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RISKANTE VERTRAUTHEIT

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

RISKANTE VERTRAUTHEIT
Harmlos oder mörderisch: Psychologen versuchen herauszufinden, wie gefährlich Stalker sind.

Dutzende Mal am Tag erhielt Silke Peters (Name geändert) Anrufe und SMS-Nachrichten von ihrem Ex-Freund. Wenn sie eine Beziehung mit einem neuen Partner anfange, werde er ihr etwas antun, drohte der Mann. Er rief bei Freunden und Kollegen an, um herauszufinden, wo sie sich aufhielt. Als sie einmal nach Holland verreiste, tauchte er an ihrem Urlaubsort auf. Ein halbes Jahr lang ging das so, bevor Silke Peters zu Jens Hoffmann kam. Der Psychologe erforscht an der TU Darmstadt das Phänomen, das der Frau von Mitte dreißig zu schaffen macht: Stalking.

Der englische Begriff kommt aus der Jägersprache und bedeutet „ anpirschen“. Hoffmann, Leiter des Instituts „Psychologie und Sicherheit“ in Aschaffenburg, berät verfolgte Fernsehprominenz und Firmenmitarbeiter. Silke Peters kam zu ihm, weil sich die Personalabteilung ihrer Firma Sorgen machte. Die entscheidende Frage war: Schwebte die Frau in Lebensgefahr? Oder hatte sie es lediglich mit einem lästigen, aber harmlosen Verflossenen zu tun? Wenn Stalking-Experten solche Fragen angehen, können sie sich mittlerweile auf eine beachtliche Zahl von Forschungsergebnissen stützen. Bis 2007 hatten weltweit 175 Studien gut 122 000 Fälle untersucht. Studienobjekte gibt es reichlich: Allein zwölf Prozent der Deutschen wurden nach einer Umfrage des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit schon mindestens einmal zu Stalking-Opfern. Von ihnen waren 87,2 Prozent Frauen und 12,8 Prozent Männer.

PROMI-JÄGER ODER VERFLOSSENER

Was die Stalker treibt und wie sie vorgehen, ist unterschiedlich. Um ihre Gefährlichkeit einschätzen zu können, hat der Stalking-Experte Paul Mullen von der Monash University im australischen Viktoria bereits 2000 eine Typologie entwickelt:

· Da gibt es den „männlichen Jagdstalker“, der einen meist sexuellen Angriff auf sein Opfer plant. Er genießt es, die Frau vorab zu ängstigen. Von diesem Stalker-Typ geht beträchtliche Gefahr aus.

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· Der „inkompetente Verehrer“ wirkt nur gefährlich, weil er der Angebeteten beharrlich nachstellt. Er weiß jedoch schlicht nicht, wie er eine Frau angemessen umwerben kann und ist deshalb sehr unsensibel. Hat er keinen Erfolg, gibt er schnell auf.

· Der „ärgergetriebene Stalker“ versucht, sich mit Psychoterror für vermeintliches Unrecht zu rächen. Auch er scheint gewaltbereiter, als er ist. Ihm reicht es, Angst und Schrecken zu verbreiten, um seine Ohnmachtsgefühle zu vergessen.

Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Typologie nicht ausreicht. Manche Stalker passen nicht ins Schema oder wechseln den Typ. Das Team des Stalking-Forschers Reid Meloy von der University of California in San Diego entwickelte daher die RECON-Typologie (abgekürzt von RElationship and CONtext-based). Deren zwei Haupttypen beruhen auf der objektiv feststellbaren Ausgangskonstellation statt auf der schwer greifbaren Motivation des Täters. Der eine Typ umfasst die Stalker, die ihr Opfer nicht persönlich kennen. Darunter fallen die Jäger von Prominenten, die das Phänomen des Stalkings vor einigen Jahrzehnten bekannt gemacht haben. Die meisten haben eine Wahnerkrankung, die sie aber überraschenderweise nicht gefährlicher, sondern harmloser macht, wie die Daten zeigen. Prominente müssen häufig mit unerwünschter Zuwendung fertig werden: 80 Prozent der deutschen Fernsehmoderatoren haben einschlägige Erfahrungen, wie eine Umfrage von Hoffmann ergab. In der Regel bleibt es bei Treueschwüren und Drohungen. Aber eine Fernsehmoderatorin wurde auch angegriffen und gewürgt.

Riskant wird Stalking dann, wenn sich Täter und Opfer kennen – das ist der zweite RECON-Typ. „Je enger menschliche Beziehungen sind, desto gefährlicher können sie sein“, sagt Hoffmann. Folgerichtig geht die größte Gefahr von denen aus, die das – meist weibliche – Opfer einmal geliebt haben. „Die meisten Leute glauben: Wir hatten doch eine Beziehung, so schlimm kann er nicht werden“, bemerkt dazu die britische Kriminalpsychologin Lorraine Sheridan. „Aber in Wirklichkeit sind Ex-Partner die gefährlichsten.“ Studien in verschiedenen Ländern ergaben bei stalkenden Verlassenen ein Gewaltrisiko zwischen 55 und 89 Prozent. Für die von ihrem Ex-Freund verfolgte Silke Peters bedeutet diese Erkenntnis nichts Gutes: Stalkende Ex-Partner lassen sich nicht leicht abschütteln.

Das merkte Silke Peters, als sie vor Gericht ein Kontaktverbot durchsetzte. Unbeeindruckt rief ihr Verfolger weiter an. Wenn Ex-Partner sich so an die alte Liebe klammern, hat das häufig mit ihrer Vorgeschichte zu tun. Viele sind geschieden, andere hatten noch nie eine längere Partnerschaft. Meist konnten sie schon als Kind keine normale Bindung aufbauen, etwa weil der Vater fehlte oder die Mutter abweisend reagierte. Solche Bindungsstörungen machen es ihnen später unmöglich, mit den stürmischen biochemischen Prozessen umzugehen, die sich im Gehirn beim Verlieben und Verlassenwerden abspielen.

DIE MAGISCHE GRENZE: ZWEI WOCHEN

Bei Verliebten steigt im Gehirn die Menge an Dopamin, eines Nervenbotenstoffs, der für zusätzliche Energie sorgt. Er lässt überdies den Serotoninspiegel sinken, was die Impulsivität erhöht – bei Verliebten wie bei Stalkern. Wenn der Partner sich zurückzieht, bleibt das Dopamin des Verlassenen hoch. In der sogenannten Protestphase liefert es die Energie für die Anstrengung, den oder die Verflossene(n) zurückzugewinnen. Etwa die Hälfte der Stalker hört mit den Nachstellungen nach wenigen Tagen wieder auf – dies gilt vor allem für Fremde. Doch wer länger als zwei Wochen verfolgt wird, muss damit rechnen, viele Monate oder gar Jahre belästigt zu werden.

Silke Peters durfte also nicht hoffen, dass ihr Ex-Freund nach sechs Monaten bald aufgeben würde. Hatte er sie anfangs aus der Ferne mit Anrufen verfolgt, trieb er sich nun auch in der Nähe ihrer Wohnung herum. Manchmal sah sie ihn, manchmal erwähnte er am Telefon Dinge, die er beobachtet haben musste. Hoffmann hielt diese Annäherung für gefährlich. Kein gutes Zeichen war auch, dass der Ex seinen Job verloren hatte. Damit fiel ein stabilisierender Faktor weg, und der Mann hatte mehr Zeit für seine Verfolgungen. Manche Stalker kündigen sogar extra, um sich auf ihren neuen Lebensinhalt konzentrieren zu können. Der Psychiatrieprofessor Harald Dreßing vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit weiß von Männern, die sich „18 Stunden am Tag praktisch nur noch mit dem Verfolgen der ehemaligen Partnerin beschäftigen“.

Zwar war Silke Peters Exfreund nie zuvor durch Gewaltakte aufgefallen, doch das wertete Hoffmann nicht als Entwarnung. Denn möglicherweise – die Studien widersprechen sich hier – fügen Täter mit Vorstrafenregister ihren Stalking-Opfern eher leichte Verletzungen zu. Schwere Körperverletzung bis hin zum Totschlag begehen hingegen meist Täter, die vorher nicht kriminell waren. Weil Hoffmann nicht sicher war, wie Silke Peters Exfreund reagieren würde, empfahl er ihr, ein paar Tage wegzufahren, als erneut ein Kontaktverbot verhängt wurde. Der Psychologe riet der Frau auch davon ab, sich öffentlich mit einem anderen Mann zu zeigen, weil das als Provokation verstanden werden könnte. Allgemein gilt: Treffen mit dem Stalker sind zu vermeiden, doch für unerwartete Begegnungen sollte das Opfer gewappnet sein. Denn die instinktiven Reaktionen Kampf und Flucht sind beide falsch. Ein Wortgefecht verlängert den Kontakt und eskaliert leicht. Auch Wegdrehen kann gefährlich sein, wenn es als endgültige Zurückweisung wahrgenommen wird, warnt Hoffmann. Der Psychologe empfahl Silke Peters, etwas Banales zu sagen wie: „Ich muss jetzt weiter.“.

Bislang war die zermürbte Frau noch gelegentlich ans Telefon gegangen, wenn ihr Ex-Freund anrief. Ein Kardinalfehler, meint die britische Psychologin Lorraine Sheridan: „Wenn der Stalker Sie 50-mal am Tag anruft und Sie nach stundenlangem Klingeln abheben, dann signalisieren Sie ihm: Du musst mich 50-mal am Tag anrufen, um eine Reaktion zu bekommen.“ Schließlich setzte Silke Peters das richtige Signal: Sie brachte ihren Verfolger vor Gericht. Die Kammer legte eine hohe Geldbuße fest, wenn er sie weiter belästigen würde. Das wirkte. Die Verfolgung hörte auf. ■

JOCHEN PAULUS, Psychologe und freier Journalist in Frankfurt/Main, beschäftigt sich häufig mit Themen aus dem Umfeld des Verbrechens.

von Jochen Paulus

TIPPS FÜR OPFER

Was man tun sollte, wenn man von einem Stalker belästigt und verfolgt wird:

· Dem Stalker sofort klar machen, dass man keinen Kontakt wünscht. Sich bei Ex-Partnern nicht auf eine „allerletzte“ Aussprache einlassen.

· Nicht ans Telefon gehen und keine Briefe beantworten, damit der Stalker ins Leere läuft.

· Geschenke nicht zurückschicken – das könnte als Kränkung empfunden werden.

· Konsequent bleiben!

· Alle Vorkommnisse – was der Stalker schickt, mitteilt und unternimmt – in einen Kalender eintragen, damit Beweise vorliegen.

· Keine persönlichen Unterlagen in den Hausmüll werfen.

· Schutz bei Telefonterror und Stalking via Computer (Cyber-Stalking): Geheime Rufnummer, Fangschaltung, Zweitanschluss, neue E-Mail-Adresse.

· Öffentlichkeit schützt: Das gesamte Umfeld (Familie, Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn) informieren.

· Vertrauten Personen von Sorgen und Ängsten berichten.

· Bei gesundheitlichen Problemen in Folge des Stalkings ärztliche und/oder psychotherapeutische Hilfe suchen.

· Bei einer akuten Bedrohung – wenn der Stalker in die Wohnung eindringt oder ein körperlicher Angriff droht – die Polizei über den Notruf 110 alarmieren.

· Wenn ein Stalker im Auto folgt, zur nächsten Polizeidienststelle fahren.

· Anzeige bei der Polizei erstatten. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, wirkt schnelles und konsequentes Einschreiten der Polizei.

HILFE IM INTERNET

Polizei: www.polizeiberatung.de

Weisser Ring: www.weisser-ring.de

Deutsche Stalking-Opferhilfe e.V.: www.deutsche-stalkingopferhilfe.de

DAS ANTI-STALKING-GESETZ

Die Justiz kann sich seit letztem Jahr um Verfolgte kümmern, ohne rechtliche Hilfskonstruktionen bemühen zu müssen. Denn seit 31. März 2007 ist der Paragraf 238 im Strafgesetzbuch in Kraft, der Nachstellung strafbar macht. Danach wurden im Jahr 2007 insgesamt 11 401 entsprechende Fälle erfasst, 88,4 Prozent davon wurden aufgeklärt.

Der Paragraf 238 im Wortlaut:

Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, indem er beharrlich

1. seine räumliche Nähe aufsucht,

2. unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über Dritte Kontakt zu ihm herzustellen versucht,

3. unter missbräuchlicher Verwendung von dessen personenbezogenen Daten Bestellungen von Waren oder Dienstleistungen für ihn aufgibt oder Dritte veranlasst, mit diesem Kontakt aufzunehmen,

4. ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder einer ihm nahe stehenden Person bedroht oder

5. eine andere vergleichbare Handlung vornimmt

und dadurch seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

KOMPAKT

· Riskant ist Stalking vor allem dann, wenn sich Täter und Opfer kennen.

· Stalkende Ex-Partner haben häufig eine Bindungsstörung aus der Kindheit.

· Wahnvorstellungen machen einen Stalker wider Erwarten nicht gefährlicher.

MEHR ZUM THEMA

LESEN

Jens Hoffmann, Hans Voss (Hrsg.) PSYCHOLOGIE DES STALKING Grundlagen – Forschung – Anwendung Verlag für Polizeiwissenschaft Frankfurt a.M. 2006, € 24,90

Harald Dressing, Peter Gass STALKING! Verfolgung, Bedrohung, Belästigung Hans Huber, Bern 2005, € 17,95

Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser (Hrsg.) DER RISS IN DER TAFEL Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule Springer, Heidelberg 2007, € 29,95

Jens Hoffmann, Isabel Wondrak (Hrsg.) AMOK UND ZIELGERICHTETE GEWALT AN SCHULEN Früherkennung, Risikomanagement, Kriseneinsatz, Nachbetreuung Verlag für Polizeiwissenschaft Frankfurt 2008, € 14,80

Inge Seiffge-Krenke (Hrsg.) AGGRESSIONSENTWICKLUNG ZWISCHEN NORMALITÄT UND PATHOLOGIE Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2005, € 26,90

INTERNET

Übersicht des Bundesjustizministeriums „Was ist Stalking?“ www.bmj.bund.de/stalking

Arbeitsgruppe „Stalking“ der TU Darmstadt: www.stalkingforschung.de

Kostenlose Arbeitsblätter zum „School Shooting“ des Instituts für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie unter www.igak.org/tafel

Seminare zu Schulgewalt und Stalking: www.institut-psychologie-sicherheit.de

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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