Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Kontra Vorsorge … weil die Sicherheit trügt

Gesundheit|Medizin

Kontra Vorsorge … weil die Sicherheit trügt
Kritiker sind überzeugt: Die negativen Folgen des Vorsorge-Screenings werden unterschätzt.

Vorbeugen ist besser als Heilen.“ Gegen dieses Hippokrates-Zitat lässt sich kaum etwas einwenden. Natürlich ist Gesundbleiben besser, als krank zu werden und sich einer Therapie unterziehen zu müssen. Hinter dieser Vorbeuge-Logik steckt so viel Überzeugungskraft, dass sich Deutschland mit seiner weit entwickelten Medizintechnik zu einem Paradies für präventive Untersuchungsmethoden gemausert hat.

Darmspiegelung, Augeninnendruckmessung, Mammografie, Elektrokardiogramm, PSA-Test sowie Kontrolluntersuchungen beim Zahn- und Hautarzt – kaum ein Organ, das man nicht irgendeinem detaillierten Check unterziehen kann. Hinzu kommen Blut- und Urintests, um Hinweise auf Stoffwechselstörungen zu finden, und die pränatale Diagnostik am Ungeborenen, etwa Ultraschall- und Fruchtwasseruntersuchung. Wer Zeit und Lust hat, kann jährlich Dutzende Stunden in Arztpraxen verbringen, um Präven- tionsmaßnahmen durchführen zu lassen. Oft bezahlen die Krankenkassen dafür. Ein Paradies für Hypochonder? Oder ein wichtiger Baustein zur Volksgesundheit? Wer sich ausgiebig „ screenen“ lasse, so die Hauptargumente der konventionellen Präventionsmedizin, erspare sich viel Leid und der Gesundheitsfürsorge viel Geld.

Natürlich ist eine Koloskopie billiger als die Behandlung eines fortgeschrittenen Darmkrebses. Doch unzählige Untersuchungen bleiben ohne auffälligen Befund. „Medizinische Prävention ist teuer“, erklärt Gesundheitsforscherin Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg. „Auch sehr gut untersuchte und wirksame Programme.“

Hohe Kosten, geringer Nutzen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung veranschlagt allein für das nationale Mammografie-Screening 400 Millionen Euro pro Jahr. Wohlgemerkt zusätzlich zu den laufenden Kosten des Gesundheitssystems. Diesen Aufwand könnte man rechtfertigen, würden die propagierten Effekte der Mammografie – frühzeitiges Erkennen der Tumore und damit frühzeitiger Einstieg in ihre Therapie – helfen, das Leiden und die Sterbequote der Patienten zu verringern. Doch das ist keineswegs sicher.

Anzeige

So gaben bei der Einführung des flächendeckenden Mammografie-Screenings im Jahre 2008 selbst die Befürworter zu, dass die Untersuchungen in zehn Jahren gerade mal das Leben einer einzigen Frau von 1000 retten würde. Nach einer US-amerikanischen Analyse aus dem Jahr 2012, in der die Ergebnisse aus 30 Jahren Mammografie erfasst wurden, hat sich selbst dieser minimale Vorteil pulverisiert. Ähnliche desillusionierende Quoten liefert eine aktuelle Studie aus England. „Möglich, dass einzelne Frauen von dem Screening profitieren“, erklärt Studienleiter Toqir Mukhtar von der Universität Oxford. „Aber die Effekte sind zu klein, als dass sie auf Bevölkerungsebene erkennbar wären.“

Hinzu kommt: Heute ist es nicht mehr unbedingt ein Vorteil, wenn ein Tumor so früh wie möglich entdeckt wird. Nicht nur die Präventionstechnologien machen Fortschritte, sondern auch die Therapien. „Die Behandlungsmöglichkeiten und die Prognose für später entdeckten und weiter fortgeschrittenen Brustkrebs werden immer besser“, betont Mühlhauser.

Außerdem könnten bei der Mammografie harmlose Gewebsveränderungen von heute als bösartiger Tumor von morgen überinterpretiert werden: In jedem fünften Fall stellt sich der Krebsverdacht als haltlos heraus – allerdings erst einige (beängstigende) Monate später. Selbst unter den begründeten Brustkrebsdiagnosen laufen bis zu 25 Prozent unter der Kategorie „ Fehlalarm“. Das hat eine aktuelle Erhebung am norwegischen Mammografie-Screening ergeben. Die betroffenen Patientinnen werden nicht nur psychisch erschüttert, sie müssen oft auch riskante Behandlungen wie Chemo- oder Hormontherapie über sich ergehen lassen, obwohl sie mit ihren Geschwüren zeitlebens keine Probleme bekommen hätten. Die Mammografie könne eben „nicht zwischen progressiven und nichtprogressiven Krebserkrankungen unterscheiden“, warnt Studienleiterin Mette Kalagar von der Harvard-School of Public Health in Boston. Doch genau das muss ein sinnvolles Screening-Instrument leisten.

Gefahr durch Überdiagnosen

Ähnliche Mängel in Präzision, Aussagekraft und Risikoeinschätzung hat der PSA-Test. Mit einer simplen Blutabnahme soll er einen verlässlichen Hinweis auf Prostatakrebs liefern. Denn Tumorzellen produzieren zehn Mal so viel vom Antigen PSA als andere Zellen der Vorsteherdrüse. Das Problem: Die Schleimhautzellen der Vorsteherdrüse kommen mitunter auch ohne krebsartige Veränderungen auf erhöhte Werte. Zudem muss selbst bei einem auffälligen Befund nicht zwingend eingegriffen werden. Gerade Prostatakrebs wächst oft sehr langsam, sodass er bis zum „natürlichen“ Tod des Patienten keine Probleme bereitet. Fest steht: Viele Männer sterben mit Prostatakrebs, doch nur wenige an ihm. Warum sollte man die Männer also per PSA-Test unnötig ängstigen und in die Mühlen einer riskanten Krebstherapie schicken?

Wissenschaftler des US-Cancer-Instituts untersuchten acht Jahre lang mehr als 76 000 Männer, von denen eine Hälfte jährlich auf PSA getestet und zusätzlich im Zweijahresabstand rektal abgetastet wurde. Die andere Hälfte wurde nur bei konkretem Krebsverdacht entsprechend untersucht. Die Screening-Gruppe zeigte – gerechnet auf 10 000 Personenjahre – mit 3,7 sogar eine leicht höhere Quote an prostatakrebsbedingten Sterbefällen als die Kontrollgruppe mit 3,4.

„Das Screening hat offenbar zur Überdiagnose von Krebserkrankungen geführt, an denen die Patienten niemals gestorben wären“, erklärt Studienleiter Gerald Andriole. Was aber nicht ausschließe, dass die Tests im Einzelfall doch ein Menschenleben gerettet hätten. Andriole will sich daher nicht kategorisch dagegen aussprechen. Sein Vorschlag: Anfang 40 sollte jeder Mann einen PSA-Test durchführen lassen. „Wenn sich dann ein niedriger Wert zeigt, besteht offenbar ein niedriges Risiko“, so der Urologe. Dann könne der Patient auf weitere Tests verzichten.

Solch ein moderater und vernünftig kalkulierter Einsatz könnte sich auch bei anderen präventionstechnischen Maßnahmen empfehlen. Der PSA-Test hat den Vorteil, in seiner Durchführung risikolos zu sein – anders als manch anderes Verfahren, etwa die Darmkoloskopie. Daher sollte sich der Patient nicht nur mit der beschränkten Aussagekraft des Tests, sondern auch mit den potenziellen Nebenwirkungen auseinandersetzen. So kann es während der Kolonspiegelung zu Darmverletzungen und bei Senioren schon in der Vorbereitung zu Komplikationen kommen, weil der Körper durch Nahrungsverzicht, Abführmaßnahmen oder Beruhigungsmedikamente belastet wird. Ganz zu schweigen davon, dass fast jeder das rektale Einführen des Schlauchs als überaus unangenehm empfindet.

Auch der stockende Informationsfluss vonseiten der Ärzte wirft einen Schatten auf präventive Screeningmaßnahmen. Viele Patienten warten nach einem Test wochen- oder gar monatelang vergeblich auf ihre Untersuchungsergebnisse, und sie können sich noch nicht einmal damit trösten, dass keine Nachrichten gute Nachrichten sind. In einer US-amerikanischen Studie an 23 Arztpraxen fiel einer von 14 auffälligen Befunden einfach unter den Tisch, der Patient erfuhr also nichts davon. Ähnliche Kommunikationsdefizite darf man auch für Deutschland vermuten: In einer Umfrage der Techniker Krankenkasse wünschte sich jeder fünfte Patient eine bessere Aufklärung durch seinen Arzt.

Mangelnde Informationen

Viele Patienten werden nicht ausreichend darüber informiert, welche Folgen eine Vorsorgeuntersuchung im Falle eines auffälligen Befundes für sie haben kann. So glauben etwa 60 Prozent aller Frauen, dass die Mammografie sie vor der Entstehung von Brustkrebs schützt. Tatsache ist, dass sie bei unauffälligem Befund für eine vorübergehende Beruhigung sorgt. Ist der Befund jedoch auffällig, krempelt er das Leben des Patienten von heute auf morgen dramatisch um. Dann stehen weitere Diagnosemaßnahmen und möglicherweise auch riskante Therapien an, ganz zu schweigen von den Ängsten, die aufkommen. Aus einem zufriedenen Leben mit ein bisschen Ungewissheit wird eine Tortur mit ganz viel Ungewissheit darüber, wie schwer das Leiden sein wird und wie viel Lebenszeit bleibt.

Möglich also, dass das Nicht-Wissen um eine schwere Erkrankung einen Menschen im Einzelfall früher sterben lässt. Möglich ist aber auch, dass das – oft trügerische – Wissen um eine mögliche Krankheit das Leben unerträglich macht. Nirgendwo anders äußern sich diese Alternativen so drastisch wie in der Pränataldiagnostik.

Schwangere haben den Anspruch auf Ultraschalluntersuchungen, seit Juli 2013 sogar jenseits der 20. Schwangerschaftswoche. Dadurch sollen Hebammen und Mediziner, wie der Berufsverband der Frauenärzte es ausdrückt, „frühzeitig eine geeignete Entbindungsklinik mit den nötigen personellen und apparativen Möglichkeiten“ einschalten können, „die für die Betreuung von Risikogeburten und Risikokindern geeignet ist.“ Was verschwiegen wird: Wenn der Ultraschall Hinweise auf eine schwere Behinderung des Kindes liefert, wie etwa Down-Syndrom, steht auch die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch im Raum. Und mit dieser Entscheidung werden die Eltern oft allein gelassen. Sie bekommen allenfalls den Rat, per riskanter Fruchtwasseruntersuchung für mehr Gewissheit zu sorgen. 90 Prozent der Schwangeren, bei deren ungeborenem Kind das Down-Syndrom diagnostiziert wird, entscheiden sich für eine Abtreibung. Was viele nicht wissen: Das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom ist weitaus weniger dramatisch als oft befürchtet.

Hier offenbart sich ein zentrales Problem der diagnostischen Prävention: Ihr Wert steht und fällt mit dem Wissen darüber, wie die Ergebnisse einzuschätzen sind. Da gibt es derzeit noch große Defizite, sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten. Solange diese nicht wirklich abgebaut sind und Slogans wie „Wer seinen Partner liebt, schickt ihn zur Darmkrebsvorsorge“ für moralischen Druck statt Aufklärung sorgen, sollte man beim Vorsorge-Screening eher Zurückhaltung üben – und lieber die Zeit für Präventionsmaßnahmen nutzen, deren Nutzen nachgewiesen ist, etwa Tabakverzicht und körperliche Aktivität. •

von Jörg Zittlau

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Blut|zu|cker|spie|gel  〈m. 5; unz.; Med.〉 Konzentration des Blutzuckers im Blut

abschre|cken  〈V. t.; hat〉 1 jmdn. ~ 1.1 jmdn. von einer Sache abbringen, indem man ihm ihre unangenehmen Seiten zeigt  1.2 verscheuchen … mehr

Luft|fahrt|kar|te  〈f. 19〉 Darstellung der Erdoberfläche mit allen für die Luftfahrt wichtigen Gegebenheiten, die als Orientierungsmittel od. Arbeitsmittel bei den Navigationsverfahren dienen; Sy Fliegerkarte … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige