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Ich denke, also schwimme ich

Gesundheit|Medizin

Ich denke, also schwimme ich
An der Universität Harvard verleiht Neuroforscher Florian Engert paralysierten Zebrafischen Superkräfte. Er will verstehen, was sich in ihrem Gehirn abspielt.

Es ist ein schöner Tag im Fluss. Freddy, ein junger Zebrafisch, schwimmt fröhlich herum. Er geht auf Entdeckungsreise. Seine stecknadelgroßen Glubschaugen scannen den Boden ab. Plötzlich wird ihm sehr heiß. Hier scheint die Sonne offenbar besonders stark. Doch Freddy gerät nicht in Panik, sondern schwimmt ruhig auf das linke Flussufer zu. Er weiß, dass er sich dort abkühlen kann. Am rechten Ufer ist das nicht möglich – das hat er heute schon ein paar Mal erfolglos ausprobiert. Und schon geht es munter weiter auf Erkundungstour.

Der Schein trügt: Nichts ist real an diesem Szenario. Den Fluss gibt es nicht. Freddy schwimmt auch nicht durchs Wasser. Stattdessen bietet sich dem Beobachter ein bizarrer Anblick: In einem abgedunkelten Raum liegt ein winziger Fischkörper reglos auf einer Petrischale. Das Tierchen ist noch ganz jung – es ist eine Fischlarve, die nicht im Wasser sein muss, um zu überleben. Der Luftsauerstoff kann das Tier am Leben halten, solange sein Körper feucht ist. Ein Paralytikum hat es komplett bewegungsunfähig gemacht.

In den Flanken des Jungfischs stecken Mini-Elektroden. Sie messen die Aktivi-tät der motorischen Nervenzellen der Schwanzflosse, mit denen er sich im Wasser vorwärts bewegen kann. Über dem gelähmten Tier schwebt das Objektiv eines 500 000 US-Dollar teuren Lasermikroskops. Unter ihm befindet sich der „ Fluss“ – er ist nichts weiter als ein Monitor, der einen Film mit vorbeiziehenden Balken zeigt. Und die „Sonne“ ist nur ein über der Larve angebrachter Laserstrahler.

Grund der clever inszenierten Illusion: Florian Engert von der amerikanischen Universität Harvard will mit seinen virtuellen Fischversuchen in die Gehirne von Zebrafischen schauen, während diese nach dem Motto „Ich denke, also schwimme ich“ im Dienst der Wissenschaft im Einsatz sind.

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„Die lernen in wenigen Minuten, wie sie den Laser mit einem Schlag der Schwanzflosse ausschalten können“, berichtet Florian Engert. Gut 30 000 Zebrafische beherbergt der quirlige Professor im muffigen Kellergeschoss des biologischen Instituts in Boston. Auf scheinbar endlos langen Regalreihen stehen 18 000 Aquarien, jedes ungefähr so groß wie eine Cornflakes-Packung. „Die virtuellen Experimente machen wir nur mit den Babys“, schreit Engert gegen den Lärm der Wasserpumpen an. Denn die Jungfische sind durchsichtig, weshalb Engert ihnen direkt ins Gehirn schauen kann.

Flink läuft der in Sandalen und Jeans gekleidete Neurowissenschaftler aus Deutschland ein paar Dutzend Aquarien ab, kann gerade aber keine Larven finden. Stattdessen zeigt er auf ein Exemplar, dessen blaugestreifter Bauch deutlich größer ist als der seiner Artgenossen. „Hier stecken sie drin, die Babys, bald gibt’s Nachwuchs!“ Knapp 200 neue Testtiere wird das Weibchen dem Forscher bescheren. „Nur wenige Tage, nachdem die Larven aus den Eiern geschlüpft sind, kommen sie in die Matrix“, sagt Engert.

Der Neuroforscher hat viel vor mit ihnen. Der Name „Matrix“, den er seinem virtuellen Aquarium gegeben hat, ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Science-Fiction-Film, in dem Menschen, deren Gehirne mit einer Cyber-Welt verbunden sind, in futuristischen Einmachgläsern leben. Engerts Kunstwelt dient dazu, die „größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts“ zu meistern, wie er sagt: in der Gehirnaktivität eines lebenden Organismus eine Erklärung für sein Verhalten zu finden. „Die Matrix ist einfach eine saugute Idee“, sagt der Forscher in astreinem Bayrisch und verrät damit nicht nur seine Münchner Herkunft, sondern auch eine gehörige Portion Selbstbewusstsein.

Experimente im Cyberspace

Worauf Florian Engert stolz ist: Er ist der erste Forscher, der Zebrafische in den Cyberspace gesteckt hat. Dort setzt er Freddy & Co unterschiedlichen Reizen aus und beobachtet dabei einerseits die Aktivität einzelner Gehirnzellen, ande-rerseits auch die Gesamtaktivität aller 100 000 Neurone. Hitze, Lärm und Licht sind Stimuli, die Engerts Matrix mit Leben füllen. Der Forscher will etwa herausfinden, wo bei einem Zebrafisch das „ Links“, das „Rechts“ und das „Anhalten“ codiert sind. Und welche Schaltkreise aktiv sind, wenn er Angst hat.

Andere „Cyber-Forscher“ arbeiten lieber mit Nagetieren. David Tank von der Princeton-Universität etwa setzt Mäuse auf einen rotierenden Ball und lässt sie darauf durch ein virtuelles Labyrinth laufen, das sich vor ihren Augen auf einem großen Monitor entfaltet. Doch Engert pocht auf seinen Ansatz. „Ein Mäusehirn ist eine Million Mal so groß wie das eines Zebrafischs“ , erklärt er. Daher lässt sich mit den Fischen viel leichter arbeiten. Zudem gibt es gegenwärtig keine Möglichkeit, die Aktivität der rund 75 Millionen Neurone, die ein Mäusehirn enthält, gleichzeitig zu visualisieren.

Dass Engert seine Studienobjekte auf Zellniveau in Augenschein nehmen kann, liegt daran, dass er mit transgenen Fischen arbeitet, also genetisch veränderten Tieren. In deren Gehirnzellen befindet sich die Bauanleitung für einen Fluoreszenz-Farbstoff, der sichtbar wird, sobald er auf Kalzium-Ionen trifft. „Das passiert, wenn ein Neuron aktiv ist“, erklärt Joseph Fetcho von der Cornell-Universität in Ithaca im US-Bundesstaat New York. Sobald eine Nervenzelle die Ionen ausschüttet, binden diese an den Farbstoff, der daraufhin grünes Licht emittiert. „Je nach Aktivität leuchtet die Zelle stärker oder schwächer“, erklärt der Neurobiologe.

Fetcho, ehemals Doktorand von Engert und ebenfalls Pionier der Zebrafisch-Forschung, erschuf 2003 die ersten grün leuchtenden Zebrafische. Über ein Lasermikroskop wird das Zell-Feuerwerk auf einen Computermonitor übertragen. Das Ergebnis sind wunderschöne Bilder aus Lichtpunkten, die an nächtliche Satellitenaufnahmen von vernetzten Großstädten erinnern.

Die Technik hat jedoch ihre Grenzen: Man kann ein Gewebe nur bis zu einer Tiefe von einem Millimeter erfassen. Glücklicherweise haben die reiskorngroßen Zebrafisch-Larven einen Durchmesser von nur 0,3 Millimeter – das entspricht ungefähr der Dicke von drei Blatt Papier. „Dass wir bei ihnen das Gehirn in seiner Gesamtheit erfassen können, ist ein wichtiges Kriterium für die Verwendung von Zebrafischen“, sagt Fetcho. „Viele Wissenschaftler haben Scheuklappen auf. Sie schauen nur in einen bestimmten Hirnbereich und tun dann so, als würden sie das ganze Gehirn verstehen. Verhalten manifestiert sich aber in den Interaktionen zwischen verschiedenen Arealen.“

Um dieses Zusammenspiel in einem sich bewegenden Fisch (oder in einem, der denkt, er würde sich bewegen) nachzuvollziehen, muss er ins virtuelle Aquarium. „Leider kann ich mit meinem Mikroskop nicht in den Fluss und neben dem Fisch her schwimmen“, flachst Engert, während er vor einem zu einer Seite hin offenen schwarzen Kasten steht. Darin befindet sich das selbstgezimmerte Herzstück seiner Forschung: die Matrix. Ganze fünf Exemplare gibt es davon am Institut. Ihre Komponenten sind überschaubar: Es gibt ein Objektiv, das auf mehreren schwarzen Würfeln steckt, in denen sich Spiegel für den Laser befinden, außerdem eine durchsichtige Plexiglasplatte, auf die der Fisch kommt, Halterungen für die Elektroden und einen kleinen Monitor. Kabel verbinden die Einzelteile miteinander.

Wie im Flugsimulator

Kaum vorstellbar, dass dieses etwa ein Meter hohe Konstrukt genügt, um dem Fisch eine „heile Unterwasserwelt“ vorzugaukeln. Doch „ein optischer Reiz reicht aus, um Bewegung zu simulieren“, weiß Engert – wie wenn man in einem stehenden Zug sitzt, aus dem Fenster schaut und plötzlich meint, die Fahrt geht los. Dabei ist nur der Zug auf dem Nebengleis losgefahren.

„Sobald wir den Monitor einschalten und das Strichmuster erscheint, will der Fisch schwimmen“, erklärt Engert. Ihm ginge es so wie einem Menschen in einem Flug- oder Fahrsimulator: Wenn der Fisch etwa nach links will, bewegt sich der Monitor mit dem Streifenfilm blitzschnell nach rechts. „Schwimmt“ der Fisch schneller – die im Fisch steckenden Elektroden messen dann eine höhere neuronale „Feuerfrequenz“ –, rauschen die Streifen rasanter unter ihm hindurch. Was Engert während seiner Experimente unter dem Mikroskop beobachtete, überraschte ihn. „ Für das Schwimmen sind nur etwa 100 Zellen verantwortlich“, berichtet er. Er hatte mit viel mehr gerechnet.

In einem anderen Experiment verlieh Engert seinen Fischen Superkräfte. Das war einfach – er musste den Streifenfilm nur etwas schneller abspielen, als die Aktivität der Nervenzellen vorgab. „Die Fische lernten in wenigen Minuten, ihre Kräfte sparsamer einzusetzen“, berichtet er. Umgekehrt führen die Fische bei einer zu langsam ablaufenden Unterwasserwelt viel schnellere „ Schwimmbewegungen“ aus. Offenbar erscheinen ihnen ihre Muskeln dann ungewöhnlich schwach.

Florian Engert stellte fest: Es gibt eine ganze Reihe von Neuronen, die nur in diesen Situationen aktiv sind. Offenbar signalisieren sie: Achtung! Hier stimmt etwas nicht! „Eine Gruppe von Zellen feuert, wenn der Fisch meint, zu viel Kraft zu haben, eine andere, wenn er meint, zu wenig Kraft zu haben“, erklärt der Forscher.

Engert und sein 20-köpfiges Team fanden noch weitere Aktivitätsmuster im Gehirn der jungen Fische, die spezifisch sind für bestimmte Situationen. So gibt es Nervenzellen, die immer dann feuern, wenn ein Fisch nach mikroskopisch kleinen Beutetieren jagt. Zufrieden ist Engert mit solchen Ergebnissen noch lange nicht. Selbstkritisch vergleicht er die Früchte seiner Arbeit mit einem Radio, das in seine Einzelteile zerlegt wurde: Aus den Bausteinen lässt sich nicht erkennen, wie das Gerät funktioniert. „Wir haben Wissen akkumuliert, aber wenig Verständnis“, resümiert er. „Und ich möchte wissen, wie ein Fisch funktioniert.“

Wissenschaftliche Neugierde hatte Florian Engert bereits als Schüler. Eines seiner Lieblingsfächer war Physik, weshalb er sich nach seinem Abitur für ein Physik-Studium entschied. Nach dem Abschluss wechselte er in die Biowissenschaften – was er einem zufälligen Gespräch mit einem Nachbarn zu verdanken hatte, der am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München arbeitete. Der junge Physiker entschied sich, dort mit einer Doktorarbeit über Plastizität im Rattenhirn zu promovieren. Seitdem steht für Engert fest: Er will begreifen, wie das Gehirn arbeitet.

1999 wechselte er an die Universität San Diego in Kalifornien, wo er Kaulquappen ins Hirn schaute, drei Jahre später begann er in Harvard mit Zebrafischen zu arbeiten. „ ,Simplifizierung, Simplifizierung‘ – das hat Eric Kandel immer gesagt.“ Mit dem Zitat des berühmten österreichischen Hirnforschers begründet Florian Engert, warum er heute nicht mehr mit Ratten, sondern mit Fischen arbeitet. Eine ungewöhnliche Laufbahn – aber sie passt zu Engerts Vorliebe für Risiko und Abenteuer. Der Wissenschaftler trägt auch während der kalten Ostküstenwinter Muskel-Shirts, fährt ohne Helm Motorrad und wurde 2012 beim Skifahren auf dem Hochglück in Tirol bei gesperrter Piste beinahe unter einer Lawine begraben.

Tennis, Squash und Hockey

Und es gibt wohl kaum einen anderen Harvard-Professor, der mit Rollschuhen zur Arbeit fährt und eine respektable Sammlung von Tennis-, Squash- und Hockey-Schlägern sowie dazu passendes Schuhwerk neben seinem Schreibtisch aufweisen kann. Über Engerts Bürotür hängt eine schwarze Metallstange. „Jeder Besucher muss 20 Klimmzüge machen“, witzelt der sportliche Professor – doch ein Blick auf seine freien Oberarme verrät, für wen die Stange gedacht ist.

Zu Beginn seiner Karriere hat die eher konservative Universitätsverwaltung versucht, den hyperaktiven Neuzugang in seine Schranken zu weisen: Plötzlich tauchten Schilder mit „no rollerblading“ im Institut auf. Aber diese verschwanden fast über Nacht, als Engert 2009 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. „ Jetzt kann ich mir fast alles erlauben“, sagt Engert augenzwinkernd und ergänzt scherzhaft, er hätte mal gehört, dass in der Hierarchie nach einem Harvard-Professor nur noch Gott komme.

Mit seinem nächsten Projekt „Zebrafisch Connectom“ möchte der Vater zweier Kinder im Alter von 6 und 19 Jahren in die Annalen der Neurowissenschaften eingehen. Gemeinsam mit dem ebenfalls in Harvard wirkenden Forscher Jeff Lichtman, ein Spezialist für Elektronenmikroskopie, will er eine „Gehirnkarte“ erstellen. Sie soll zeigen, wie sämtliche Neurone im Kopf miteinander verbunden sind. •

Text von Désirée Karge, Fotos von Volker Steger

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