nicht zu denken. Zurück im Tal fragt mein sichtlich enttäuschter Wanderkumpel, was denn los war. Zerknirscht räume ich ein, mich in luftigen Höhen ein wenig zu fürchten. Aber dass es so schlimm ist…

Auch das dunkelbraune Mäuschen, das vor mir in einer dick mit Streu ausgelegten Plexiglasbox herumhuscht, wird das Fürchten gleich lernen. Seine Heimat ist das Institut für Physiologie der Uni-Klinik Münster, in dem Hans-Christian Pape die neurophysiologischen Mechanismen der Angst erforscht. Sein Hauptziel bringt der Biologe mit einem Satz auf den Punkt: „Die Grundlagen von Angsterkrankungen verstehen und so Ansatzpunkte für maßgeschneiderte Therapien und Medikamente finden.“

Das tut durchaus Not. Schätzungen zufolge leidet jeder zehnte Deutsche unter einer Angststörung. Mit meiner Höhenangst hätte ich es vergleichsweise gut erwischt, meint Pape: „Sie haben ja die Möglichkeit, einfach im Tal zu bleiben.“ Im Gegensatz zu mir können Menschen mit generalisierten Angststörungen der Furcht nicht aus dem Weg gehen. Ihre Angst ist nicht an ein Objekt oder eine Situation gekoppelt, sondern mehr oder weniger ständiger Begleiter.

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Ähnliches gilt für das posttraumatische Belastungssyndrom, das spätestens seit dem Tsunami in Asien auch vielen Laien ein Begriff ist. So werden unzählige Augenzeugen und Betroffene der verheerenden Naturkatastrophe bis heute regelmäßig von Flash-backs und Albträumen heimgesucht. Das zeigt, wie tief sich schreckliche Erinnerungen in die Hirnwindungen eingraben können.

Eigentlich war das der Punkt, der Hans-Christian Pape in sein Forschungsgebiet lockte. „Mich interessieren Funktionszustände des Gehirns, die unser Gedächtnis stark beeinflussen“, erklärt er. Drei gibt es davon: Aufmerksamkeit, Wachheit und Emotionen. Angst sei die Emotion, die sich am besten experimentell untersuchen lässt. „Wenn man also die Mechanismen der Angstentstehung erforscht, erfährt man einiges darüber, wie Gedächtnisbildung grundsätzlich funktioniert.“

Der 51-Jährige erweist sich als guter Didaktiker, denn der Anschauungsunterricht folgt auf dem Fuße. Pape startet auf seinem Laptop ein Video. Seicht plätschernde Musik erklingt, auf dem Bildschirm kurvt ein Auto durch eine liebliche Landschaft. Ich soll nur den Wagen betrachten. Der verschwindet in einem kleinen Wäldchen. Dann passieren vier Dinge gleichzeitig. Statt des Autos füllt eine hässliche Fratze den Monitor, ein Schrei ertönt, ich bekomme fast einen Herzinfarkt, der Professor grinst. „Wenn Sie diese Melodie in nächster Zeit noch einmal hören, erinnern Sie sich mit recht hoher Wahrscheinlichkeit an den Film und an das, worüber wir jetzt reden“, sagt er. „Die Schreckreaktion fördert die Gedächtnisbildung.“ Fragt sich, wer hier eigentlich das Versuchstier ist, ich oder die Maus.

Die setzt Rajeevan Narayanan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut, gerade von ihrer Plastikbox in ein ziemlich technisch aussehendes Metallgehege – „zur Furchtkonditionierung“. Mir fällt ein gewissen Herr Pawlow ein, dessen Hunden schon beim bloßen Klang einer Glocke das Wasser im Mund zusammenlief, nachdem sie gelernt hatten, dass dem Gebimmel das Futter folgt. „ Das Prinzip ist dasselbe“, so Narayanan. „Wir spielen der Maus zehn Sekunden einen Ton in einer bestimmten Frequenz vor und kurz vor dem Ende bekommt sie über den Gitterboden einen leichten elektrischen Schlag an die Füße.“ Nicht wirklich schmerzhaft, aber doch zumindest unangenehm. Schließlich soll das Tier dazu gebracht werden, den aversiven Reiz mit dem Ton zu assoziieren. Nach zwei Trainingseinheiten à sechsmal „Bitzeln an den Füßen“ hat die Maus ihre Lektion gelernt. „Die assoziative Gedächtnisbildung geht bei furchtrelevanten Reizen sehr schnell“, sagt Hans-Christian Pape und verrät gleich, warum. Weil das im Kampf ums Überleben enorm wichtig ist. Denn jede Maus, die einmal fast von einer Schlange gefressen wurde, tut gut daran, das bei der nächsten Begegnung noch im Kopf zu haben.

Wie die Angst in meinen Kopf gekommen ist, kann Andreas Mühlberger nicht genau sagen. Was nicht an mangelnder Fachkenntnis liegt – der Psychologe von der Uni Würzburg ist Experte auf dem Gebiet –, sondern an der unklaren Sachlage: „Nach Auffassung vieler Forscher sind Phobien und Angststörungen stets konditionierte Reaktionen, also erlerntes Verhalten.“ Als typisches Beispiel nennt er die Furcht vor dem Zahnarzt: Einmal schmerzliche Erfahrungen gemacht, schon geht man nicht mehr hin – oder wenn, dann nur mit ordentlichem Muffensausen. Kommt mir bekannt vor. Mühlberger nippt an seinem Kaffee und fragt mich nach traumatischen Erlebnissen mit Höhen. Fehlanzeige. Der Psychologe sieht nicht überrascht aus. „Es gibt auch Reize, die quasi von Haus aus Angstreaktionen auslösen, weil sie irgendwann in der Entwicklungsgeschichte des Menschen gefährlich waren.“ Beziehungsweise nach wie vor sind. Höhe gehöre möglicherweise zu diesen „evolutionsbiologischen Voreinstellungen“, wie der Psychologe es nennt. „Nach der Theorie des nicht-assoziativen Furchtlernens müssen solche veranlagten Ängste in der Kindheit verlernt werden, sonst steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Phobie.“

Wenn dem so ist, haben die Kletterpartien in Opas Apfelbäumen und die Wandertouren mit den Eltern bei mir offenbar nicht dauerhaft gefruchtet. Deshalb sitze ich jetzt in Mühlbergers Büro, mit leicht flauem Gefühl im Magen. Gleich werde ich mich der am meisten Erfolg versprechenden Behandlungsmethode phobischer Störungen unterziehen – der Expositionstherapie. Theoretisch ist nach der Lektüre der Informationsbroschüre alles klar. Anstatt das zu tun, was jeder vernünftige Mensch tun würde, nämlich der furchtauslösenden Situation aus dem Weg zu gehen, soll man sich sehenden Auges hinein begeben. Konfrontation statt Vermeidung – bei manchen Phobien lassen sich so 80 bis 90 Prozent der Betroffenen heilen.

Mein Weg führt allerdings nicht aufs Dach des sechsstöckigen Institutsgebäudes, sondern ins Souterrain – weil ich meinen Ängsten in der virtuellen Realität begegnen werde. Der Lehrstuhl für Psychologie in Würzburg ist eine der wenigen Institutionen, die diese Form der Expositionstherapie anbieten, zuerst bei Flug-, mittlerweile auch bei Höhenangst.

In einem kleinen, spartanisch eingerichteten Raum sitzt Mathias Müller vor zwei Computerbildschirmen. Der 31-jährige Besitzer von Diplomen in Psychologie und Informatik hat die virtuelle Welt für die Therapie nutzbar gemacht. „Unser Programm basiert auf Half Life II, einem der viel kritisierten Egoshooter“ , erzählt er. „Aber keine Sorge, erschossen werden Sie nicht.“ Wie tröstlich. Andreas Mühlberger setzt mir das Sichtgerät auf, einen schweren schwarzen Kasten. „Darin sind zwei Displays, vor jedem Auge eines“, erklärt er. „Mit dem Rädchen an der Seite müssen Sie den Augenabstand einstellen.“ Ich sehe mich um: Giebel, ein Schornstein, im Hintergrund Hochhäuser, alles ziemlich real. Aha – offensichtlich stehe ich auf einem Dach. Mühlberger drückt mir einen Joystick in die Hand. „In einem Radius von ein, zwei Metern können Sie sich ganz normal bewegen, wenn Sie weiter wollen, benutzen Sie den Joystick.“ Mein Blick richtet sich nach vorn – fünf Meter bis zur Dachkante. „Los geht’s „, sagt der Therapeut. Gehorsam drücke ich den Hebel.

Auch in Münster ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Wir haben den Raum gewechselt. Rajeevan Narayanan stellt die Box mit der Maus auf die Arbeitsplatte. „Sie wurde gestern konditioniert, jetzt testen wir das Furchtgedächtnis, also ob der Ton zu einer Angstreaktion führt, weil das Tier mit dem unangenehmen Fußreiz rechnet.“ Dass dieser Teil des Versuchs in einem anderen Zimmer stattfindet, hat keineswegs logistische Gründe. „Es geht darum, die spezifische Angst zu untersuchen und nicht die kontextuelle“, sagt Hans-Christian Pape. Zur Illustration bemüht er wie Kollege Mühlberger in Würzburg das Beispiel Zahnarzt. All jenen, die den Mann mit dem Bohrer fürchten, treibe schon der Anblick des Wartezimmers und der typische Geruch die Schweißperlen auf die Stirn. Bei den Mäusen sei das genauso. Sie erkennen die Umgebung, in der sie die Stromreize erhalten haben, und bekommen schon deswegen Angst. „Wir möchten, um im Bild zu bleiben, nur die Reaktion auf den Zahnarzt kennen. Dazu müssen wir den Doktor in einem völlig anderen Kontext vorführen, etwa in einem Kinosaal.“

Thomas Seidenbecher kommt zur Tür herein, unser Experte für In-vivo-Elektrophysiologie, wie Pape ihn vorstellt. Und damit ein wichtiger Mann. Denn um die neuronalen Mechanismen der Angst zu erforschen, werden den Mäusen hauchdünne Elektroden ins Gehirn implantiert. „Das Anschlussstück auf dem Kopf sieht vielleicht ein bisschen klobig aus, aber es stört die Tiere nicht“, sagt Seidenbecher. Rajeevan Narayanan winkt mich zum Computer. Oben zucken drei Linien über den Monitor – die Hirnaktivität in verschiedenen Arealen –, darunter ist das Kamerabild aus der Box. „Wir können also gleichzeitig sehen, wie die Maus sich verhält und was dabei in ihrem Gehirn vorgeht.“ Im Moment putzt sie sich die Barthaare, läuft herum, richtet sich auf und schaut neugierig über den Rand der Box. „Typisches Explorationsverhalten“, kommentiert Narayanan die Sendung mit der Maus. Plötzlich ertönt ein durchdringender Piepston. Das Tier zuckt kurz und setzt seinen Erkundungsgang dann unbeirrt fort. „Das ist ein neutraler, nichtkonditionierter Reiz. Spätestens nach der dritten Wiederholung hat die Maus gemerkt, dass nichts passiert und reagiert überhaupt nicht mehr.“ Das Live-Bild bestätigt das Gesagte.

Es piepst wieder, diesmal deutlich hochfrequenter. Thomas Seidenbecher tippt auf den Monitor. „Sehen Sie, die Maus ist vollkommen erstarrt, denn jetzt erwartet sie den Stromreiz an den Füßen. Das war nämlich der konditionierte Ton.“ Verändert haben sich auch die Kurven, die die Hirnaktivität verzeichnen. Eine der Ableitelektroden sitzt in der sogenannten Amygdala, die so etwas ist wie die zentrale Schaltstelle für Angstreaktionen (siehe Grafik nächste Seite). „Sämtliche furchtrelevanten Reize von den Sinnessystemen gelangen in die Amygdala, werden dort verarbeitet und dann weitergeleitet“, erläutert der Biologe. Zum Beispiel zum Hypothalamus, der Kontrollinstanz, die Herzschlag, Atmung und über Umwege die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin steuert. Außerdem gehen Signale zu den motorischen Zentren im Rückenmark und lösen aus, was Seidenbecher als Standardfurchtreaktion bezeichnet – das Freezing. „Mäuse, aber auch fast alle anderen Säugetiere, erstarren buchstäblich vor Angst, oft so lange, bis der auslösende Reiz weg ist.“ Dass das Freezing beim Säugetier Mensch höchstens einen kurzen Moment anhält, sei Folge seiner Fähigkeit zum rationalen Denken.

Bei mir hat die Amygdala offenbar das Kommando übernommen. Mit schweißigen Händen und spürbar pochendem Herzen stehe ich etwa einen halben Meter von der Dachkante entfernt, nah genug, um nach unten auf die Straße zu sehen. Die liegt gut zehn Meter tiefer – in der virtuellen Realität. Eigentlich befinde ich mich am denkbar sichersten Ort für einen Höhenängstlichen, nämlich mitten in einem ebenerdig gelegenen, von vier Wänden umgebenen Raum. Das versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, doch es scheint nicht allzu viel zu bringen. Beim nächsten Blick in den Abgrund schwanke ich leicht. Halt suchend greift meine Hand nach rechts – zu einer Mauer, die in der wirklichen Welt leider gar nicht da ist. Kurz droht der Absturz. Mir fällt ein Satz aus einem Buch von Douglas Adams ein: „In einem künstlichen Raum künstlich mit einer künstlichen Laserwaffe erschossen zu werden, ist genauso effektiv wie eine Erschießung im wirklichen Leben, weil man immer so tot ist, wie man sich fühlt.“

„Momentane Angst?“, fragt Andreas Mühlberger. Gemeint ist eine Skala von 0 (keine Angst) bis 100 (maximal vorstellbare Angst), das wurde mir zuvor erklärt. „30, 35″, antworte ich, berücksichtigend, wie groß der Horror wäre, stünde ich in der Realität an dieser Stelle.

Für meinen Körper ist der virtuelle Abgrund offenbar tief genug, wie der Psychologe mir demonstriert. Ich soll auf einem Bein stehen. Eigentlich eine kinderleichte Übung. Wenn nur das Knie nicht so zittern würde. Doch Mühlberger kennt kein Erbarmen. „Noch einen Schritt näher an die Kante. Beugen Sie sich vor und schauen Sie einmal richtig senkrecht nach unten. Wie fühlt sich das an?“ Nicht gut. Gar nicht gut!! Ich brauche eine Pause.

Auch die Maus hat die Schrecken für heute noch nicht überstanden. Es piepst erneut – das Tier erstarrt wieder. „Der furchtrelevante Reiz wurde im Gedächtnis gespeichert“, erklärt Hans-Christian Pape. Was dabei im Mäusehirn passiert, konnten die Forscher bereits klären. Involviert sind vor allem zwei Strukturen, besagte Amygdala und der Hippocampus. Letzterer ist für das deklarative Gedächtnis zuständig, also die Erinnerung an Ereignisse und Fakten, während die Amygdala als Sitz des emotionalen Gedächtnisses gilt. „Normalerweise sind die Aktivitätsmuster der beiden Areale unterschiedlich“, berichtet Pape. „Doch bei der Präsentation des konditionierten Tons synchronisieren sie sich zeitlich. Beide feuern dann mit einer Frequenz um die sechs Hertz.“

Was folgt, ist ein kleiner Ausflug in die Tiefen der Neurophysiologie. Nach der gängigen Vorstellung werden Gedächtnisinhalte dauerhaft abgespeichert, indem sich Netzwerke aus teils weitverstreuten Nervenzellen miteinander verschalten, beziehungsweise ihre bereits bestehenden synaptischen Verbindungen festigen. Und das machen sie, so Pape, indem sie ihre Aktivität für eine gewisse Zeit synchronisieren. „Daraufhin werden in den beteiligten Neuronen bestimmte Gruppen von Proteinen exprimiert, was zu einer bleibenden Stabilisierung des Schaltkreises führt.“

Der Biologe scheint meinen fragenden Blick zu bemerken. Ich soll mir einen Weihnachtsbaum mit 10 000 vollkommen unkoordiniert flackernden Kerzen vorstellen. „Wenn 500 Kerzen so miteinander verbunden sind, dass sie auf Knopfdruck alle mit einer bestimmten Frequenz aufleuchten, fällt Ihnen dieses Netzwerk sofort ins Auge.“ Genauso funktioniere das Furchtgedächtnis.

Einmal konditioniert, legt jede erneute Konfrontation mit dem Ton im Gehirn der Maus quasi den Schalter um. „Der Reiz durchläuft immer wieder dasselbe, durch die Konditionierung stabilisierte Netzwerk“, sagt Pape. Und löst auf diesem Weg immer wieder dieselbe Reaktion aus – im Fall der Maus das Freezing. Neurophysiologisches Korrelat, so der Forscher, sei die Theta-Aktivität in Amygdala und Hypocampus: „Synchronizität repräsentiert Gedächtnis.“

Mit diesem kurzen Satz spricht er aus, was lange nur eine Theorie war, wenn auch eine in Forscherkreisen akzeptierte. „Der Beleg für diesen Mechanismus im lebenden Organismus fehlte lange“ , erklärt er. „Wir konnten ihn erbringen, zumindest für das Furchtgedächtnis bei Mäusen.“ Jetzt wird an der Uni Münster untersucht, ob sich Ängste beim Menschen ebenfalls über eine synchrone Theta-Aktivität ins Gehirn einbrennen.

Von neuronalen Netzwerken spricht auch Andreas Mühlberger, der meine Verschnaufpause nutzt, um das Prinzip der Expositionstherapie noch einmal deutlich zu machen. „Der entscheidend Punkt ist eine Veränderung des Verhaltens in der angstauslösenden Situation.“ Deshalb hat er mich dazu getrieben, noch einen Schritt näher an den Rand des Dachs zu treten. Dass mir dabei der kalte Schweiß ausbricht, ist durchaus bezweckt. „ Die Furcht kann sehr groß werden, sie wird aber auch wieder kleiner.“ Physiologischerweise, denn die Amygdala bleibe nicht dauerhaft auf höchstem Aktivitätsniveau. „Allein schon die Erfahrung, dass das Angstgefühl auch nachlässt, wenn man nicht wegläuft, modifiziert das Angstnetzwerk“, erklärt der Psychologe. Will heißen, man kann das Fürchten nicht nur lernen, sondern auch wieder verlernen? „Genau darum geht es bei der Konfrontation. Sie trainieren, in der Situation anders zu reagieren als gewohnt.“ Indem ich direkt an den Abgrund trete und dort bleibe. Okay, bereit für die zweite Runde.

Die Modifizierbarkeit der Angstschaltkreise möchte mir Rajeevaan Narayanan gerne demonstrieren. Dazu muss er allerdings eine andere Maus holen. Beim Gang über den Flur erzählt der 30-Jährige, dass ihn das Forschungsgebiet auch aus persönlichen Gründen interessiert. „Mein Bruder hatte vor längerer Zeit einen schweren Verkehrsunfall. Seitdem steigt er nur noch in ein Auto, wenn es gar nicht anders geht. Und dann fürchtet er sich so sehr, dass er buchstäblich die Fassung verliert.“

Zurück im Versuchsraum erfahre ich den Unterschied zwischen Maus 1 und Maus 2. Per elektrischem Fußreiz konditioniert wurden sie beide. „Das zweite Tier hatte danach noch einige Trainingssitzungen, in denen es wiederholt nur den Ton vorgespielt bekam – ohne unangenehme Konsequenzen.“ Das macht Narayanan jetzt noch einmal und siehe da: Das Piepen lässt die Maus vollkommen kalt, von der typischen Schreckstarre keine Spur.

Safety-learning heißt dieser Prozess – extrem wichtig im Mäuseleben, wie Hans-Christian Pape erklärt. „Situationen, die Furcht auslösen, gibt es viele. Wenn die Situation aber gar nicht gefährlich ist, muss das Tier dies im Rahmen seiner Erfahrungsbildung erlernen – sonst wäre es ständig vor Angst wie gelähmt.“ Auch die Expositionstherapie basiere auf dem Safety-learning. Der Phobiker wird wieder und wieder mit dem angstauslösenden Reiz konfrontiert, die befürchteten Konsequenzen – in meinem Fall der Sturz in die Tiefe – bleiben selbstverständlich aus. „So lernen Sie dann: Selbst am Abgrund ist Stehen sicher“, meint Pape.

Tierversuche zeigen, die dabei entscheidende Region ist wohl der präfrontaler Cortex (PFC). So verlieren Ratten mit einer Schädigung in dieser Region zwar unmittelbar während des „ Sicherheitstrainings“ ihre konditionierte Furcht, doch am nächsten Tag meldet sich die Angst zurück. Anlass für die Forscher in Münster, bei ihren Mäusen auch die Aktivität dieses Hirnareals zu messen. Pape übt sich ein wenig in Geheimniskrämerei – weil die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind. Doch so viel verrät er schon: Ausgehend vom PFC gibt es „ Einflüsse“, die auf die neuronalen Verbindungen zwischen Amygdala und Hippocampus einwirken können. „Der präfrontale Cortex besitzt die exekutive Kontrolle über diese beiden Areale. Er kann über die Furchtschaltkreise die Oberhand gewinnen und sie verändern.“ Und mit ihnen die Reaktion auf Reize und Situationen, die vormals nichts anderes als die nackte Angst wachriefen.

Die schwindet bei mir langsam. Relativ souverän marschiere ich an der Dachkante entlang, das Gewicht schön auf die sichere Seite verlagert, aber immerhin. Doch Andreas Mühlberger hat noch eine Sonderprüfung parat. Zwei Holzbohlen führen vom Dach auf einen gegenüberliegenden Sims – dazwischen gähnt der Abgrund. Zwei Dinge sind es auch, die ich mir vorsage. Erstens: Alles nur virtuelle Realität. Zweitens: Kein Mensch fällt von zwei Planken dieser Breite. Da die Brücke aber 15 Meter über dem harten Asphalt schwebt, kostet der erste Schritt eine Menge Überwindung. Zehn weitere folgen, schlurfend und mit flatternden Nerven, dann bin ich drüben. Zurück geht es schon besser, dann ist es geschafft. Ich setze das Sichtgerät ab, erleichtert und ein bisschen davon träumend, bei der nächsten Bergwanderung den schmalsten Grat cool und lässig zu überschreiten.

Ob Mühlberger das gemerkt hat? Jedenfalls holt er mich umgehend auf den Boden der Tatsachen zurück. „Man verlernt seine Furcht nicht in zwei Sitzungen bei uns. Aber man bekommt das Handwerkszeug, um mit der Angst so umzugehen, dass sie sich vermindert.“ Wichtig sei dabei, sich in entsprechende Situationen zu begeben. Deshalb gibt es Hausaufgaben. Was ich heute getan habe, soll ich weiter üben, selbstverständlich in einer absolut sicheren Umgebung. Der Psychologe schlägt eine Fahrt auf den Berliner Fernsehturm vor. „Stellen Sie sich ans Fenster und schauen Sie runter, so lange, bis die Furcht nachlässt.“ Mir schwebt als Trainingsgelände eher der heimische Balkon vor – vierter Stock, Altbau – doch ich bekunde meinen Willen, das Begonnene zu Ende zu bringen. Mühlberger schmunzelt. „Das Erfolgserlebnis in der virtuellen Welt motiviert fast alle Patienten dazu, sich an der Realität zu probieren.“

Habe ich getan. Jeden Tag auf dem Balkon. Ganz ran an die Brüstung, den Oberkörper darüber beugen, in die Tiefe sehen, die Angst zulassen, warten, bis sie sich legt. Zehn Tage lang. Jeden ging es ein bisschen besser. Zeit also für eine echte Nagelprobe. Ort des Geschehens ist das Elbsandsteingebirge mit seinen berühmten Felskegeln. Ich stehe auf der 417 Meter hohen Schrammsteinaussicht. An drei Seiten geht es senkrecht nach unten, glücklicherweise ist alles mit brusthohem Metallgeländer gesichert. Trotzdem, mir ist mulmig. Allerdings nicht so mulmig wie bei meinem letzten Ausflug hierher. Da war die Angst so groß, dass ich nach zwei Minuten auf dem Plateau den Rückweg antreten musste. Heute bleibe ich noch ein Weilchen. Und genieße den grandiosen Blick ins Elbtal. ■

Der freie Wissenschaftsjournalist Ulrich Kraft hat dank der Konfrontation mit virtuellen Höhen seine ganz reale Höhenangst überwunden.

Ulrich Kraft

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