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Sezieren mit der Maus

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Sezieren mit der Maus
Berner Rechtsmediziner entdecken mit Tomographen und leistungsstarken Computern in den Leichen Ermordeter neue Indizien über Tat und Täter.

Die Äuglein listig, die Stimme charmant neckisch: Immer wieder fordert der Rechtsmediziner Richard Dirnhofer seine Kollegen in den Seziersälen und die Gerichte heraus. In den Achtzigerjahren überzeugte er die Forensiker von der Beweiskraft der Gen-Tests. Heute attackiert er die Hauptbeschäftigung der Rechtsmediziner, die Leichenöffnung: „Wirkliche Leichenöffnungen wird es in zehn Jahren nicht mehr geben“, präsentiert der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern lächelnd seine provokante These.

Dirnhofer und sein Forschungsleiter Michael Thali wollen den Rechtsmedizinern effektivere Mittel als Leichenöffnungen an die Hand geben. Ihr geschütztes Label heißt Virtopsy, die „besser geeignete Autopsie“, abgeleitet vom lateinischen Wort „virtus“ für Tüchtigkeit. Die Berner Rechtsmediziner scannen Leichen von Kopf bis Fuß in 3D – in einer Auflösung von einem halben Millimeter. Für ihre Gesamtaufnahme der Toten haben sie Technologien aus der Medizin und dem Autodesign zusammengeführt.

Thali ging dazu zwei Jahre bei den Berner Radiologen Peter Vock und Gerhart Schroth in die Lehre. Er lernte mit Magnetresonanz- und Computer-Tomographie Bilder zu machen und diese zu lesen. Erst dann kamen vor fünf Jahren die ersten Leichen in den Scanner. Die Berner verwenden zwei verschiedene Methoden für ihre virtuellen Autopsien:

• Das Magnetresonanz-Verfahren zeigt die verschiedenen Gewebe äußerst exakt in Grauschattierungen.

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• Mit der Computer-Tomographie, einem dreidimensionalen Röntgenverfahren, lässt sich eine Leiche innerhalb von weniger Minuten komplett aufnehmen.

Rechtsmediziner und Radiologen waren gleichermaßen begeistert. „Wir müssen uns mit der Strahlendosis nicht zurückhalten und kriegen deshalb schönere Bilder als die Mediziner“, sagt Dirnhofer.

Den Forschern reichte dies noch nicht. Um ein Messer einer Stichwunde oder ein Gebiss einer Bisswunde zuzuordnen, brauchen sie ein hochpräzises Abbild der Oberfläche. Fündig wurden sie im Schweizer Kanton Aargau bei der Firma GOM. Mit deren System, eigentlich entwickelt für Autobauer, können Designer ihre Prototypen basteln und dann in 3D einscannen – mikrometergenau. Den Scan haben die Rechtsmediziner weiterentwickelt. Sie legen über die Datenwolke die Originalfarbe der Leichenhaut. Die virtuelle Leiche speichern sie auf einer CD – rund 200 davon haben sie inzwischen zusammen. „Von jeder steht eine Kopie in einem Banksafe“, sagt Thali. Es ist der Schatz ihrer gesamten Erfahrung. Klassisch autopsiert werden erschlagene, vergiftete und ertränkte Menschen seit über 200 Jahren. „Um gegenüber diesem Wissen bestehen zu können, müssen wir besser sein. Nur so wird Virtopsy im Gerichtssaal akzeptiert“, weiß Dirnhofer. Mit einzelnen Anwendungen haben sie bereits überzeugt. Gilt es etwa, Luftblasen in Blutgefäßen nachzuweisen, ist Virtopsy überlegen. Denn beim Öffnen der Leichen drohen sich diese Indizien buchstäblich in Luft aufzulösen.

Im Gerichtssaal durchgesetzt haben sich auch die Oberflächens-Scans – besonders spektakulär bei einem dreifachen Prostituiertenmord in Bern. Eine der toten Frauen hatte eine tiefe Bisswunde an der Schulter. Der verdächtigte Freier gestand Sex mit den Frauen ein, wollte sie aber weder gebissen noch ermordet haben. Gen-Tests an der Bisswunde versagten. Thalis Team scannte die Bisswunde und das Gebiss des Freiers sowie anderer Männer zum Vergleich. Der Clou: Am Computer ließen sich Wunde und Gebiss nicht nur dreidimensional ineinander legen. Die Forscher konnten auch die Bissbewegung und die Abwehr der Frau simulieren. In der Animation passte nur ein Gebiss perfekt: jenes des Freiers. Das Gericht verurteilte ihn.

Ihr Röntgenblick hat die Berner Radiologen Indizien in den Leichen entdecken lassen, die in all den Jahrhunderten der klassischen Leichenöffnung niemand bemerkt hatte. „Mit Virtopsy schauen wir immer vom Scheitel bis zur Sohle“, sagt Dirnhofer. So fanden erst die Virtopsy-Forscher durch ihre Ganzkörper-Scans heraus, dass bei Ertrunkenen die „inneren Totenflecken“ fehlen, die sonst durch Blut entstehen, das nach dem Tod nach unten sackt.

Virtopsy hat noch einen Vorteil: Tauchen Jahre nach der Tat neue Indizien auf, lassen sich diese an den gespeicherten Leichen-Scans erneut prüfen. Die Leichen selbst sind dann bereits verwest. Dies ist auch deshalb wichtig, weil zwischen Tat und Verurteilung oft Jahre vergehen.

Ein Verbrechen auszuschließen, ist in der Rechtsmedizin zentral. „Die meisten unserer Toten, etwa 70 Prozent, sind natürlich gestorben, durch Suizid oder bei einem Unfall. Tötungsdelikte gibt es in der Schweiz pro Jahr weniger als 100″, sagt Thali. So landen im rechtsmedizinischen Institut in Bern auch viele, die an einem Herz-Kreislauf-Versagen gestorben sind, der häufigsten Todesursache in Industrieländern. Selbst dieses können die Berner Forscher seit Kurzem am Bildschirm nachweisen: Um verstopfte oder defekte Blutgefäße aufzuspüren, müssen die Rechtsmediziner den Toten ein Kontrastmittel durch den Kreislauf pumpen. Das Problem war lange Zeit, dass Kontrastmittel auch durch intakte Gefäßwände sickerte. Die Forscher tüftelten an toten Hunden und Katzen – bis es klappte: Nun spülen sie die Gefäße erst mit einer patentierten Substanz. Das Kontrastmittel tritt danach nur noch bei echten Lecks aus den Blutgefäßen.

Mit dem Trick räumten die Berner Rechtsmediziner einen wesentlichen blinden Fleck der virtuellen Autopsie aus. Bei zwei Todesursachen hapert es aber noch: bei leichten inneren Entzündungen und bei Vergiftungen. Entzündungen erkennen Rechtsmediziner bei der klassischen Autopsie über den Tastsinn: Das Gewebe zerbröselt. In den Scannern der Berner Forscher ist dies nicht auszumachen. Sie wollen nun bei Verdacht kleine Gewebeproben nehmen, um daran mögliche Entzündungen nachzuweisen.

Bei Vergiftungen hoffen Dirnhofer und Thali auf die sensibleren Magnetresonanz-Spektrometer. Mit diesen Geräten lassen sich einzelne Substanzen nachweisen – und so zum Beispiel der Todeszeitpunkt ermitteln. Nach Eintritt des Todes werden einige Stoffe auf- und andere abgebaut. Von 15 solcher Substanzen messen die Rechtsmediziner die Mengen in ihren Leichen. „Über Totenflecken, Starre und Temperatur lässt sich der Todeseintritt nur innerhalb der ersten beiden Tage bestimmen. Mit unserer Methode können wir das auch noch nach fünf bis zehn Tagen“, sagt Dirnhofer. Bei Vergiftungen versagt das Verfahren aber bislang. Denn die Giftmengen in Alkoholleichen und anderen Vergifteten sind meist zu gering, um sie mit heutigen Spektrometern nachzuweisen.

Die technischen Kniffe sind das eine. Weitaus schwieriger und langwieriger ist es, die Fachkollegen und die Gerichte zu überzeugen. Die virtuelle Autopsie war auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Hamburg im Herbst 2005 erstmals eines der Hauptthemen. Der Präsident der Gesellschaft, Stefan Pollak, glaubt jedoch nicht, dass solche bildgebenden Verfahren in den kommenden 20 Jahren zum Standard werden. „Die Bilder müssen von Erfahrung getragen sein“, erklärt er. Um Todesursachen wissenschaftlich gesichert mit virtueller Autopsie festzustellen, sei jahrzehntelange Forschung nötig. Tatsächlich bestätigen Thali und Dirnhofer ihre virtuellen Befunde stets mit einer klassischen Autopsie. Zudem müssten Rechtsmediziner in der Methodik erst speziell geschult werden, sagt Pollak: „In Bern ist die Situation einzigartig. Herr Thali ist radiologisch ausgebildet. Zudem arbeiten die Schweizer eng mit der radiologischen Abteilung des Spitals zusammen. Das gibt es anderswo nicht.“

Auch der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ist skeptisch. Er hat sich auf Hirnbilder spezialisiert. „2003 starben in Singapur Zwillinge, als man sie zu trennen versuchte. Der Grund: Die Bilder der Gehirne, anhand derer die Ärzte die Operation planten, stimmten nicht ganz mit der Hirnwirklichkeit überein.“ Dies zeige, dass Bilder nur Annäherungen, nie aber ein vollständiges Abbild sind. Auf die klassische Autopsie zu verzichten, findet Hagner deshalb riskant. „Zudem gibt es bei allen digitalen Bildern ein großes Problem: Sie sind beliebig fälschbar.“ Gerichte und Rechtsmediziner würden sich deshalb nicht so schnell mit einer reinen „Autopsie durch Bilder“ zufrieden geben.

Hagner warnt allerdings vor der Macht des Faktischen: „Stehen in den rechtsmedizinischen Instituten einmal die Apparate, dann muss man sie auch nutzen und verlässt sich vielleicht allzu schnell auf die Methode.“ Ein ganz entscheidender Faktor, ob sich die virtuelle Autopsie durchsetzen wird, seien deshalb die Kosten.

Noch lässt sich nicht abschätzen, was Scans kosten werden, wenn die Methoden zur Routineprozedur weiterentwickelt sind. Momentan spricht laut Pollak das Geld gegen die Methode. In Deutschland etwa hätten von den 35 rechtsmedizinischen Instituten nur jene in Heidelberg und Ulm Computer-Tomographen. „Jedes Jahr kriegen wir weniger Geld. Wir müssen schon froh sein, wenn in Deutschland die Institute bestehen bleiben“, sagt Pollak. Die Geräte und den Zusatzaufwand für die virtuelle Autopsie könnten die meisten Institute nicht finanzieren. Dirnhofer nimmt dies gelassen: „In den Achtzigern hat man auch gesagt, Gen-Tests seien nur in der reichen Schweiz möglich.“

Tatsache ist, dass die Geräte ständig en aufgerüstete Modelle laut Siemens billiger und schneller werden. Zudem kostnur noch einige Hunderttausend Euro. Bleibt das aufwendige Übereinanderlegen und Verarbeiten der Bilder. Dirnhofer blinzelt Thali zu: „Er träumt von einem kompletten Leichen-Scan auf Knopfdruck.“

Die Berner haben inzwischen die „Technical Working Group Forensic Imaging Methods“ gegründet. Das Gremium soll Qualitätsstandards für die virtuelle Autopsie international durchsetzen. „Die größte Gefahr für die Methode ist der Wildwuchs. Alle wollen aufspringen“, sagt Dirnhofer. Ein analoges Gremium hatte schon den Durchbruch von Gen-Tests erleichtert. Einige Forensiker erwarten denn auch eine ähnliche Revolution. Guy N. Rutty etwa, Herausgeber der Fachzeitschrift „Forensic Science, Medicine and Pathology“ ist überzeugt: „Die Forensik verändert sich. Bildgebende Verfahren werden in Zukunft einen ebenso großen Effekt haben wie Gen-Tests.“ ■

Der Biologe MARCEL FALK lebt als Wissenschaftsjournalist in Basel. Für bdw beobachtet er die Schweizer Forschungsszene.

Marcel Falk

COMMUNITY Internet

Homepage der Instituts für Rechtmedizin der Universität Bern: www.virtopsy.com/

Ohne Titel

• Mit Hilfe von Technologien aus Medizin und Autodesign untersuchen Forensiker Mordopfer.

• Bei der Autopsie mit Scannern wird die Leiche nicht beschädigt – und es kommen Details ans Licht, die sonst verborgen geblieben wären.

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