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Der lange Kampf gegen Kinderlähmung

Gesundheit|Medizin

Der lange Kampf gegen Kinderlähmung
Die Polio-Erreger breiten sich wieder aus. Impfungen sollen die Viren aus ihren Rückzugsgebieten vertreiben.

Daran erinnert sie sich noch nach Jahrzehnten: das Gesicht ihrer Mutter hinter der Glasscheibe des Isolierzimmers. Sechs Wochen, sagt Karola Rengis, musste sie in Quarantäne bleiben, und ein Dreivierteljahr dauerte es, bis sie das Krankenhaus auf Krücken verlassen durfte. Das war im August 1953. Karola Rengis, damals zweieinhalb Jahre alt, gehörte zu den über 4000 Menschen, die in Deutschland in den 1950ern pro Jahr an Polio, der Kinderlähmung, erkrankten. Mit aller Willenskraft lernte das Mädchen, ohne Gehstützen zu laufen. Was von der Polio-Infektion blieb, war nichts weiter als ein leichtes Hinken. „Das störte mich nicht”, erzählt die heute über 60-Jährige. Sie hat geheiratet, vier Kinder geboren und „ein gutes Leben” geführt. Bis zum Jahr 1990. Da bemerkte die damals etwa 40-Jährige, dass die Wegstrecken, die sie zurücklegen konnte, immer kürzer wurden. Muskeln und Gelenke schmerzten, das Atmen fiel ihr schwer, Schluck- und Sprechstörungen kamen hinzu, sie fühlte sich müde, schwach und krank. Nach einer zehnjährigen Odyssee von Arzt zu Arzt erhielt sie endlich eine Diagnose: „Post-Polio-Syndrom” – Spätfolgen der Infektion mit dem tückischen Polio-Virus.

Auch Deutschland ist bedroht

Bei uns ist die einst gefürchtete Kinderlähmung nahezu vergessen, selbst bei Ärzten. Auch an die Impfkampagnen, die das Polio-Virus in den 1960er-Jahren so erfolgreich zurückdrängten, erinnern sich nur noch wenige. Nur der Slogan „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam” ist so manchem im Gedächtnis geblieben.

Das Polio-Virus hat Karola Rengis Jahrzehnte nach der Infektion zurück in den Rollstuhl gezwungen. Sie muss jetzt viele Behandlungen über sich ergehen lassen, damit ihre Muskelkraft nicht weiter rapide schwindet, und sie wünscht sich, dass die Kinderlähmung in Deutschland nicht wieder auftaucht. Doch genau damit rechnen die Experten. Denn das Virus, das schon fast aus der Welt geschafft war, hat sich wieder auf den Weg gemacht. Im Dezember des Jahres 2012 tauchten in Ägypten bei Routineuntersuchungen des Abwassers Polio-Viren in zwei verschiedenen Proben auf. Im Februar 2013 kam es zu Infektionen in Israel und in den Sommermonaten des vergangenen Jahres zu schweren Polio-Ausbrüchen in Somalia, Äthiopien, Kenia, Kamerun und im Südsudan, im Oktober in Syrien. Diese Länder galten schon lange als poliofrei. Molekularbiologische Analysen zeigten, dass die Viren allesamt importiert waren. Sie stammten aus den weltweit letzten Schlupfwinkeln der Erreger: Afghanistan, Pakistan und Nigeria.

„Solange Polio-Viren irgendwo auf der Welt existieren, können sie jederzeit in poliofreie Länder gelangen und dort schwere Ausbrüche von Kinderlähmung verursachen”, warnten die renommierten Virologen Trevor Mundel und Walter Orenstein im November 2013 in der Fachzeitschrift „The New England Journal of Medicine”. Reisende könnten das Virus auch mitten nach Europa bringen, bekräftigt der deutsche Virologe Martin Eichner von der Universität Tübingen in der Zeitschrift „Lancet”. Und Reinhard Burger, Präsident des Robert Koch-Instituts in Berlin, bestätigt: „Europa ist vor einer Wiedereinschleppung von Poliowildviren nicht geschützt.”

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Anfang Mai 2014 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Ausbreitung des Polio-Virus zu einer „gesundheitlichen Notlage mit internationaler Tragweite”. Sie berichtete von 417 Polio-Fällen im Jahr 2013. In diesem Jahr waren es Ende April bereits 68 Fälle. Die WHO rät jedem, der sich länger als vier Wochen in einem von Polio betroffenen Land aufhält, zu einer Auffrischung der Impfung. Ohne die konsequente Weiterführung der derzeitigen Impfprogramme gäbe es weltweit bald wieder 200 000 Polio-Erkrankungen jährlich, rechnen die Wissenschaftler Kimberley Thompson und Radboud Tebbens von der Harvard School of Public Health in Boston in einem mathematisches Modell vor.

Vorbild: Ausrottung der Pocken

Eine poliofreie Welt ist das Ziel des Impfprogramms der „ Global Polio Eradication Initiative” (GPEI), einer Kooperation der WHO mit der Serviceorganisation Rotary International, den amerikanischen „Centers for Disease Control and Prevention” (CDC) und dem Kinderhilfswerk Unicef (siehe Kasten S. 14 „Für eine Welt ohne Kinderlähmung”). Das Programm startete 1988. Damals war das Polio-Virus in 125 Ländern der Welt heimisch, und es kam alljährlich zu 350 000 Lähmungen durch Polio, hauptsächlich bei kleinen Kindern. Durch das Impfprogramm konnte die Zahl der Polio-Fälle weltweit um mehr als 99 Prozent gesenkt werden. Die vollständige Eliminierung des Polio-Virus, die „Eradikation”, schien nur noch einen Schritt weit entfernt.

Vorbild des Programms ist die Ausrottung der Pocken: Nach einer nur zehnjährigen globalen Impfaktion und dem Einsatz von 100 Millionen Dollar erklärte die WHO die Pocken im Jahr 1979 als besiegt. Der Erreger der Kinderlähmung lässt sich jedoch nicht so leicht verdrängen. Immer wieder entzieht er sich den Impfstrategen und ihren ehrgeizigen Zeitplänen: Ursprünglich sollte das Polio-Virus schon seit dem Jahr 2000 aus der Welt verschwunden sein. Aber die gewählte Zielmarke der Jahrtausendwende wurde verfehlt und ist seitdem immer wieder verschoben worden.

Jetzt nennt der GPEI das Jahr 2018 als neuen Termin. Bis dahin sollen noch einmal rund 5,5 Milliarden Dollar investiert werden, um das Virus in seinen letzten Rückzugsgebieten aufzuspüren und endgültig auszurotten. Die Befürworter sprechen von einem „ programmatischen Notfall für die Weltgesundheit”, den es zu meistern gelte – eine nie mehr wiederkehrende Chance, alle Kinder weltweit und für immer vor Polio zu schützen. Kritiker halten dagegen, dass die Eliminierung von Polio ein reichlich unrealistisches Vorhaben sei. „Die Pocken waren quasi die ideale Erkrankung für eine Eradikation”, sagt Olaf Müller, Professor im Institut für Public Health, Abteilung Disease Control, der Universität Heidelberg. Doch mit der Kinderlähmung habe man sich die falsche Krankheit dafür ausgesucht.

Eines der Argumente, die Kritiker anführen, ist die Natur des Polio-Erregers selbst. Er tritt anders in Erscheinung als sein „ Vorbild”, der Erreger der Pocken. Gemeinsam ist beiden, dass sie zu den Viren, den kleinsten und gemeinsten aller Lebewesen, gehören. Viele Wissenschaftler bezweifeln gar, dass Viren zum Reich des Lebendigen gehören. Der Biologe und Nobelpreisträger Peter Medawar bezeichnete sie als einen „Packen schlechter Nachrichten, eingewickelt in Protein”.

Das Pocken-Virus entstellt jeden Menschen, den es befällt: Keine Pocken-Erkrankung bleibt unerkannt. Das Polio-Virus arbeitet dagegen subtil. Mit verschmutztem Wasser oder verunreinigter Nahrung schmuggeln sich die Erreger in den Körper der Menschen, dringen über die Zellen der Mundschleimhaut und der Speiseröhre bis in den Dünndarm vor und vermehren sich dort explosionsartig: Bis zu 10 Milliarden hoch ansteckende Viren können mit einem Gramm Stuhl ausgeschieden werden.

Die meisten Infizierten bemerken den Virusbefall nicht und werden zur Gefahr für Menschen, deren Immunsystem nicht ausreichend gegen die Viren gewappnet ist – allen voran Kinder. Nur bei wenigen Infizierten tritt die „paralytische Poliomyelitis” auf, die Infektion mit ihren typischen Lähmungserscheinungen. Auf jeden Gelähmten kommen 200 unerkannte Infizierte, die den Erreger weitergeben. Aus Sicht der Viren ist das eine überaus erfolgreiche Überlebensstrategie.

Politische Probleme erschweren Kampagnen

Zum Glück gibt es eine mächtige Waffe gegen die Viren: die Impfung. Der Polio-Impfstoff aber ist weniger effizient als der gegen Pocken. „Vom Pocken-Impfstoff reicht eine einzige Dosis”, erklärt Olaf Müller. Die Polio-Vakzine aber muss mehrfach verabreicht werden. Das macht es schwierig, eine hohe Durchimpfung zu erreichen, die erforderlich ist, um die Bevölkerung ausreichend zu schützen. Vor allem dann, wenn Menschen in abgelegenen Regionen wohnen, wenn sie Kriegswirren ausgesetzt sind oder in Flüchtlingslagern unter elenden Bedingungen leben.

Hinzu kommen politische Probleme in den von Polio betroffenen Ländern, die Impfaktionen erschweren. Dieses Gesamtpaket – und die nunmehr schon überlange Laufzeit des Impfprogramms von 25 Jahren – lässt Gesundheitsexperten wie Olaf Müller annehmen, dass eine Polio-Eradikation „extrem unwahrscheinlich ist”. Als die Impfteams in den 1960er-Jahren in Deutschland gegen die Kinderlähmung zu Felde zogen, war die Bundesrepublik das Land mit der höchsten Polio-Rate in Europa. Noch im Jahr 1961 gab es einen schweren Polio-Ausbruch mit 4600 Erkrankten, über 3300 Gelähmten und 272 Toten. Doch die Impfaktionen verliefen erfolgreich. Bereits Mitte der 1960er-Jahre hatte die Krankheit in Westdeutschland ihren Schrecken verloren, seit 1990 ist hierzulande kein einheimischer Fall von Poliomyelitis mehr aufgetreten, und die letzten importierten Fälle wurden 1992 erfasst.

Impfkampagnen in anderen Ländern verliefen ähnlich erfolgreich. Ein Land nach dem anderen meldete sich poliofrei. Selbst Indien, das lange zu den zähesten Virus-Reservoiren gehörte, hat seit Februar 2012 keinen Polio-Fall mehr gemeldet. In drei Ländern indes – Nigeria, Afghanistan und Pakistan – konnte die Virusübertragung bislang nicht gestoppt werden. Nun drang der Erreger von dort wieder in andere Regionen der Welt vor.

Mitte 2013 hat die WHO in Genf den neuen Strategieplan der GPEI gebilligt. Unter dem Titel „Endgame Strategic Plan 2013–2018″ sollen noch einmal alle Kräfte gebündelt werden. „Wir haben neue Erkenntnisse über die Polio-Viren, neue Technologien und neue Taktiken entwickelt”, sagt Margaret Chan, Generaldirektorin der WHO. Trotz der hohen Zahl der Neuerkrankungen ist sie optimistisch.

Zumal eine so finanzstarke Organisation wie die Bill und Melinda Gates-Stiftung den Kampf gegen Polio unterstützt. Die neue Strategie, heißt es auf der Homepage der Stiftung, setzt „ auf eine zielgerichtete datengestützte Planung, gut geschulte und motivierte Mitarbeiter, rigoroses Qualitätsmonitoring, effiziente Kommunikation, Zusammenarbeit mit zuverlässigen Anführern von Gemeinden und Religionsgemeinschaften sowie den politischen Willen auf allen Ebenen”.

Gerüchte um Gefahren durch Impfung, Impfverbote, ausgesprochen von religiösen Führern und Kriegsherren, Zutrittsverweigerungen zu von Polio betroffenen Gebieten – mit solchen Schwierigkeiten musste das Programm schon früher fertig werden, steht im aktuellen Bericht der GPEI vom Oktober 2013. In jüngster Zeit aber sind die Probleme in beispiellosen Ausmaß eskaliert: Sie reichen von Bedrohungen und Beschimpfungen bis hin zur gezielten Tötung von Impfhelfern. Impfaktionen mussten deshalb schon mehrfach zurückgefahren oder gar gestoppt werden. Kein anderes Gesundheitsprogramm, klagt die GPEI, habe jemals vor solch großen Herausforderungen gestanden.

Impfhelferinnen erschossen

In Nigeria, dem von allen drei Endemieländern am stärksten vom Polio-Virus heimgesuchten Land, kursieren Gerüchte, wonach die Polio-Impfungen eine Strategie des Westens seien, um die muslimische Bevölkerung unfruchtbar zu machen oder mit dem aidserzeugenden HI-Virus zu infizieren. Das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gipfelte wiederholt in massiver Gewalt. Im Februar 2013 erschoss die Terrorgruppe Boko Haram – die im April eine Schule im Nordosten Nigerias überfiel und 276 Schülerinnen verschleppte – 11 Impfhelferinnen in Kano, einer Stadt im islamisch geprägten Norden Nigerias, mitten im Zentrum der von Kinderlähmung am stärksten betroffenen Region. Etwas ähnliches geschah in Pakistan. Dort haben die Taliban, die die Impfbemühungen als internationale Spionage verteufeln, im Dezember 2012 neun Impfhelfer ermordet.

Es sind aber nicht allein Gerüchte und Mythen, mangelnde Aufklärung, Ignoranz und Verschwörungstheorien, warum das Polio-Programm immer wieder abgelehnt wird. Oft können die Menschen vor Ort nicht verstehen, warum sich ihre Regierungen auf eine Erkrankung wie Polio konzentrieren, wo doch viele andere Gesundheitsprobleme größer erscheinen und mehr Kindern das Leben kosten: Malaria beispielsweise, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten oder Masern.

Ohne das Vertrauen der Menschen aber müssen die Impfkampagnen scheitern – und seien die dafür eingesetzten Geldsummen noch so hoch. Inzwischen sprechen Forscher immer deutlicher über ein strategisches Umdenken. Nicht die vollständige Eliminierung des Erregers um jeden Preis, sondern seine effektive Kontrolle soll die Zielvorgabe sein. Die an Polio erkrankte Karola Rengis hält von solchen Plänen nichts: Wer von Kontrolle spreche, habe die „ Krankheit nie am eigenen Leibe gespürt”.

Gesundheitsexperten aus den betroffenen Ländern mahnen unterdessen zu mehr Bescheidenheit. Ihr Ziel ist, vor allem Vertrauen in der Bevölkerung zu schaffen. Die Impfkampagnen müssten sich stärker an die Gegebenheiten in den Ländern anpassen, fordern Wissenschaftler aus den Polio-Endemieländern Nigeria, Pakistan und Afghanistan.

Vor allem aber müsse man vermeiden, Polio als „einziges Gesundheitsproblem” zu präsentieren. Stattdessen gelte es, die Gesundheitssysteme der Länder zu stärken und die Polio-Impfung in die vorhandene Grundversorgung zu integrieren, um den Aktionen die Prominenz zu nehmen.

Auf diese vergleichsweise leise Weise – nicht per Zwangsverordnung, unter Polizeischutz oder mit Militärhilfe – kann Vertrauen wachsen: zwischen Bevölkerung und Regierung, zwischen Müttern, Vätern, Kindern und Impfhelfern. Um dieses Vertrauen aufzubauen, braucht es Zeit, keine neuen Terminvorgaben. Die Impfkampagnen, betonen die Gesundheitsexperten, sollen fortgesetzt und das Ziel der Eradikation weiter verfolgt werden – „aber ohne all die Fanfarenstöße”. •

bdw-Autorin Claudia Eberhard-Metzger war erschrocken, als sie erfuhr, wie viele Menschen in Deutschland an den Spätfolgen von Polio leiden. Die Fotos stammen von ZorAna Musikic, die 2011 den deutschen preis für wissenschaftsfotografie in der Kategorie Fotoreportage gewann.

Text von Claudia Eberhard-Metzger Fotos von Zorana Musikic

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♦ Ni|tril  〈n. 11〉 organ.–chem. Verbindung, die die Cyangruppe (—C≡N) an Alkyl– od. Arylreste gebunden enthält

♦ Die Buchstabenfolge ni|tr… kann in Fremdwörtern auch nit|r… getrennt werden.
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