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Retortenhirne zeigen komplexe Aktivität

Gesundheit|Medizin

Retortenhirne zeigen komplexe Aktivität
Gehirn-Organoid
Querschnitt durch ein Mini-Retortengehirn. (Bild: Muotri Lab/UCTV)

Das Gehirn ist das komplexeste und wohl auch das faszinierendste Organ unseres Körpers. Um mehr über die Entwicklung und Funktionsweise des menschlichen Denkorgans herauszufinden, versuchen Forscher sich schon länger an Gehirn-Nachbildungen aus dem Reagenzglas. Nun ist ihnen ein entscheidender Erfolg geglückt: Zum ersten Mal sind Retortenhirne im Labor entstanden, die komplexe Hirnwellen zeigen – sie scheinen funktionelle Netzwerke auszubilden wie ein echtes Gehirn. Die Aktivitätsmuster dieser aus Stammzellen gewachsenen Mini-Denkorgane ähneln dabei zum Teil denen frühgeborener Babys.

Organoide sind stark vereinfachte Miniaturvarianten echter Organe. Diese Gewebe können im Labor zum Beispiel aus Stammzellen herangezüchtet werden, die sich in speziellen Kultursystemen in die für das jeweilige Organ typischen Zellen und Strukturen differenzieren – und sich auch ähnlich verhalten wie das Original. Damit bieten diese Nachbildungen die Möglichkeit, die Funktionsweise von Herz, Nieren und Co genauer zu erforschen – jenseits von Tiermodellen und Untersuchungen „echter“ Organe. Auch menschliche Gehirne haben Forscher auf diese Weise schon im Reagenzglas nachgebildet. Inzwischen gibt es „Mini-Gehirne“, deren Zellen sogar miteinander kommunizieren. Allerdings: Keines dieser Retortenhirne hat bisher funktionelle Netzwerke ausgebildet wie sie von unserem Denkorgan bekannt sind. Genau diese komplexen Verknüpfungen von Neuronen sind für die meisten Hirnaktivitäten jedoch entscheidend.

Umso spannender ist daher das, was nun Forschern um Cleber Trujillo von der University of California in San Diego gelungen ist: Sie haben erstmals Retortengehirne in einem frühen Entwicklungsstadium gezüchtet, die funktionelle Netzwerke entwickelt haben. Die erbsengroßen „Mini-Gehirne“ wuchsen aus induzierten pluripotenten Stammzellen, die das Team aus Hautzellen gewonnen hatte. Für ihre Studie optimierten Trujillo und seine Kollegen unter anderem die Kulturumgebung, in der sich die Organ-Nachbildungen entwickeln sollten. Sie veränderten die Zusammensetzung des Nährmediums sowie die zeitliche Abfolge, in der bestimmte Faktoren hinzugegeben werden. Dank dieser Anpassungen entwickelten sich ihre Organoide weiter als frühere Modelle und erreichten ein höheres Reifestadium mit mehr Zellvielfalt.

Aktive Hirnwellen

Doch würden sich diese Fortschritte auch in der Hirnaktivität widerspiegeln? Um dies herauszufinden, ließen die Wissenschaftler hunderte von „Mini-Gehirnen“ zehn Monate lang wachsen. Dabei überwachten sie kontinuierlich die elektrischen Signale, die von ihren Organoiden ausgingen. Das Ergebnis: Nach zwei Monaten bemerkten die Forscher die ersten Hirnwellen. Diese Signale waren noch selten und wurden immer wieder von Pausen ohne Aktivität unterbrochen – genauso wie es von frühen menschlichen Gehirnen bekannt ist. Im Laufe der Hirnentwicklung werden diese stillen Phasen normalerweise immer kürzer, bis das Gehirn kontinuierlich ausgeprägte Aktivitätsmuster zeigt. Genau das passierte auch bei den Nachbildungen im Labor, wie Trujillos Team berichtet: Die Organoide produzierten Hirnwellen unterschiedlicher Frequenzen und die vom Elektroenzephalogramm (EEG) registrierten Signale wurden regelmäßiger und häufiger – ein Zeichen dafür, dass sich mehr funktionelle Verknüpfungen ausgebildet hatten.

„Wir konnten es erst gar nicht glauben und dachten, unsere Elektroden wären kaputt“, sagt Trujillos Kollege Alysson Muotri. Doch weitere Untersuchungen bestätigten: Die Retortengehirne schienen tatsächlich Netzwerke neuronaler Verknüpfungen entwickelt zu haben. Wie sehr diese funktionellen Neuronennetze dem menschlichen Vorbild ähnelten, zeigten Vergleiche mit den EEG-Daten von unterschiedlich weit entwickelten Frühchen. Die Wissenschaftler trainierten einen intelligenten Algorithmus mit diesen Informationen und konfrontierten das Programm anschließend mit den Hirnwellenaufzeichnungen der Organoide. Das Frappierende: Der Algorithmus konnte anhand dieser Daten erstaunlich gut vorhersagen, wie viele Wochen die „Mini-Gehirne“ im Kultursystem gewachsen waren. Die Miniatur-Nachbildungen schienen sich demnach zumindest zum Teil ähnlich zu entwickeln wie die Gehirne der Babys, wie das Forscherteam berichtet.

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„Noch nie dagewesen“

„Das Maß an neuronaler Aktivität, das wir in unseren Organoiden sehen, ist in vitro bisher noch nie dagewesen“, konstatiert Muotri. „Wir sind damit einen Schritt näher an einem Modell, das tatsächlich komplexe Hirn-Netzwerke in frühen Stadien abbilden kann.“ In Zukunft könnten die Organoide dabei helfen, Leiden wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie zu erforschen – Erkrankungen, die mit Fehlfunktionen von Hirnnetzen in Verbindung gebracht werden. Eines aber ist trotz all der Fortschritte klar: Bewusst denken wie wir können die „Mini-Gehirne“ noch lange nicht. „Das Organoid ist noch immer ein sehr rudimentäres Modell“, betont Muotri. „Es funktioniert längst nicht so wie ein vollständiger Cortex, selbst eines Babys.“ Aus diesem Grund können die Retortengehirne bisher auch nicht in jedem Fall die Forschung mit echtem Hirngewebe ersetzen. „Aber sie sind eine potentielle Alternative“, schließt Muotri.

Quelle: Cleber Trujillo (University of California, San Diego) et al., Cell Stem Cell, doi: 10.1016/j.stem.2019.08.002

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