Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

DER IRRWITZIGE WETTKAMPF DER FORSCHER

Erde|Umwelt Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

DER IRRWITZIGE WETTKAMPF DER FORSCHER
Stammzellen beflügeln kühne Träume: Mit ihrer Hilfe sollen Blinde sehen und Lahme gehen können. Seit Jahren wetteifern Forscher, wer mit welcher Stammzellart die besten Heilerfolge erzielt.

Shinya Yamanaka linst mit dem rechten Auge ins Okular des Mikroskops. Was er hier im Labor einer Fruchtbarkeitsklinik sieht, sind ein paar filigrane befruchtete Eizellen. Während der zweifache Vater die kugeligen Zellhaufen tausendfach vergrößert bestaunt, denkt er: Es muss doch irgendwie möglich sein, embryonale Stammzellen anders herzustellen, als dieses keimende Leben dabei auszulöschen! Damit hat er seine Lebensaufgabe gefunden: Der Arzt Yamanaka will nach einer Methode suchen, embryonale Stammzellen zu gewinnen, ohne Embryonen zu vernichten.

Stammzellen sind wahre Alleskönner. Das macht sie so reizvoll für Molekularbiologen und Mediziner: Die Urzellen können sich in 220 verschiedene Körperzellen verwandeln. Aus ihnen erneuert sich der Organismus permanent, wenn Wunden heilen. „Sie sind die vielseitigste und vielversprechendste Quelle für die Regeneration von gealtertem, verletztem oder erkranktem Gewebe“, bringt der Schweizer Biowissenschaftler Matthias Lutolf die Faszination auf den Punkt. Stammzellen beflügeln kühne Träume: Sie könnten Dementen zu frischem Geist verhelfen und Zuckerkranke mit einer neuen Bauchspeicheldrüse versorgen. Vielleicht lassen sie Blinde eines Tages sehen und Lahme gehen. Spenderorgane könnten massenhaft in der Retorte wachsen.

Rohstoff dieser Visionen sind Stammzel- len unterschiedlicher Herkunft: adulte Stammzellen aus Erwachsenen. Embryonale Stammzellen aus Eizellen, die nach einer künstlichen Befruchtung übrig bleiben. Und Stammzellen aus der Nabelschnur, die unmittelbar nach der Geburt entnommen werden. Die Anhänger der verschiedenen Zelltypen wetteifern seit Jahren um Heilungserfolge.

Als Shinya Yamanaka 1999 seinen Einfall hat, embryonale Stammzellen ohne Zerstörung des Embryos zu gewinnen, ist er für die meisten Stammzellexperten ein Unbekannter. Der gelernte Chirurg von der Universität Kyoto forscht erst seit Kurzem auf ihrem Gebiet – und geht unerschrocken einen ganz unkonventionellen Weg.

Anzeige

LOTTO SPIELEN IM LABOR

Er möchte Hautzellen in den Embryonalzustand versetzen und sie damit zu Alleskönnern machen. Das hat noch keiner vor ihm geschafft. Was beide Zellarten unterscheidet, sind die aktivierten Gene, genau genommen einige Hundert davon. Weil das zu viele sind, macht Yamanaka etwas, was Wissenschaftler gewöhnlich nicht tun: „Ich habe Lotto gespielt“, erzählt er freimütig. Er pickt einfach die aussichtsreichsten 24 Gene heraus. Die Auserwählten packt er in unterschiedlichen Kombinationen in ein Virus und schleust diese Gen-Fähre in Hautzellen. Die Viren fügen dort ihre genetische Fracht ins Erbgut der Zellen ein – ein Verfahren, das man aus Gentherapie-Experimenten kennt.

Dass Yamanaka damit in kurzer Zeit sein Ziel erreicht, ist indes unglaublich. Vielleicht liegt es daran, dass der Japaner die Kantine und jeglichen Zeitvertreib verweigert, um sein tägliches 12- bis 16-Stunden-Pensum nicht zu gefährden. Am Ende reichen ihm jedenfalls vier Gene für die wundersame Verjüngung. Er hat gewöhnliche Hautzellen von Mäusen in embryonalähnliche Stammzellen verwandelt. Aus ihnen können alle Zelltypen des ausgewachsenen Nagetiers sprießen, ob Fell, Herz oder Hirn. Yamanaka nennt die reprogrammierten Alleskönner „induzierte pluripotente Stammzellen“, kurz: iPS. 2007 verjüngt er auf dieselbe Weise zum ersten Mal Zellen der menschlichen Haut.

Als die übrigen Stammzellforscher von dem Kunststück des Japaners erfahren, sind sie perplex. „Das hat uns alle überrascht.“ „Ich hätte nie darauf gewettet.“ „Eine Sensation.“ „ Eine detektivische Meisterleistung.“ Solche Sätze sagen sie in die Mikrofone von Reportern aus aller Welt. Vielleicht hätten die Insider die Ergebnisse vorsichtiger kommentiert, wäre da nicht die Gruppe um den deutschen Stammzellforscher Rudolf Jänisch vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge gewesen. Kurz nach dem Pionier aus Japan gelingt es auch ihm, Zellen aus der Mäusehaut zurück in den Urzustand zu verwandeln. Jänisch berichtet darüber im Juni und Juli 2007 in den renommierten Fachblättern „Nature“ und „Cell Stem Cell“.

REICHT EIN BISSCHEN HAUT?

„Das war ein enormer Durchbruch“, freut sich Jänisch. „Eine Reihe von ethischen Problemen sind mit den iPS-Zellen einfach weg. Man muss keine Embryonen mehr benutzen. Man kann auf diese Weise sogar patientenspezifische Zellen herstellen. Das ist das Attraktive daran.“ Vielleicht reicht bald ein bisschen Haut, um Nervenleiden und Hirnschädigungen zu heilen – so hoffen die Forscher. Es brechen aufregende Monate an – mit immer neuen Kapriolen. Die Verjüngung war nur die erste.

Die Stammzellforscher schwenken nach dem Coup aus Japan kollektiv auf iPS-Zellen um. Auch Jänisch räumt sein Labor um. Mäuse hält er schon länger, aber mit einem Mal ist ihre Haut besonders wichtig. Er setzt sich mit Ärzten in Verbindung, um Hautproben von Patienten zu bekommen. Die Adressen von Fertilitätskliniken und Stammzellbanken, seinen bisherigen Kooperationspartnern, rücken in den Hintergrund.

Trotzdem betont Jänisch: „Embryonale Stammzellen sind weiterhin sehr wichtig.“ Sie dienen als Referenz für die iPS-Linien. Nur mit diesem Goldstandard kann man abgleichen, ob man überhaupt pluripotente Alleskönner erzeugt hat. Jänisch hat auch andere Gründe, das zu betonen: Er lehnt es rundweg ab, die Stammzellforschung aus ethischen oder religiösen Gründen zu beschneiden. „Diesen Unsinn, den man da in Deutschland gemacht hat, hab ich nie verstanden.“ Jänisch kehrte Deutschland nach seiner Zeit am Münchner Max-Planck-Institut für Biochemie den Rücken, und er hat – nach einem Abstecher ans Hamburger Heinrich-Pette-Institut – derzeit keine Rückkehrpläne. Dennoch will er den deutschen Moralaposteln, wie er sie sieht, mit den iPS-Zellen keine Steilvorlage liefern, die embryonalen Stammzellen strenger zu regulieren. „Das wäre fatal“, meint er. Die iPS-Forscher preschen voran. Die Nachteile von Yamanakas Verjüngungsmethode sind bald ausgeräumt: Der Japaner braucht vier Gene, darunter das krebserzeugende c-myc. Der Genetiker James Thomson vom Genom-Zentrum in Wisconsin, Madison, führt den molekularen Reset bald ohne das gefährliche c-myc aus. Es ist sogar nur ein einziges Gen, Oct4, nötig. Mit diesem Erfolg triumphiert Stammzellforscher Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster. Oct4 verleiht den Zellen ihre Alleskönner-Eigenschaft, beweist er im Februar 2009.

DIE KREBSGEFAHR VERRINGERN

Damit bleibt nur noch ein Sorgenkind: Yamanaka nutzt Retroviren, um die Gene in das Erbgut der Hautzellen einzuschleusen. Die Viren fügen dabei stets eigene Gen-Fragmente ein, die zu Krebs führen können. „Das ist nicht akzeptabel“, urteilt Jänisch. In der Vergangenheit wucherten deshalb bei etlichen Probanden nach einer Gen-Therapie Tumoren. Im März 2009 meldet sich James Thomson erneut zu Wort. Er verzichtet für den Gen-Transfer erstmals auf Viren und verwendet nackte ringförmige DNA, ein sogenanntes Plasmid. Plasmide bergen keine Krebsgefahr, integrieren sich allerdings auch nicht wie Viren ins Genom. Im Laufe der Zelltei- lung werden sie aus dem Erbgut wieder hinausgeworfen.

Nur wenige Wochen nach dem Vorstoß von Thomson setzt Schölers Gruppe nach: Ihr glückt die Reprogrammierung von Hautzellen der Maus ganz ohne gentechnischen Eingriff – nur mit Proteinen. Eine Sensation. Ein Cocktail verschiedener Eiweißstoffe und ein kleines chemisches Molekül, die Valproinsäure, bringen die Gene in den Alleskönner-Zustand. Aus alt wird jung. Diese neue biochemische Methode sei einfacher und sicherer als alle bisher bekannten Verfahren, schwärmt Schöler. Er tauft die Zellen „ Protein-induzierte pluripotente Stammzellen“, kurz: piPS, und grenzt sie damit von den iPS ab. „Chemikalie und Proteine, das funktioniert, ist aber meist nicht so effizient“, kommentiert Jänisch unverblümt. Nur eine Handvoll unter Zehntausenden Zellen lässt sich auf diese Weise reprogrammieren. Am effizientesten bleibt Yamanakas Technik mit vier Genen in einem Retrovirus. Damit kann man eine von 100 Zellen erfolgreich in den Embryonalzustand katapultieren. Jänisch verfolgt deshalb diese Strategie weiter und verfeinert sie. Er designt ein verändertes Virus als Gen-Fähre. Nachdem es seine genetische Fracht im Erbgut der Hautzellen abgeladen hat, kann diese mit einem Enzym wieder vollständig herausgeschnitten werden. Die eingeschleusten Gene werden also entfernt, nachdem sie die Uhr der Zellen erfolgreich zurückgedreht haben. Jänisch ist selbstsicher: „Da weiß man genau, was man macht. Das ist schon besser.“

NERVENZELLEN AUS DER RETORTE

Im März vergangenen Jahres reprogrammiert er mit dieser neuartigen Methode die Hautzellen von fünf Parkinson-Patienten. Mehrere Monate dauert die Sisyphusarbeit, bei der die Zellen teils von Hand unter dem Mikroskop ausgelesen werden. Frappierenderweise bleiben die verjüngten Zellen tatsächlich im Urzustand, nachdem man ihrem Erbgut die vier Gene wieder entrissen hat. Jänisch geht noch einen Schritt weiter. Er wandelt die bereinigten iPS-Zellen in dopaminerge Neuronen um, jene Nervenzellen, die bei Parkinson-Patienten degeneriert sind. Damit stellt er – als einer der ersten Forscher weltweit – patientenspezifische Zellen aus Haut her. Wieder eine Sensation.

Die dopaminergen Neuronen sind vollkommen gesund, berichtet Jänisch nüchtern. Eigentlich müsste er jubeln. Denn die patientenspezifischen gesunden Neuronen könnte er nun ins Gehirn von Patienten einpflanzen. Vielleicht würde das ihr Leid, das Zittern und die unkoordinierten Bewegungen, mildern. Es könnte der lang ersehnte Durchbruch werden. Aber Jänisch winkt ab: „ Nein! Die Zelltherapie ist zu weit weg. Da sollte man sich keine Hoffnung machen.“ Das Gehirn ist ein so komplexes, über Jahre gereiftes Organ, dass es Jänisch fraglich erscheint, ob ein paar gesunde Neuronen sich richtig integrieren, in nur kurzer Zeit eine Funktion erfüllen und das kränkelnde Hirn wirklich kurieren können.

Jänisch wünscht sich seine aus Patientenhaut gewonnenen Nervenzellen sogar krank. Sein Team traktiert die dopaminergen Neuronen gegenwärtig mit allerlei Stress, damit sie endlich ähnliche Defekte entwickeln wie im Gehirn der Patienten nach vielen Jahrzehnten. „Dann kann man die Krankheit in der Petrischale studieren“, so das erklärte Ziel. Die Nervenzellen von Parkinson-Kranken kann man zu Lebzeiten nicht entnehmen und daher auch nicht im Labor untersuchen. Und die Pharmaindustrie hat kein Zellkulturmodell, um potenzielle Medikamente zu testen. Genau diese Lücke will Jänisch schließen: „Wenn wir aus den iPS-Zellen ein krankheitsspezifisches Zellmodell machen können, dann ist das der erste Schritt zu einem Therapeutikum.“

STAMMZELLEN FÜR WIRKSTOFF-TESTS

Da ist es wieder, das Überraschungsmoment. Welch eine Wende in der Stammzellforschung: Die patientenspezifischen Zellen sollen gar nicht unmittelbar dem Patienten zugute kommen, sondern erst einmal der Pharmaindustrie, die daran ihre neuen Wirkstoffe testen kann. Erst wenn sich die Zellen mit einer Arznei erholen, bekommt sie auch der Patient. Stammzellen sollen also nicht mehr heilen. Sie sollen helfen, neue Medikamente aufzuspüren.

Jänisch ist nicht der Einzige, der mithilfe der Stammzellen die Medikamenten-Entwicklung beschleunigen will. „Menschliche embryonale Stammzellen in der Wirkstoffforschung sowie in der Pharmakologie und Toxikologie gewinnen zunehmend an Bedeutung“, schreibt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften im zweiten Gentechnologiebericht vom November 2009. „Diese Anwendung steht zurzeit im Vordergrund“, heißt es weiter. In der Tat sind große Pharmaunternehmen, die sich für die stammzellenbasierte Zelltherapie nie besonders interessierten, bei der neuen Entwicklung eingestiegen. Roche, AstraZeneca und GlaxoSmithKline versuchen, Leberzellen, Herzzellen und Nervenzellen aus Stammzellen zu differenzieren – noch aus embryonalen Stammzellen. Aber der Weg ist vorgezeichnet. Künftig werden iPS-Zellen aus der Haut die Quelle sein.

Obwohl die Forscher damit einen ungeahnten Haken geschlagen haben, bleiben regenerative Zelltherapien ein verlockendes fernes Ziel. Im Januar 2009 bekam das kalifornische Unternehmen Geron nach Jahren des Ringens mit der Zulassungsbehörde FDA freie Bahn für die weltweit erste klinische Studie mit embryonalen Stammzellen. Daraus gezüchtete Nervenzellen sollten an die Stelle des verwundeten Rückenmarks von Unfallopfern gespritzt werden. Doch im August stoppte die Arzneimittelbehörde den Versuch, bevor er begonnen hatte: Bei behandelten Tieren hatten sich plötzlich Zysten, abgekapselte Wasseransammlungen, an der Einstichstelle gebildet.

Geron will Ende 2010 einen neuen Anlauf nehmen. Doch die jahrelangen Verzögerungen dämpfen die Hoffnung. Was die regenerativen Therapien angeht, herrscht ohnehin Ernüchterung. Nicht nur die embryonalen, auch die adulten Stammzellen haben die Erwartungen nicht erfüllt. Stammzellen aus dem Knochenmark werden zwar schon seit vier Jahrzehnten gegen Blutkrebs und angeborene Immunerkrankungen erfolgreich eingesetzt. Nach einer Chemotherapie retten sie jedes Jahr Tausenden von Menschen das Leben. „Abseits davon ist die Therapie noch im klinisch angewandten Experimentalstadium“, gesteht Andreas Zeiher vom Universitätsklinikum Frankfurt. Diabetes, Schlaganfälle, Nervenleiden oder Muskelschwund können die Zellen aus dem Knochenmark nicht kurieren.

Zeiher hat eine der größten klinischen Studien mit den adulten Multitalenten geleitet. 200 Herzinfarkt-Patienten wurde Knochenmark aus dem Beckenkamm entnommen. Wenige Tage später wurde der daraus gewonnene Sud mit 200 Millionen Stammzellen in ihre Herzkranzgefäße gespritzt. Tatsächlich verbesserte sich die Pumpfunktion des Herzens im Schnitt um drei bis fünf Prozentpunkte. „Der therapeutische Effekt ist ähnlich groß wie bei herkömmlichen Therapien“, frohlockt Zeiher.

SIE WIRKEN NUR INDIREKT

Der erhoffte Durchbruch ist das trotzdem nicht. Denn die Stammzellen tun nicht das, was sie sollen. „Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass sich die Stammzellen in Herzmuskelzellen umwandeln. Dafür gibt es beim Menschen keine Hinweise“, räumt Zeiher ein. Jahrelang herrschte hierüber erbitterter Streit zwischen den Erforschern der adulten und der embryonalen Stammzellen. Letztere waren überzeugt: Knochenmark-Stammzellen von Erwachsenen können prinzipiell kein Herzgewebe bilden. Sie warfen den Forschern der Gegenseite vor, Heilungseffekte zu proklamieren, die sie nicht erklären könnten. Nun ist klar, dass die Zellen nur indirekt die Zellerneuerung ankurbeln. Sie setzen Wachstums- und Schutzfaktoren frei, die die körpereigene Reparatur begünstigen und das Absterben der Zellen verhindern. In geringem Umfang bilden sich neue Gefäße – jedoch nicht aus den verabreichten Stammzellen.

Diese Erkenntnis aus der Kardiologie deckt sich mehr und mehr mit den Erfahrungen bei anderen Therapieansätzen, etwa von der Nervenerkrankung Multiple Sklerose, von Morbus Alzheimer oder Diabetes. Mehr als 2600 klinische Studien, meist mit Stammzellen aus dem Knochenmark, sind weltweit registriert. Aber diese Zellen können im Körper nur das leisten, wozu sie von Natur aus vorgesehen sind: das blutbildende System erneuern, sich beispielsweise in rote und weiße Blutkörperchen verwandeln. Sie wachsen nicht von selbst zu Nerven oder Drüsengewebe heran. Das gelingt ansatzweise nur in der Petrischale mithilfe spezieller biochemischer Cocktails. Der positive Effekt der bisherigen Zelltherapien ist deshalb nur indirekter Natur und weitaus kleiner als erhofft. Auf der Suche nach einem Weg aus dem Dilemma spalten sich die Stammzellforscher in zwei Gruppen auf: Die einen hoffen darauf, Gewebe von Herz, Leber oder Pankreas in der Kulturschale mit Spezialcocktails derart vollendet zu züchten, dass es nur noch implantiert werden muss. Die anderen, zu denen auch Zeiher gehört, versuchen die adulten Stammzellen zu tunen, damit diese ihre Heilkraft besser entfalten. Gemeinsam mit dem Pharmaunternehmen Sanofi Aventis wird der Frankfurter Kardiologe demnächst ein kleines Molekül, eine sogenannte endotheliale NO-Synthase, in einer klinischen Studie testen. Die Substanz soll die Stammzellen dazu bewegen, sich doch in Herzmuskelzellen umzuwandeln, sich fester ans Herz zu heften und mehr Schutzfaktoren freizusetzen.

STÜCKWEISE VERJÜNGUNG

Adulte Stammzellen müssen potenter werden, damit sie deutlichere Heilungserfolge erbringen, stellt Zeiher klar. „Wir werden mit teilreprogrammierten Zellen arbeiten“, prognostiziert er. Die stückweise Verjüngung wird ihre Verwandlungskünste erweitern und so ihr therapeutisches Potenzial ausbauen. Dass man jede adulte Stammzelle in den Embryonalzustand befördern kann, hat Jänischs Team 2009 bereits gezeigt. Doch für die Therapie eignen sich diese Zellen nicht unmittelbar: Die vollständig reprogrammierten iPS verursachen genau wie die embryonalen Stammzellen Krebs im Körper. Sie dürfen nicht injiziert werden.

Die Forschung über Stammzellen aus Nabelschnurblut steht vor einem ähnlichen Wendepunkt. Klinische Studien sind hier zwar noch rar, aber es zeichnet sich ab, dass die Zellen sich im menschlichen Körper nicht in das Zielgewebe umwandeln, obwohl sie jünger sind. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, angeborenen Hirnschäden und Rückenmarkverletzungen sowie bei Knochen- und Knorpeldefekten wird derzeit ihr regenerierendes Potenzial ausgelotet. Vielleicht ließe sich die mangelnde Wandlungsfähigkeit wie bei adulten Zellen mit einer Teil-Reprogrammierung beheben. Zumindest kann man Nabelschnurblutzellen genauso wie Haut in pluripotente Zellen verjüngen, fanden Forscher der Medizinischen Hochschule Hannover 2009. Eine andere Option ist das „Tissue Engineering“, das Erzeugen von Gewebe- und von Organersatz mit einem ausgeklügelten Substanzcocktail im Labor. Herzchirurg Ralf Sodian vom Universitätsklinikum München forscht daran: Er lässt in Glasgefäßen Herzklappen aus den Zellen der Nabelschnur gedeihen. Jede Woche kommen Kleinkinder und Jugendliche in die Klinik, deren Herzklappen wegen eines angeborenen Fehlers nicht richtig arbeiten. Sie bekommen eine Prothese, also eine künstliche Herzklappe, oder ein Transplantat aus Gewebespenden. Diese Ersatzklappen müssen allerdings ständig gewechselt werden, weil die Herzen mit den Kindern wachsen. Zwei bis vier Eingriffe im Laufe der Kindheit sind keine Seltenheit. Doch die werden von Mal zu Mal riskanter. „Das entstehende Narbengewebe ist hart, wie in Beton gegossen“, sagt Ralf Sodian. „Man muss es erst lösen, sonst besteht die Gefahr, dass es zu lebensbedrohlichen starken Blutungen kommt.“

Der 41-Jährige will eine mitwachsende Herzklappe entwickeln, um Kindern und Eltern die wiederholten Torturen zu ersparen. Das Implantat möchte er aus den Zellen der Nabelschnur züchten. Aus gutem Grund: Den Herzfehler eines Ungeborenen kann man schon im Ultraschallbild erkennen. Von solchen Kindern könnte man bei der Geburt das Nabelschnurblut aufbewahren, um daraus später eine Prothese zu ziehen.

HERZMODELL AUS GLAS

Den Bioreaktor für die Züchtung des Gewebeersatzes hat Sodian schon aufgebaut. Der unscheinbare Apparat aus zwei Glaskolben summt leise. Eine rote Flüssigkeit wird hindurch gepumpt. In einem der Kolben hängt ein 1-Euro-Stück-großes Kunststoffgeflecht aus Polyhydroxyalkanoat. Darauf sitzen die Zellen, die sich im zirkulierenden Nährstoffstrom teilen und wachsen. Wenn Sodian ein bis zwei Wochen später das weiße Gewebestück aus dem Sud nimmt, fühlt es sich wachsartig an. Das biologisch abbaubare Kunststoffgerüst beginnt sich aufzulösen. Zufrieden ist Sodian allerdings nur, wenn das Implantat gleichmäßig von Zellen durchwachsen ist, die einen normalen Stoffwechsel aufweisen. Obwohl er bereits viele Dutzend Klappen gezüchtet hat, gelingt das nicht immer. Warum, weiß Sodian leider noch nicht genau.

Derzeit bereitet der Oberarzt Versuche an Schafen vor, um die künstlichen Klappen an deren Herzen zu testen. Sodian ist zurückhaltend, was den Erfolg anbelangt: „Ich würde nicht aus allen Wolken fallen, wenn es nur teilweise funktioniert.“ Tagaus, tagein operiert er am Herzen und spürt, welche Kräfte auf dem Organ lasten, mit welchem Druck das Blut in die Kammern und Vorhöfe schießt. Eine Klappe aus der Retorte muss dem standhalten, nicht nur einmal, sondern 80 bis 100 Mal in der Minute, 24 Stunden am Tag. „Wenn das nicht funktioniert, kann man nicht überleben“, unterstreicht Sodian die Tragweite. Frühestens in fünf bis sieben Jahren rechnet er mit ersten Tests an Patienten. Von der Vision nachwachsender Organe und Gewebe ist die Stammzellforschung nach wie vor weit entfernt.

Die Anhänger der adulten Stammzellen wie auch die Verfechter der Nabelschnur-Methode müssen ihre Zellen vor allem jünger und potenter machen, damit diese ihr Erneuerungspotenzial steigern. Die embryonalen und die reprogrammierten Stammzellen sind dagegen allzu jugendlich: Sie können zu viel – und deshalb auch Krebs verursachen. Sie müssen erst entwickelt, also ein Stück weit ins Leben geholt werden, bevor sie sich nutzen lassen. Irgendwo zwischen der Stunde Null und dem Leben werden sich womöglich alle Stammzellforscher treffen. Damit hatte noch vor ein paar Jahren niemand gerechnet. Die Annäherung versöhnt ein wenig die Lager, die sich einst bekriegten. Auf die Frage, welche Zellen das Rennen machen werden, die embryonalen, die reprogrammierten, die fötalen aus der Nabelschnur oder die adulten, reagieren Zeiher und Jänisch heute ähnlich selbstkritisch. „Da ist etwas schief gelaufen. Dass wir aufeinander herumgehackt haben, hat niemandem geholfen, sondern dem ganzen Feld geschadet“, findet Zeiher.

FRIEDENSSCHlUSS DER FORSCHER?

Einen kleinen Seitenhieb auf die embryonal orientierten Forscher kann er trotzdem nicht lassen. Er hätte größte Bedenken, diese Zellen in ein Infarktgebiet zu spritzen – wegen der Krebsgefahr. Jänisch schießt bei der Frage über seine üblicherweise knappen Antworten hinaus: „Die Einteilung in embryonal und adult finde ich völlig unsinnig! Wenn man das Potenzial der embryonalen Stammzellen ausschöpfen will, muss man wissen, wie man daraus adulte macht und umgekehrt.“ Die Zellen der Nabelschnur habe er nur deshalb nicht erwähnt, streut er ein, weil er ihnen keine Bedeutung beimesse. Der Friedensprozess ist eben auch unter Forschern ein langer Weg. Bei den Stammzellen ist er überhaupt nur in Gang gekommen, weil ein Chirurg aus Japan wagemutig gegen den Strom schwamm – und Haut in einen Alleskönner verwandelte. ■

SUSANNE DONNER befasst sich häufig mit der Stammzellforschung. Ihr Büro heißt deshalb unter Kollegen scherzhaft „die Stammzelle“ .

von Susanne Donner

Ohne Titel

Meilensteine der Stammzellforschung

1961: Die kanadischen Wissenschaftler James Till und Ernest McCullough identifizieren blutbildende Stammzellen in Knochenmark-Transplantaten.

1962: Robert G. Edwards kultiviert in England erstmals embryonale Stammzellen aus Kaninchen-Embryonen im Labor.

1969: Erste Versuche der In-vitro-Befruchtung (IVF) mit menschlichen Keimzellen.

25. Juli 1978: Louise Brown, das erste Retortenbaby, wird geboren. An ihrer Zeugung mitbeteiligt sind Edwards und der Chirurg Patrick Steptoe.

1984: Erste Versuche, menschliche embryonale Stammzell-Linien zu erzeugen.

5. Juli 1996: Das Schaf Dolly, das erste geklonte Säugetier, wird geboren. Die Klontechnik soll dem Gewinnen von Stammzellen für die Therapie (therapeutisches Klonen) den Weg bereiten.

November 1998: Die erfolgreiche Kultivierung embryonaler Stammzellen aus menschlichen Embryonen gelingt dem Forscher-Duo James Thomson (USA) und Joseph Itskovitz-Eldor (Israel) sowie unabhängig davon dem US-Forscher John Gearhart.

April 2000: Die Australier Martin Pera und Alan Trounson zeigen, dass sich menschliche embryonale Stammzell-Linien im Labor aus überzähligen Embryonen per In-vitro-Befruchtung gewinnen lassen.

8. Januar 2002: Der aus Schweden stammende Neurowissenschaftler Ole Isacson (Harvard Medical School in Boston) demonstriert, dass sich embryonale Stammzellen im Hirn von Ratten in dopaminbildende Neuronen umwandeln und so Parkinson-Symptome lindern können. Das ist ein erster Meilenstein auf dem Weg zur Therapie.

12. März 2004: Der südkoreanische Forscher Woo Suk Hwang will erstmals menschliche Klon-Embryonen erzeugt und aus ihnen patientenspezifische embryonale Stammzellen gewonnen haben.

12. Januar 2006: Das Fachblatt Science zieht Hwangs Publikationen zurück, die sich als gefälscht herausgestellt haben.

29. März 2006: Die Göttinger Gerd Hasenfuß und Wolfgang Engel beschreiben Stammzellen aus Hoden, die sich genauso wie embryonale Stammzellen verhalten.

1. Juni 2006: Der Mediziner Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto versetzt Zellen aus Mäusehaut in den Embryonalzustand und schafft damit die induzierten pluripotenten Stammzellen, iPS.

7. Januar 2007: US-Forscher Anthony Atala berichtet über hochpotente neue Stammzellen im Fruchtwasser.

30. November 2007: Die Japaner Shinya Yamanaka and Kazutoshi Takahashi verwandeln menschliche Hautzellen in embryonalähnliche Stammzellen. Embryonen werden für diese Reprogrammierung nicht gebraucht.

23. April 2009: Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster reprogrammiert Zellen der Haut mit einem Proteincocktail und erfindet damit die piPS, Protein-induzierte pluripotente Stammzellen.

Juli 2009: Chinesische Forscher stellen Xiao-Xiao vor: die erste Maus, die aus einer reprogrammierten Hautzelle entstanden ist. Wenige Wochen nach ihrer Geburt pflanzt sie sich erfolgreich fort.

MEHR ZUM THEMA

LESEN

Gerd Kempermann NEUE ZELLEN BRAUCHT DER MENSCH Die Stammzellforschung und die Revolution der Medizin Piper, München 2008, € 18,–

Kompakt

· Im Labor hat die Stammzellforschung viel erreicht: Aus den Hautzellen eines Menschen entstehen Nervenzellen, aus den Hautzellen einer Maus ganze Mäuse.

· Doch die Hoffnung, implantierbare Gewebe oder ganze Organe aus Stammzellen zu züchten, hat sich – bis auf die Ausnahme der Blutzellen – bisher als Illusion erwiesen.

· Ein neuer Weg zeigt sich in der Pharmaforschung: Medikamente sollen künftig an Kulturen aus Patientenzellen getestet werden.

VORSICHT, Unseriöse Therapien!

Es ist ein ausgesprochen teures Unterfangen: Bis zu 26 000 Euro nimmt die Privatklinik X-Cell Center mit Sitz in Düsseldorf und Köln für eine Stammzellkur gegen Parkinson. Bezahlt wird im Voraus. Die Zellen aus dem Knochenmark werden angeblich ins Nervenwasser gespritzt oder direkt ins Gehirn eingepflanzt. Mit einer ähnlichen Therapie verspricht das Unternehmen, das Nervenleiden Multiple Sklerose, Rückenmarkverletzungen oder Diabetes zu lindern.

Der Parkinson-Patient Johannes Wolf ist ein Aushängeschild der Klinik. Nach einer Therapie im Jahr 2007 gehe es ihm viel besser. Er fahre inzwischen sogar eine Harley Davidson und komme weitgehend ohne Medikamente aus, berichtet der 74-Jährige. Im Oktober 2009 bretterte er mit seinem Zweirad auf der Landstraße von Saarbrücken bis nach Straßburg und wieder zurück. Als Petra Aschenbeck, ebenfalls Parkinson-Patientin, auf der Klinik-Homepage von Wolfs Genesung liest, wächst ihre Hoffnung. Sie lässt sich im X-Cell Center therapieren. Die 7545 Euro für die Behandlung kratzt sie zusammen, denn die gesetzliche Krankenkasse zahlt nichts. Doch ihr Zustand verschlechtert sich nach dem Eingriff, wie sie auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie im September 2009 in Nürnberg berichtet.

So oder so belegen Einzelfälle weder die Wirksamkeit noch die Unwirksamkeit einer Therapie. Dafür bedarf es wissenschaftlicher Studien. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie sowie die Deutsche Parkinson-Gesellschaft laufen deshalb Sturm gegen die „ dubiosen Angebote“ des X-Cell Center. „Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit, keinen wissenschaftlichen Nachweis der Sicherheit und Verträglichkeit, und es gibt keine wissenschaftlich begründete Abwägung von Nutzen und Risiken“, wettert der Parkinson-Experte Wolfgang Oertel aus Marburg. Er fordert, derartigen Behandlungsangeboten einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben.

Derzeit braucht das Unternehmen Nutzen und Unbedenklichkeit seiner Therapien nicht zu belegen. Eine Lücke im Arzneimittelgesetz macht die ungewöhnlich lax kontrollierten Heilversuche möglich. Erst ab 2012 muss das X-Cell Center aufgrund einer europäischen Regelung nachweisen, dass seine Therapien verträglich und wirksam sind.

DREI ARTEN VON STAMMZELLEN

Der klassische – und ethisch umstrittene – Weg zu menschlichen Stammzellen führt über Embryonen im Bläschenstadium (Blastozysten), die bei der Retortenzeugung übrig bleiben: Aus deren innerer Zellschicht gewinnt man embryonale Stammzellen (a) und vermehrt sie in Zellkulturen weiter. Man erzeugt dabei sogenannte Stammzell-Linien. In der Mitte (b) ist der neue Weg der Reprogrammierung skizziert: Aus gewöhnlichen Hautzellen von Erwachsenen lassen sich durch Einschleusen bestimmter Gene oder Proteine pluripotente Stammzellen gewinnen, die den embryonalen sehr ähnlich sind und sich in verschiedene Gewebe weiterentwickeln können. Adulte Stammzellen finden sich in bestimmten Nischen des menschlichen Körpers, hier (c) am Beispiel von Muskelstammzellen gezeigt. Sie sind teilungsfreudig, aber nicht mehr pluripotent, sondern auf die Bildung bestimmter Gewebe (hier: Muskelzellen) spezialisiert. Sie im Labor zu kultivieren, ist nicht einfach. Forscher wollen sie deshalb teilweise reprogrammieren.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Kir|chen|burg  〈f. 20; MA〉 = Wehrkirche

fre|quent  〈Adj.; –er, am –es|ten〉 1 〈geh.〉 1.1 häufig  1.2 zahlreich … mehr

An|ti|rheu|ma|ti|kum  〈n.; –s, –ti|ka; Pharm.〉 Mittel gegen Rheumatismus

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige