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Magersucht: Erbe aus der Steinzeit

Geschichte|Archäologie Gesundheit|Medizin

Magersucht: Erbe aus der Steinzeit
Magersüchtige sind oft rastlos und euphorisch – eine Folge des veränderten Stoffwechsels beim Hungern. Möglicherweise zündet bei ihnen ein Notprogramm, das unseren Vorfahren beim Überleben half.

Andrea räumt ständig die Wohnung auf, Lucy steigt täglich stundenlang aufs Fahrrad, Julia verreist oft und kennt die halbe Welt besser als ihre Heimatstadt. Alle drei Mädchen sind magersüchtig und ununterbrochen in Bewegung – eine typische Begleiterscheinung der Anorexia nervosa. Diese Agilität erstaunt, sind Magersüchtige doch extrem ausgezehrt. Jeder zehnte Patient – es erkranken vor allem junge Mädchen und Frauen, aber auch immer mehr Jungen und Männer – verhungert oder nimmt sich das Leben.

Bislang nahm man an, dass sich die jungen Menschen so auffällig viel bewegen, um nicht zuzunehmen. Neuere Studien zeigen jedoch: Der Bewegungsdrang ist nicht freiwillig. Vielmehr verändert der ausgehungerte Körper den Hormon-Stoffwechsel drastisch. Es fehlt am Sättigungshormon Leptin, das normalerweise in den Fettdepots gebildet wird. Und ein niedriger Leptin-Spiegel im Blut führt zu erhöhter körperlicher Aktivität. Das zeigten auch Versuche an der Universität Göttingen: Hungernde Ratten, deren Blut arm an Leptin war, rannten wie wild durch den Käfig. In klinischen Studien waren Magersüchtige mit weit fortgeschrittener Krankheit besonders aktiv. Legten die Patienten während einer Therapie hingegen an Gewicht zu, schwand die Rastlosigkeit.

Magersüchtige Jugendliche haben zudem oft depressive Gefühle im Wechsel mit Euphorie. Auch dieses emotionale Auf und Ab könnte eine Folge des Hungerns sein. Zum einen fanden Forscher heraus, dass die Rezeptoren im Gehirn von Anorexie-Kranken schlechter auf die Hormone Serotonin und Noradrenalin reagieren. Die Folgen: Angst, Verdruss und Autoaggression. Andererseits sorgen körpereigene Opiate und ein erhöhter Kortisolspiegel im Blut gerade im Anfangsstadium dafür, dass die Hungernden immer wieder euphorisch sind – und ihre Krankheit leugnen. Schlagen Eltern oder Freunde eine Therapie vor, lehnen sie empört ab.

Dass mit dem krankhaften Fasten häufig Tatendrang, Euphorie und ein starker Wille einhergehen, stärkt die Hypothese, dass hinter der Magersucht ein biologisches Programm steht. Dieses gehe, meint etwa Regina Casper, Psychiaterin an der Stanford University, auf Steinzeit-Gene zurück und habe einst evolutionäre Vorteile geboten – nämlich bei Nahrungsmangel nicht in Lethargie zu verfallen, sondern loszuziehen und Mammuts zu erlegen. Mithilfe der Opiate hätten die Betroffenen ihren ausgemergelten Körper ignorieren können. Demnach wäre nicht nur die Reaktion auf Hunger, sondern auch der Auslöser der Magersucht in der Erbsubstanz begründet. Vermutlich trugen aber nicht alle unsere Vorfahren solche Gene. Der Großteil bewegte sich in Hungerzeiten wohl kaum, um Energie zu sparen – genau wie viele Menschen heute, die nicht freiwillig hungern.

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Allerdings: Beweisen lässt sich die Steinzeit-Theorie bislang nicht. Fest steht lediglich, dass Magersucht in manchen Familien gehäuft vorkommt, wie Beate Herpertz-Dahlmann, Jugendpsychiaterin an der RWTH Aachen, betont. Schwestern von Anorexie-Patientinnen haben demnach ein um fünf Prozent höheres Risiko, die Essstörung zu entwickeln. „Doch bisher ist es nicht gelungen, eine entsprechende Gen-Variante zu finden“, meint Iris Maria Brunn, Ökotrophologin an der Universität Gießen. „Und es ist oft schwer zu unterscheiden, ob eine Störung vererbt ist oder frühkindlich geprägt.“

Experten sind überzeugt, dass mehrere Faktoren zusammenkommen müssen, bevor eine Anorexie ausbricht. Zum Beispiel eine Prägung des Ungeborenen durch mütterliche Hormone, eine überbehütende Mutter, ein autoritärer Vater, knochige Super-Models als Vorbild – oder sogar sexueller Missbrauch.

Eine mögliche Therapie ist eine psychotherapeutisch ausgerichtete Kur, etwa in einer Klinik oder einer Wohngemeinschaft. Doch je mehr man über die biologischen Hintergründe der Krankheit weiß, desto größer wird die Kluft zwischen Anhängern von Psychotherapie und Psychopharmaka. Verfechter der medikamentösen Behandlung setzen große Hoffnungen auf das Leptin. Immerhin: Erste Versuche mit hyperaktiven Ratten verliefen erfolgreich – eine Leptin-Kur verlängerte ihr Leben. ■

Kathrin Burger

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