Homöopathische Tinkturen gegen Übelkeit oder ein warmes Bad gegen Erkältungen – ob diese „weichen“ medizinischen Methoden helfen, ist oft reine Glaubenssache. Dagegen scheint die Chirurgie auf handfesten Tatsachen zu beruhen, über die es wenig zu diskutieren gibt. Doch Experten des medizinischen Studienzentrums Chirurgie an der Universität Heidelberg sehen das ganz anders. „Derzeit sind für weniger als 15 Prozent aller Fragen in der Chirurgie Daten aus kontrollierten Studien verfügbar“, schreiben sie in ihrem „Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie“ im Deutschen Ärzteblatt. Das heißt, bei sechs von sieben Operationsmethoden fehlt bis heute eine streng wissenschaftliche Untersuchung, ob es nicht besser wäre, den Eingriff von vornherein bleiben zu lassen. Um dies zu überprüfen, sind Studien vonnöten, in denen Patienten einer Behandlungsgruppe und einer unbehandelten Kontrollgruppe zugeordnet werden. Bei Medikamententests bekommt die Kontrollgruppe ein wirkstofffreies Placebo verabreicht, das äußerlich dem neuen Medikament gleicht. Doch wie kann ein solches Placebo in der Chirurgie aussehen? Hier bleibt in letzter Konsequenz nur der Weg, die Hälfte der Patienten einer Scheinoperation zu unterziehen, und sie eine Zeit lang in dem Glauben zu lassen, sie wären tatsächlich operiert worden. Chirurgen, die solche Studien initiieren, wird häufig eine fragwürdige medizinische Ethik vorgeworfen.
Die Heidelberger Experten zählen eine ganze Reihe aktueller Untersuchungen auf, die ihre Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit in der Chirurgie eindrucksvoll untermauern. Denn so manche etablierte Operationstechnik entpuppt sich auf dem Prüfstand der kontrollierten Studie als echter Rohrkrepierer.
So haben amerikanische Chirurgen 90 Patienten mit schmerzhaftem Gelenkverschleiß (Arthrose) im Knie das geschädigte Knorpelgewebe entfernt. Bei 90 weiteren Patienten wurde lediglich die Haut aufgeschnitten, damit sie nach dem Aufwachen aus der Narkose den Eindruck hatten, sie seien wirklich operiert worden. Ergebnis: Die Operation konnte die Schmerzen um 50 Prozent reduzieren – aber exakt denselben Erfolg hatte auch der Placebo-Eingriff.
Die moderne „Schlüsselloch-Operation“ an der Gallenblase ist nach einer britischen kontrollierten Studie ebenfalls fragwürdig. Der Eingriff dauert länger als eine herkömmliche Operation am offenen Bauch, und die Patienten kommen mit der neuen Technik auch nicht schneller wieder auf die Beine – obwohl dies stets als angeblicher Vorteil hervorgehoben wird.
Weiteres Beispiel: Schwedische Forscher haben Männer mit einem Prostata-Krebs entweder operiert oder einfach ohne Eingriff weiter beobachtet. In beiden Gruppen starben innerhalb von sechs Jahren gleich viele Patienten. Allerdings klagten 80 Prozent nach dem Eingriff über Impotenz und 49 Prozent über Inkontinenz. Vor diesem Hintergrund ziehen die Heidelberger Experten ein eindeutiges Fazit: Nicht die Placebo-Chirurgie sei fragwürdig, sondern es wäre unethisch, weiter Patienten zu operieren, ohne sie auf die Ergebnisse dieser Studien und die möglichen Nebenwirkungen der Eingriffe hinzuweisen. Dr. Ulrich Fricke
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