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Zum Wohlsein: Seemannskot und Taubendreck

Geschichte|Archäologie Gesundheit|Medizin

Zum Wohlsein: Seemannskot und Taubendreck
Mesopotamische Ärzte schützten ihr Wissen mit Geheimnamen, die manchen Heilpraktiker bis heute narren.

„Das Kotstück sollte noch warm sein. Und weich. Je natürlicher die Farbe, desto besser. Kneten Sie den morgenfrischen Batzen zu einem Umschlag und legen Sie ihn sich auf die Brust. Wie in der Urintherapie wirken auch in der Stuhlbehandlung am besten die eigenen Exkremente. Doch heben Sie einige Stückchen auf. Geht der Husten binnen drei Tagen nicht weg, wickeln Sie den Rest in eine Oblate und schlucken ihn hinunter!”

Was wie eine eklige Satire klingt, gehört so oder ähnlich längst zum Therapieangebot diverser Heilpraxen und Internet-Foren – auch wenn viele Anwender damit nicht an die Öffentlichkeit gehen: „Ich bin überzeugt, dass mehr Menschen die Eigenharn- und Eigenstuhltherapie anwenden, als es nach außen verkündet wird”, sagt Hans Höting, Heilpraktiker in Bremen. Der Verfasser etlicher Urin-Ratgeber glaubt fest an die Wirkung der „Dreck-Medizin”: „ Nur wie sie wirkt, hat noch niemand bewiesen.” Wozu auch? Die zweitausendjährige Tradition sei Indiz genug: Im Mittelalter galt der Straßendreck als Universalmedizin. Selbst Hippokrates empfahl Urin als Therapeutikum. Und aus dem alten Irak, der Wiege der Zivilisation, stammen die ersten „Dreck-Rezepte” der Welt.

Doch deren Verfasser hatten etwas anderes im Sinn, als ihren Kranken übelriechende Substanzen zu verabreichen, wie Forscher inzwischen erkennt haben. Anfang des letzten Jahrhunderts stießen Archäologen im Irak auf Teile einer alten Tontafelsammlung, die das gesamte Drogeninventar Mesopotamiens zusammenfasst. Der letzte assyrische Herrscher Assurbanipal gab dieses Arzneimittellexikon namens Uruanna im siebten Jahrhundert vor Christus in Auftrag. Auf einer der stark beschädigten Tafeln machten Altorientalisten eine erstaunliche Entdeckung: Die mesopotamischen Ärzte hatten einigen Heilkräutern einen zweiten, bizarren Namen gegeben. Dass sie eine Tabelle zur Entzifferung von Decknamen in den Händen hielten, erkannten die Forscher damals nicht.

„In den Rezepturen selbst deutet nichts daraufhin, dass es sich um Geheimnamen handelt”, sagt Martin Worthington, Altorientalist an der University of Cambridge. In einer altbabylonischen Heilanweisung heißt es zum Beispiel: „ Menschenkot verarbeitest du mit dem Urin eines Hundes zu einem Brei und verbindest [den Patienten] damit.” Da von der Tontafel ein Stück abgebrochen ist, wissen die Forscher nicht, woran der Kranke gelitten hat. Doch was sie inzwischen erkannt haben: Welches Leiden ihn auch quälte, an „Menschenkot” wäre er garantiert nicht gesundet. Warum? Die dritte Tafel Uruannas liefert den entscheidenden Hinweis:

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„In der linken Tafelspalte stehen überwiegend Pflanzennamen und rechts daneben seltsame oder ekelerregende Substanzen: menschliche Knochen, Menschenfett, Seemannskot, Fledermauskopf, Taubendreck. Und dazwischen taucht immer wieder dasselbe Keilschriftzeichen auf”, erklärt Worthington, der Teile des Arzneimmittel-Lexikons für bild der wissenschaft übersetzte, denn eine vollständige Übertragung der Tabellen in eine moderne Sprache gibt es bislang nicht. Die Tafeln verstauben seit fast 100 Jahren in den Museen von Berlin und London. In altorientalistischen Kreisen schien das lange Zeit niemanden zu interessieren – die Forscher verstanden das geheimnisvolle Zeichen nicht.

Franz Köcher, Experte für altorientalische Medizin an der FU Berlin, ahnte zwar seit Jahrzehnten die Bedeutung dieses Symbols. Doch erst einige Jahre vor seinem Tod 2002 lüftete er in einem kleinen Artikel des Rätsels Lösung: Ganz zufällig hatte Köcher in einer lexikalischen Liste, einer Art sumerischem Wörterbuch, das mysteriöse Zeichen entdeckt. Es bedeutet „Geheimnis”.

„Jetzt wissen wir, dass wir eine merkwürdige oder gar ekelerregende Rezeptzutat nicht wortwörtlich interpretieren dürfen”, sagt Worthington. Wenn ein babylonischer Patient also mit „Menschenkot” eingerieben werden soll, dann verrät die Decknamenliste das tatsächliche, aber geheim zu haltende Heilkraut: in diesem Fall eine einheimische Pflanze namens Shumuttu. Welches Gewächs hinter diesem Namen steckt, wissen die Forscher nicht. Mehr ist über die Geheimzutaten gegen einen Hautausschlag bekannt: Hier sollte der Arzt unter anderem Wacholder, Malzabfall, Taubendreck und Weizenmehl mit Bier vermischen und den Kranken damit einreiben. Hinter dem Malzabfall verbirgt sich laut mesopotamischer Geheimtabelle der Echte Schwarzkümmel (Nigella sativa), und der Taubendreck meint die Samen eines vorderasiatischen Mimosengewächses namens Prosopis stephaniana.

Aber warum die Geheimniskrämerei? „Das medizinische Wissen sollte wohl den Uneingeweihten verborgen bleiben”, erklärt Altorientalist Worthington. Eine geschickte Täuschung – mit fatalen Folgen: „Sicher ist”, so Worthington, „dass die mesopotamische Medizin Eingang in den Talmud und in die hippokratischen Schriften fand” – und somit die europäische Medizin mitgeprägt hat. „Die Decknamen könnten dafür verantwortlich sein, dass Jahrhunderte später die ‚Dreck-Medizin‘ tatsächlich angewendet wurde.”

Denn dieselben seltsamen Bezeichnungen tauchen bis ins 19. Jahrhundert immer wieder auf. Christian Franz Paullini (1643 bis 1712) fasste sie in seiner mehrmals wiederaufgelegten „Heilsamen Dreck-Apotheke” zusammen. In vielen Rezepten empfiehlt der Mediziner „Menschenkoth” oder „Menschen-Urin, sonderlich des Patienten eigenen”. Gern auch Tierprodukte: Katzenaugen, Taubenkot oder Froschleber – zum Inhalieren, Einsalben oder Hinunterschlucken.

Bleibt die Frage: Könnten moderne Urin- oder Stuhlbehandlungen trotz aller mesopotamischen Täuschungmanöver einen gesundheitsfördernden Effekt haben? Paullini konnte den Wirkungsmechanismus medizinisch nicht erklären. Also berief er sich auf mittelalterliche und antike Kollegen, die körpereigene Stoffe traditionell zum Heilen einsetzten. Heutige Dreck-Apotheker nutzen die gleiche Strategie: Sie beziehen sich auf Paullini.

„Solange es keine Studien gibt, gilt die Wirksamkeit als unbewiesen”, lautet Edzard Ernsts Urteil über die alte und neue Dreck-Medizin. Er sollte es wissen: Der Leiter der Abteilung für Komplementärmedizin an der englischen Universität Exeter hat einige skurrile Methoden auf ihre Heilkraft überprüft. Gleichwohl schätzt Ernst sowohl Urin- als auch Stuhltherapie als relativ ungefährlich ein: „Die Risiken sind nicht so hoch, wie es einem der Ekelfaktor suggeriert.”

Wer dennoch einen Selbstversuch wagen will, hier ein Rezept der alten Babylonier: „Sechs Liter Bier, einen Liter fein gebrautes Bier und einen halben Liter Öl kochst du auf dem Feuer, gießt es in sein Rektum und dieser Mensch wird gesund werden!” Dieses Universalheilmittel – eine Urform des heutigen Einlaufs – soll seinen Erfindern zufolge gegen die hartnäckigsten Krankheiten helfen . Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie jedoch besser Ihren Arzt oder Apotheker. ■

Tina Suchanek

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