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Immer mehr wissen – immer weniger verstehen

Gesundheit|Medizin

Immer mehr wissen – immer weniger verstehen
Die Ergebnisse der modernen Hirnforschung werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern.

Eine recht übersichtliche Angelegenheit war das Gehirn in den Augen des 1758 im badischen Tiefenbronn geborenen Mediziners Franz-Joseph Gall. Für ihn bestand es aus 26 so genannten Organen, von denen jedes seine eigene Zuständigkeit hatte – etwa für Ehrlichkeit, Witz, Dichtergeist oder Boshaftigkeit. Praktisch daran war: Wie ausgeprägt diese Organe bei einem Menschen waren, ließ sich angeblich von außen sehen, weil ihre Größe die Oberfläche des Schädels prägen sollte. Das wollte Gall bei Untersuchungen in Irrenanstalten, Schulen und Gefängnissen festgestellt haben. Außerdem besaß er eine Sammlung mit über 300 Schädeln von Menschen und Tieren.

Zwar blieb diese „Phrenologie“ genannte Lehre des vor allem in Wien wirkenden Medikus wissenschaftlich umstritten. Doch sie war populär und faszinierte große Geister wie Johann Wolfgang Goethe und seinen amerikanischen Dichter-Kollegen Walt Whitman. Der bekam 1849 in New York von einem kommerziell arbeitenden Phrenologen einen nahezu perfekten Schädel bescheinigt – und war darüber so begeistert, dass er das gute Stück nach seinem Tod der Wissenschaft zukommen ließ.

Bis in das 20. Jahrhundert hinein hatte die Phrenologie viele Anhänger. Heute kommt sie in den Lehrbüchern nur noch als abschreckendes Beispiel vor. So eingängig wie bei der als „ Beulologie“ verspotteten Phrenologie wurde die Lehre vom Gehirn nie wieder. Denn mit schlichten Zuordnungen kam man einfach nicht weiter. Stattdessen hieß es, ganz unten anzufangen – wie auch der gebürtige Österreicher und spätere Nobelpreisträger Eric Kandel erfahren musste.

Als Student der Psychiatrie wollte Kandel in den Fünfzigerjahren beim berühmten Neurophysiologen Harry Grundfest an der New York University forschen. Grundfest fragte, woran der junge Mann gerne arbeiten würde. Kandel war damals von Freud fasziniert und wollte voller Begeisterung und Naivität die Frage aller Fragen klären: Wo sitzen im menschlichen Gehirn das „Ich“, das „Es“ und das „Über-Ich“? Grundfest holte den jungen Mann auf den Boden der Tatsachen und riet ihm, an einfacheren Nervensystemen zu untersuchen, wie Nerven funktionieren. Kandel nahm sich unter anderem die Meeresschnecke Aplysia mit ihren ungewöhnlich großen Neuronen vor – und war damit sehr erfolgreich: Über die Vorgänge in den Zellen und in kleinen Zellverbänden wissen die Forscher inzwischen gut Bescheid (siehe Seite 28 „Wie lernen wir?“). Aber sind sie damit bei der Frage nach dem Sitz des „Ichs“ und bei anderen großen Problemen weitergekommen?

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Forscher wie Kandel haben in den vergangenen Jahrzehnten Berge von Wissen über das Gehirn angehäuft. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind allein in Deutschland gut 2500 Bücher erschienen, die sich mit dem Gehirn beschäftigen. Die amerikanische Datenbank PubMed wird bei Erscheinen dieser Ausgabe von bild der wissenschaft wahrscheinlich gerade den millionsten Artikel zum Stichwort „brain“ verzeichnen. „Wenn es in dem Tempo weitergeht“, spöttelte die New York Times vor einigen Monaten, „werden die Neurowissenschaftler bald die Regionen im Gehirn ausmachen, in denen mittelmäßige Gedichte geschmiedet werden, wo der Schulfrust haust oder wo der Sarkasmus wie eine rote Rose blüht“.

Tatsächlich herrscht kein Mangel an spektakulären Einzelbefunden. Doch je mehr die Hirnforscher herausfinden, desto ratloser sind sie. Denn häufig widersprechen sich ihre Ergebnisse – oder es fehlt eine Theorie, die sie erklären könnte.

So will der kanadische Neurowissenschaftler Michael Persinger mit Hilfe von Magnetfeldern aus einem Helm bei Versuchspersonen mystische Erfahrungen erzeugt haben. 80 Prozent glaubten, die Anwesenheit von etwas Unerklärlichem im Raum zu spüren. Doch schwedische Forscher um Pehr Granqvist von der Universität Uppsala stellten bei ihrer Wiederholung des Experiments keinerlei Effekte fest. Zwar berichteten die meisten Teilnehmer ebenfalls von spirituellen Erfahrungen – aber auch dann, wenn sie nur den Helm aufsetzten, ohne dass der Strom eingeschaltet wurde. Die Gotteserfahrung im Labor scheint also weniger ein Ergebnis eines Magnetfelds zu sein als eines des Glaubens. Hurra-Meldungen über Gotteserfahrungen oder den Sitz der Intelligenz erinnern Skeptiker stark an die kuriose Lehre des Franz-Joseph Gall. „ Hightech-Phrenologie“, lautet ihr Vorwurf.

Tatsache ist: Je mehr die Forscher in Erfahrung bringen, desto komplizierter wird die Lage in Wirklichkeit. Der Botenstoff Dopamin beispielsweise schien zunächst eine einfache Rolle zu spielen: Er wird ausgeschüttet, wenn das Gehirn sich über eine Belohnung freut. Entsprechend brachte es Dopamin in Bestsellern als „Lustmolekül“ zu einiger Berühmtheit.

Doch inzwischen hat sich herausgestellt, dass Dopamin auch etwas mit Schmerzen zu tun hat: Ein Team um den Psychiater Jon-Kar Zubieta von der University of Michigan hatte die Kiefermuskeln von Freiwilligen mit einer Injektionsnadel traktiert. Prompt wurde tief im Innern von deren Gehirn Dopamin ausgeschüttet.

Wie um die Sache noch komplizierter zu machen, stellte sich außerdem heraus: In einem Teil der Basalganglien (Putamen und Nucleus caudatus) wird umso mehr Dopamin freigesetzt, je stärker der gemessene Schmerz ist. In einem anderen Teil der Basalganglien (Nucleus accumbens) wird dagegen umso mehr Dopamin ausgeschüttet, je stärker die Versuchspersonen den Schmerz empfinden. Dieser Teil der Dopamin-Dusche beginnt überdies schon, wenn der Schmerz noch gar nicht eingesetzt hat, sondern erst erwartet wird.

Zubieta vermutet: Dopamin ist weder der Hofsänger der Lust noch des Schmerzes, sondern reagiert ganz allgemein auf starke Reize der Umwelt. Doch warum der Botenstoff im Tierversuch Schmerzen mal vermindert und mal verstärkt, ist auch den Experten völlig unklar.

Viele andere Substanzen verwirren die Hirnforscher ebenfalls, etwa das Hormon Testosteron. Wie jeder Illustrierten-Leser weiß, ist es das Hormon der Männlichkeit. Falsch, sagt die amerikanische Neurobiologin Louann Brizendine, Direktorin der Women’s Mood & Hormone Clinic der University of California/San Francisco, in ihrem neuen Buch „The Female Brain“. Es sei das „Hormon für Sex und Aggression“. Auch daneben, kommentiert das Wissenschaftsblatt „Nature“ in seinem Verriss des Buchs: „Wenn das Hormon ein publikumswirksames Etikett braucht, würde eher ,Hormon des Selbstvertrauens und des Wohlgefühls‘ zu den Daten passen.“

Auch beim Versuch, den Wahrnehmungen und Gedanken auf die Spur zu kommen, zeigt sich, wie schnell Hirnforscher ins Schwimmen geraten, sobald die Dinge komplizierter werden. Beim Versuch, aus Gehirnbildern herauszulesen, ob Versuchspersonen im Fernsehen gerade witzige Szenen sahen, Musik hörten oder palavernden Schauspielern lauschten, gerieten die Gehirnforscher ins Hintertreffen. Einen entsprechenden Wettbewerb gewannen vielmehr Informatiker. Die hatten ihre Computer stur die gesammelten Daten miteinander vergleichen lassen, ohne sich im Mindesten um die Erkenntnisse der Hirnforschung zu scheren (siehe Seite 36: „ Können Hirnforscher Gedanken lesen?“). Natürlich hatten die Computer-Fachleute keinen Schimmer, wie die Hirnaktivitäten zustande kamen, mit deren Daten sie gerade jonglierten. Aber ironischerweise geht es den Hirnforschern oft genauso.

Das durchleuchtete Gehirn liefert bei vielen komplexen Fragen keine klare Antwort. Ernüchtert stellte der Kognitionswissenschaftler Max Coltheart von der Australian National University in Canberra fest, dass „bis zum heutigen Tag keine Forschung mit funktionellen bildgebenden Verfahren Ergebnisse gebracht hat, mit denen sich zwischen konkurrierenden psychologischen Theorien eine Entscheidung treffen lässt“.

Jochen Paulus ■

Die in dieser Einführung umrissenen Probleme betreffen vor allem die großen Fragen der Hirnforschung – bei denen es um die typisch menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften geht. bild der wissenschaft stellt sie auf den folgenden Seiten im Detail vor. Die Autoren der Beiträge berichten regelmäßig in bild der wissenschaft über Fortschritte und Probleme der Neurowissenschaften:

Jochen Paulus, Diplom-Psychologe in Landau/Pfalz Judith Rauch, Diplom-Biologin in Tübingen Karin Hollricher, Diplom-Biologin in Neu-Ulm

Ohne Titel

• Trotz Hunderttausender Studien verstehen Forscher grundlegende Vorgänge im menschlichen Gehirn nicht.

• Viele Ergebnisse lassen sich bislang durch keine Theorie erklären, und manche widersprechen sich sogar.

Ohne Titel

Führunszentrale ohne Chef: Wenn das Gehirn über etwas nachdenkt (hier im Magnetresonanztomographen), schafft es das ohne zentrale Stelle, die den Gedanken erfasst.

COMMUNITY Internet

Institut von Christof Koch am Caltech:

www.klab.caltech.edu/

Center for Consciousness Studies:

www.consciousness. arizona.edu/

Lesen

Ausgezeichnet von bdw als Wissenschaftsbuch des Jahres:

Eric R. Kandel

Auf der Suche nach dem Gedächtnis

Siedler 2006, € 24,95

Manfred Spitzer

Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens Spektrum Akademischer Verlag 2006, € 20,–

Sarah-Jayne Blakemore, Uta Frith

Wie wir lernen – Was die Hirnforschung darüber weiss

DVA 2006, € 24,90

Inge Strauch, Barbara Meier Den Träumen auf der Spur – Zugang zur modernen Traumforschung

Hans Huber 2004

€ 24,95

Christof Koch

Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel

Spektrum 2005, € 48,–

Norbert Herschkowitz u.a.

Das vernetzte Gehirn – Seine lebenslange Entwicklung

Huber 2006, € 17,95

Norbert Herschkowitz

Lebensklug und kreativ – Was unser Gehirn leistet, wenn wir älter werden Herder 2006, € 19,90

Wolf Singer

Der Beobachter im Gehirn

Essays zu Hirnforschung Suhrkamp 2002, € 11,–

Manfred Spitzer

Nervenkitzel – Neue Geschichten vom Gehirn

Suhrkamp 2006, € 9,50

Susan Blackmore

Conversations on Consciousness

Oxford University Press 2006, € 20,–

Steven Rose

The 21st Century Brain

Vintage 2006, € 15,50

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La|ser|chir|ur|gie  auch:  La|ser|chi|rur|gie  〈[lez(r)çir–] f.; –; unz.; Med.〉 Teilgebiet der Chirurgie, das sich mit der Anwendung von Laserstrahlen bei operativen Methoden befasst … mehr

Re|se|de  〈f. 19; Bot.〉 oV Reseda 1 Angehörige einer Gattung der Resedagewächse (Resedaceae) mit gelbl. od. weißl. Ähren als Blütenstand; … mehr

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