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GEWONNENE MONATE

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

GEWONNENE MONATE
Annegret Kühn-Heinemann beklagt sich nicht und kämpft. Ihre persönlichen Waffen gegen den Krebs: Optimismus und Lebenskraft.

Der 30. Dezember 2010 ist ein trüber, nasskalter Tag. Zum Frühstück hat Annegret Kühn-Heinemann nur einen Becher Kaffee getrunken. Sie verabschiedet sich kurz von ihrer Schwester in Freiamt und macht sich mit dem Taxi auf den Weg in das etwa 30 Kilometer entfernte Freiburg im Breisgau. Um 11 Uhr sitzt die 69-Jährige bereits in einem schwarzen Ledersessel, die Beine auf einem Fußhocker mit einer warmen Decke bedeckt. Bis auf einen Ständer neben dem Sessel, an dem ein Infusionsbeutel baumelt, erinnert in dem geräumigen, hellen Raum in der Praxis für interdisziplinäre Onkologie und Hämatologie nichts an die bevorstehende Chemotherapie. Große Leinwandbilder an den weißen Wänden und Grünpflanzen in den Ecken vermitteln eine fast behagliche Atmosphäre.

Annegret Kühn-Heinemann hat fortgeschrittenen Darmkrebs. Das ist die zweithäufigste Krebserkrankung in Deutschland. Mit rund 73 000 Neuerkrankungen im Jahr 2010 rechnet das Berliner Robert-Koch-Institut. Als ihr die Ärzte an einem Dienstag Ende Juli 2008 die schlechte Nachricht überbringen, ist sie nicht schockiert. Ihre Mutter ist 1983 an Leberkrebs gestorben, die Schwester hatte zwei Jahre zuvor Brustkrebs, und sie selbst hat 2005 bereits erfolgreich Brustkrebs bekämpft. „Für mich war es selbstverständlich, dass ich Krebs bekommen habe“, sagt Kühn-Heinemann. Die Psychoonkologin Elke Reinert am Freiburger Tumorzentrum kennt auch andere Reaktionen: „Die meisten Menschen können die Diagnose Krebs zunächst gar nicht fassen. Etwa ein Drittel der Patienten entwickelt später depressive Symptome.“

UNERKLÄRLICHE DURCHFÄLLE

Annegret Kühn-Heinemann lebte zu dieser Zeit in Wilhelmshaven, ihrer Wahlheimat. Das ganze Jahr über hatte sie sich schon mit Durchfällen herumgeplagt. Der Hausarzt war ratlos und therapierte alles Mögliche. Zuletzt verschrieb er ihr Medikamente gegen eine Schilddrüsenüberfunktion. Als nichts half, schickte er seine Patientin ins örtliche Reinhard-Nieter-Krankenhaus. Im Blut der Frau fanden die Ärzte den Tumormarker CEA erhöht. Nach einer Darmspiegelung war alles klar: ein etwa pflaumengroßer Tumor, „in hübschem Rosa“, sagt Annegret Kühn-Heinemann, saß direkt am Darmausgang. Einzelne Krebszellen hatten sich bereits gelöst und waren über den Blutstrom in die rechte Leberhälfte gelangt, wo sie zu einer 1,7 Zentimeter großen Geschwulst herangewachsen waren.

Annegret Kühn-Heinemann will nicht wissen, wie gut ihre Heilungschancen stehen. Ihr einziger Gedanke: „Ich habe Brustkrebs geschafft, dann schaffe ich auch das.“ Doch als ihr die Krebsexperten eröffnen, dass sie für den Rest ihres Lebens mit einem künstlichen Darmausgang leben muss, zieht es ihr plötzlich den Boden unter den Füßen weg. Der Tumor muss heraus, weil er starke Schmerzen verursachen würde, sollte er weiterhin unkontrolliert wachsen. Um sicherzugehen, dass sie den kompletten Tumor erwischen, werden ihn die Chirurgen mit einem Sicherheitsbereich herausschneiden. Der Schließmuskel, der normalerweise den Stuhl zurückhält, wird dabei zwangsläufig verletzt. „Die meisten Patienten haben mit einem künstlichen Darmausgang auf Dauer Schwierigkeiten“, erklärt Psychoonkologin Reinert. Ein Stigma lastet auf ihnen, der Stuhlbeutel erinnert sie täglich an die Krebserkrankung, und auch die Sexualität ist beeinträchtigt.

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Zum ersten Mal in ihrem Leben ist die sonst so positiv denkende Annegret Kühn-Heinemann am Boden zerstört: Sie geht nach Hause und weint die ganze Nacht lang. Dann sagt sie sich: „Ich will gesund werden, also muss ich da jetzt durch.“ Sie nimmt in Kauf, dass die Therapie ihr noch mehr Durchfälle beschert, sodass sie ständig wund ist. Die Strahlentherapie nimmt zusammen mit einer Chemotherapie ihren Darmtumor ins Visier, damit die Chirurgen ihn in dem engen Becken besser herausoperieren können. Doch die Kombinationstherapie verkleinert den Tumor nicht. Den Ärzten bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, bei der Operation den kompletten Tumor zu erwischen. Der Eingriff findet am 5. November 2008 in der Helios-Klinik im badischen Müllheim statt. Annegret Kühn-Heinemanns Nichte arbeitet dort als Chirurgin. Die Patientin ist für den Eingriff vorübergehend von der Nordsee in den Schwarzwald gezogen, nach Freiamt zu ihrer Schwester. „Ich dachte, ich bin Ende Januar spätestens wieder zu Hause“, sagt sie. Es sollte ein Jahr werden.

DIE ANTIKÖRPER-THERAPIE

Zwei Tage vor dem Jahreswechsel 2008/ 2009 hängt sie zum ersten Mal am Infusionstropf in der onkologischen Praxis in Freiburg – und dann jede Woche. Die Metastase in der rechten Leber hat inzwischen die Größe einer Zwei-Euro-Münze. Die Ärzte wollen sie zusammenschrumpfen, bevor die Chirurgen sie herausoperieren. Gleichzeitig wollen sie noch unsichtbare Tumorherde vernichten. Über die Schlüsselbeinvene oberhalb der rechten Brust tröpfeln sie der Patientin nach und nach vier Medikamente ein: ein Mittel gegen Übelkeit, den Antikörper Cetuximab, der Wachstumssignale an Krebszellen abfangen soll, sowie die beiden Zellgifte Irinotecan und 5-Fluoruracil, die die Zellteilung hemmen. Insgesamt gelangen innerhalb von fünf Stunden fast zwei Liter Flüssigkeit in die Blutbahn von Annegret Kühn-Heinemann. Eine etwa 20 Zentimeter große Infusionspumpe am Bauch befördert in den nächsten 48 Stunden weitere 100 Milliliter des Zellgiftes 5-Fluoruracil in ihren Körper. Als sich fast zwei Wochen später die ersten Nebenwirkungen des Antikörpers bemerkbar machen, ist sie etwas überrascht. Hat sie die verdrängt? „Viele Patienten konzentrieren sich sehr auf die Therapie und wollen von den Nebenwirkungen gar nicht viel wissen“, sagt Kühn-Heinemanns Onkologe Matthias Zaiss aus Freiburg. „Andere wollen alles ganz genau wissen.“ Zunächst breiten sich akneähnliche juckende Pusteln auf der Nase von Annegret Kühn-Heinemann aus. Die Haut an den Finger- und Zehenspitzen wird trocken, so sehr, dass sie einreißt. Die offenen Stellen beginnen zu eitern und heilen nicht, trotz der Salben, die die Ärzte verschreiben. Sie schmerzen derart, dass Annegret Kühn-Heinemann den ganzen Winter über, selbst bei klirrender Kälte, ihre geplagten Füße in Sandalen steckt.

die Nebenwirkungen

So schlimm die Nebenwirkungen sind, die Ärzte hoffen, dass sie ein gutes Zeichen sind. In mehreren klinischen Studien hatte sich herausgestellt, dass bei Patienten mit starken Hautreaktionen der Tumor besonders gut auf die Antikörpertherapie mit Cetuximab ansprach. Und tatsächlich: Nachdem die Chirurgen im Mai 2009 die rechte Leberhälfte herausgeschnitten haben, sehen die Ärzte im Mikroskop, dass der Tumor in der Gewebeprobe fast vollständig zerfallen ist. „Ich dachte, der Tumor sei besiegt“, sagt Annegret Kühn-Heinemann. Sollte sie zu den etwa 30 Prozent Darmkrebspatienten gehören, die als geheilt gelten, nachdem Ärzte ihre Lebermetastase entfernt haben?

Im Oktober kehrt Annegret Kühn-Heinemann wieder nach Wilhelmshaven zurück – nach einem Jahr. Sie genießt das Ende der Therapie, trifft sich wieder mit ihrem französischen Gesprächskreis in der Volkshochschule, singt im Kirchenchor, engagiert sich im Kirchengemeinderat und dem kirchlichen Togo-Ghana-Kreis, der Projekte in Afrika unterhält. Mit dem künstlichen Darmausgang hat sie sich mittlerweile arrangiert. „ Fridolin“, wie sie ihn nennt, ist ein Teil von ihr geworden. Unter den weiten Pullovern, die sie trägt, fällt er kaum auf. Und beim Schwimmen kaschiert ein Neoprengürtel den Beutel und hält ihn an seinem Platz. Gut, sie musste sich angewöhnen, erst um 10 Uhr zu frühstücken und ihr Mittagessen nach 14 Uhr einzunehmen, damit sich der Darm erst ab 16 Uhr entleert. Das ist ihr wichtig, denn Annegret Kühn-Heinemann arbeitet als selbstständige Gästeführerin. Sie will weiterhin Fremde durch das Wilhelmshaven der Kaiserzeit führen oder durch die Salz- und Vogelwiesen des Wattenmeeres. Es fasziniert sie jedes Mal von Neuem, wie viel Salz Pflanzen vertragen können. Und sie liebt es, hinauszufahren ins Watt und die Zugvögel zu beobachten, die dort auf ihrer Reise in die Winterquartiere rasten.

DER KREBS KEHRT ZURÜCK

Sie schmiedet Reisepläne für 2010: Auf den Spuren des Reformators Thomas Müntzer in Thüringen will sie wandeln und eine Reise zum Nordkap unternehmen. Doch wieder schlägt ihr der Krebs ein Schnippchen. Anfang 2010 kehrt er zurück, mit Wucht: Er macht sich im Kreuz- und Steißbein breit, streut in beide Lungenflügel und befällt einige Bauchlymphknoten an der Hauptschlagader. „Dass der Tumor im Beckenbereich wiederkehrt, ist genau das, was die Strahlentherapie hätte verhindern sollen“, erklärt der Onkologe Matthias Zaiss. Wieder bekommt Annegret Kühn-Heinemann Chemotherapie, kombiniert mit einem Antikörper. Die Ärzte tauschen das Zellgift Irinotecan gegen Oxaliplatin aus, das ebenfalls die Zellteilung hemmt. Als das Medikament die Nerven in den Fingern angreift und ein taubes Gefühl verursacht, lassen es die Ärzte weg. Die Chemotherapie wird nur mit 5-Fluoruracil weitergeführt. Der Antikörper Bevacizumab soll verhindern, dass neue Blutgefäße aussprossen und die Tumore mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen.

EINE LANGE REISELISTE

Die Tumore lassen sich in Schach halten, verkleinern sich sogar. Es ist eine rein palliative Therapie, wie die Ärzte sagen. Das heißt: Annegret Kühn-Heinemann wird ihr Leben lang mit der Chemotherapie und den Tumoren leben müssen, denn entfernen lassen sie sich nicht mehr. Im schlimmsten Fall werden sie wuchern, auf die Nerven im Rückenmark drücken und sehr starke Schmerzen verursachen. Wie lange sie noch leben wird, lässt sich schwer sagen. Noch vor zehn Jahren hätten ihr die Ärzte nach der Diagnose maximal sieben bis zwölf Monate gegeben. Heute ist die mittlere Lebenserwartung etwa zwei Jahre. Es ist eine statistische Angabe, die nichts darüber aussagt, wie lange der Einzelne lebt. Annegret Kühn-Heinemann ist dafür der beste Beweis. „Obwohl der Tumor so aggressiv ist, lässt er sich erfreulich lange kontrollieren“, sagt ihr Onkologe.

Die Therapien, die sie bekommt, könnten ihr Leben um ein paar Monate, vielleicht auch um Jahre verlängern – es ist ein Strohhalm, nach dem sie greift. Sie ist sogar dankbar dafür, dass sie ein einigermaßen normales Leben führen kann, dass ihr nicht mehr so furchtbar übel wird, sie keine Haare verliert wie bei der Chemotherapie gegen Brustkrebs. Sie hat noch so viel vor im Leben: Die legendäre Felsenstadt Petra in Jordanien will sie noch einmal sehen und auf dem Nil entlangschippern. Die Reiseliste ist lang und das Leben zu kurz, um schon zu sterben. ■

von Helmine Braitmaier (Text) und Thomas Klink (Fotos)

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INTERNET

Informationen zum Thema Darmkrebs der Felix-Burda- Stiftung: www.darmkrebs.de

Leben mit künstlichem Darmausgang: www.stoma-welt.de

Krebs-Selbsthilfeorganisation: www.krebshilfe.de

Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Darmkrebs: www.ilco.de

Adressverzeichnis von Psychoonkologen: www.gsk-onkologie.de/ressource/Adressverzeichnis_Psychoonkologen.pdf

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