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Vergiss es!

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Vergiss es!
Forscher verstehen immer besser, wie das Vergessen funktioniert. Und sie nutzen ihr Wissen, um Traumapatienten zu helfen.

Manches wollen wir vergessen, um unseren Kopf nicht mit Dingen zu belasten, die nicht wichtig oder nicht mehr richtig sind. Zudem werden manche Menschen von Erinnerungen gequält, die sie unbedingt loswerden wollen: schambesetzte Peinlichkeiten oder traumatische Erinnerungen an Gewalt.

Lange Zeit haben Forscher geglaubt, Erinnern sei ein aktiver, Vergessen ein passiver Prozess. Man vergisst etwas, wenn das Erinnern nicht gelingt. Doch das hat sich als falsch erwiesen. „ Das Vergessen als Fehler im Erinnern anzusehen, ist biologisch sinnlos”, erklärt der Kognitionspsychologe Oliver Hardt von der Universität Edinburgh. „In der Biologie gibt es keinen passiven Zerfall. Das ist stets ein aktiver Prozess, der genetisch reguliert wird.” Gleiches gilt für das Vergessen, das darauf beruht, dass Verbindungen zwischen Neuronen abgebaut werden.

Erfahrungen bewirken, dass neue Strukturen im Gehirn entstehen. „Wir wissen ja meist vorher nicht, was wichtig ist. Da ist es gut, erst einmal alles zu speichern”, sagt Hardt. Aber dann wird aufgeräumt. Das heißt: Manche neuen Strukturen werden wieder abgebaut. Das Gehirn kann diesen Abbauprozess unterbinden, indem es das Verhältnis der verschiedenen Rezeptoren auf der Oberfläche bestimmter Neuronen verändert. So können wichtige Erfahrungen erhalten bleiben – etwa solche, die mit einer emotionalen Reaktion einhergingen.

Das Gehirn mag es einfach

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Der Psychologe Simon Hanslmayr von der Universität Birmingham hält das für sehr hilfreich: „Stellen Sie sich vor, Sie fragen jemanden nach dem Weg. Der erklärt ihnen ‚Erst rechts, dann zwei Mal links, dann geradeaus und über die Brücke.‘ Und als er fertig ist, fällt ihm ein, dass es einen viel einfacheren Weg gibt: ‚Da hinten durch die Unterführung.‘ Prompt vergessen Sie die erste Beschreibung und merken sich nur die einfache zweite.”

Um zu testen, ob dieses Vergessen aktiv oder passiv abläuft, gaben Hanslmayrs Kollegen Jon Fawcett und Tracy Taylor von der kanadischen Dalhousie-Universität ihren Probanden, die etwas gerade Gelerntes vergessen sollten, zusätzlich eine Denksportaufgabe. Die Forscher stellten fest, dass die Teilnehmer diese schlechter lösten als jene einer Vergleichsgruppe, die nicht zusätzlich mit dem Vergessen beschäftigt waren. „Das deutet darauf hin, dass das Vergessen kognitive Energie abzweigt, also ein aktiver Prozess ist”, folgert Hanslmayr. Das belegen auch Untersuchungen mit Elektroenzephalografie (EEG) und funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT): „Wir sehen dabei, dass im linken präfrontalen Kortex mehr Energie verbraucht wird, wenn etwas vergessen wird.” Die Hirnregion hat die Kontrolle darüber, welche Erinnerungen wir uns einprägen oder abrufen.

„Zugleich nimmt die Synchronisation der Hirnwellen im EEG ab”, hat der Forscher beobachtet. Die Synchronisation, also die neuronale Aktivität verschiedener Hirnareale im gleichen Takt, fördert das Entstehen von Gedächtnismustern. Nimmt sie ab, heißt das, dass Gedächtnisinhalte schlechter verankert werden. In einer Art Gegenprobe regten die Forscher den präfrontalen Kortex durch elektromagnetische Stimulation an. Erwartungsgemäß bewirkte das eine stärkere Desynchronisation der Hirnwellen und ließ die Probanden noch mehr vergessen.

Hilfe durch Hirnstimulation

Hanslmayr hofft, dass sich diese Erkenntnisse in neuen Therapien niederschlagen: „Wenn Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung Probleme haben, Erinnerungen zu vergessen, könnte das daran liegen, dass die Synchronisierung zwischen präfrontalem Kortex und Hippocampus nicht funktioniert. Das sind die Hirnregionen, die für die Ausbildung neuer Erinnerungen zuständig sind. Vielleicht könnte ihnen geholfen werden, wenn man die Areale gezielt stimuliert, unterstützend zu einer Psychotherapie.”

Der Neurowissenschaftler Michael Anderson von der Universität Cambridge verfolgt einen anderen Ansatz: „Wir haben bislang eine der wichtigsten Instanzen übersehen, die bestimmt, an was wir uns erinnern: uns selbst.” Wir versuchen gezielt, unerwünschte Erinnerungen loszuwerden: Wir werfen Dinge weg oder machen einen Bogen um bestimmte Orte. Ganze Schulgebäude werden abgerissen, damit sich die Erinnerung an einen Amoklauf nicht mehr aufdrängt.

Statt auf Stromimpulse setzt Anderson daher auf die Fähigkeit der Selbstregulation. „Denken Sie jetzt nicht an einen rosafarbenen Elefanten!” Unmöglich? Mit Konzentration gelingt das durchaus. Menschen können unerwünschte Vorstellungsbilder und Erinnerungen unterdrücken – mehr oder weniger gut, je nachdem, wie mächtig sich diese aufdrängen.

Um das zu belegen, hielten Anderson und seine Kollegen ihre Probanden zunächst an, sich Paare von Bildern und Wörtern einzuprägen, etwa „Pflicht” und ein Fernglas, „Weisheit” und einen Fußball, „Bedrohung” und einen Koffer. Dann sollten die Teilnehmer üben, nicht an das Bild zu denken, wenn sie das Wort gezeigt bekamen. Anschließend erhielten die Probanden die Aufgabe, die Bilder, deren Erinnerung sie zuvor unterdrückt hatten, vor einem verrauschten Hintergrund wiederzuerkennen. Das Ergebnis: Sie identifizierten diese tatsächlich deutlich schlechter als zuvor.

Ob dieses Verfahren in der Psychotherapie helfen kann, ist allerdings noch fraglich. Denn dort hat Verdrängen einen schlechten Ruf. Verdrängte Erinnerungen, so die Annahme, wirken unbewusst und machen krank. Der Neuropsychologe und Traumatherapeut Thomas Elbert von der Universität Konstanz ist – im Gegensatz zu Anderson – davon überzeugt, dass an der Vergegenwärtigung eines Traumas kein Weg vorbeiführt, um quälende Erinnerungen loszuwerden (siehe Kurzinterview links).

Mehr Furcht als nötig

Oliver Hardt verfolgt eine andere These: Vielleicht vergisst ein angstvolles Gehirn manchmal gar nicht zu wenig, sondern zu viel. Dafür spricht folgende Beobachtung: Ratten, die in einem Käfig einen elektrischen Schlag erhalten, übertragen ihre Angst mit der Zeit auf andere Umgebungen. Dann fürchten sie sich auch an Orten, an denen sie nichts Schlimmes erlebt haben. Das könnte daher kommen, dass die Tiere nicht mehr genau wissen, wo es ihnen schlecht erging. Man nennt das Angstgeneralisierung: Ein Mechanismus, den es auch beim Menschen gibt und der dazu führen kann, dass man sich mehr fürchtet als nötig.

In dem Fall müsste das Vergessen nicht gefördert, sondern aufgehalten werden. „Wir haben das getestet und den Tieren ein im Labor verändertes Peptid, eine Verbindung aus Aminosäuren, gegeben. Dies behinderte das Vergessen – und prompt fanden die Ratten einen zweiten Käfig nicht mehr zum Fürchten. Diese Methode bei Menschen einzusetzen, hält Hardt jedoch nicht für möglich.

Dominique de Quervain von der Universität Basel setzt dagegen bei der Erkenntnis an, dass Stress das Gedächtnis massiv beeinflusst – auf zweierlei Weise: Stress verbessert das Abspeichern von neuen Informationen, aber er kann auch das Abrufen von Gedächtnisinhalten hemmen. „Das kennen viele”, sagt de Quervain. „In der Prüfung sind sie furchtbar aufgeregt und können sich an das, was sie gelernt haben, nicht erinnern. Diese ärgerliche Erfahrung aber wird sehr gut abgespeichert. Man kann sich oft noch Jahre später sehr lebhaft daran erinnern.”

Schlechte Erfahrungen überschreiben

De Quervain wies nach, dass das Stresshormon Cortisol für die Abrufblockade verantwortlich ist. „Diese Entdeckung hat uns auf die Idee gebracht, dass die Wirkung, die man in Prüfungen nicht haben will, bei psychischen Erkrankungen positiv sein könnte.” De Quervain und seine Mitarbeiter gaben Probanden, die sich einer Konfrontationstherapie gegen Höhenangst unterzogen, eine Stunde vor der Therapiesitzung eine Tablette Cortisol. Dann mussten die Probanden sich ihrer Angst stellen, indem sie mit einer Virtual-Reality-Brille über eine virtuelle Schlucht balancierten. Das Ergebnis: Sie empfanden weniger Angst als die Kontrollgruppe, die nur ein Scheinpräparat genommen hatte. Und der Effekt erwies sich auch als dauerhafter.

Die Erklärung der Forscher: Das Cortisol hemmt den Abruf der angstbeladenen Gedächtnisinhalte und fördert zugleich das Abspeichern einer neuen Gedächtnisspur, die in der Therapie ausgebildet wird: Höhe wird nicht mehr als erschreckend wahrgenommen.

Versuche, die Ausbildung einer traumatischen Erinnerung unmittelbar nach einem Ereignis mithilfe von Betablockern zu verhindern, blieben dagegen hinter den Erwartungen zurück. „ Vielleicht war man mit der Medikation einfach zu spät dran”, vermutet der Forscher.

Oliver Hardt fasst zusammen: „Dass wir vergessen können, ist ein großer Segen und wir sollten uns nicht darüber beklagen. Wenn jemand vergisst, wie er einen Löffel halten muss oder sogar, wer er ist, dann ist das problematisch. Aber wenn man vergisst, wo man seinen Schlüssel hingelegt hat, ist das höchstwahrscheinlich ein Anzeichen, dass das Vergessenssystem intakt ist.” •

Text von Manuela Lenzen, Illustrationen von Stefan Bachmann

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