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Gewöhnliche Menschen und ihr gewöhnliches Leben

Gesundheit|Medizin Kommentare

Gewöhnliche Menschen und ihr gewöhnliches Leben
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Nicht nur die Gene verhelfen Kindern zu einem erfolgreichen Leben. (Foto: Choreograph/iStock)
Heute versuchen Genetiker, aus dem Erbgut abzulesen, was aus einem Menschen wird. Aber die Wissenschaft geht dieser Frage schon seit Jahrzehnten nach: Im britischen „Life Project“ werden seit dem Zweiten Weltkrieg 70.000 Menschen regelmäßig untersucht. Die Forscher haben ermittelt, was – neben dem sozialen Status der Eltern – den Kindern zu einem erfolgreichen Leben verhilft. Es gibt weit mehr Faktoren als die Gene.

In diesen Tagen macht die Nachricht die Runde, dass inzwischen das genetische Material von einer Millionen Menschen offengelegt – sequenziert – worden ist. Das Interesse der Genetiker konzentriert sich auf die Teile des Genoms, die dazu benutzt werden, Proteine anzufertigen. Die Variationen in dieser besonderen DNA von über 60.000 Personen lassen sich dabei inzwischen analysieren. Dieser noch nicht ganz erreichte, aber erwartete Erfolg kommt zu einer Zeit, in der eine auf siebzig Jahre angelegte Studie, die das Leben von 70.000 gewöhnlichen Briten verfolgt hat, in aller Ausführlichkeit vorgestellt wird. „The Life Project“ heißt das Buch, das über eine Kohortenstudie berichtet, die 1946 begonnen worden ist – also zu einem Zeitpunkt, da noch niemand wusste, wie das Erbmaterial des Menschen aussieht.

Im März 1946 – nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – haben Mitarbeiter des „National Survey of Health and Development“ damit begonnen, Details über die Geburt von nahezu jedem Kind zu sammeln, das damals in England, Schottland oder Wales zur Welt gekommen ist. Mit über 13.000 Müttern wurden ausführliche Interviews durchgeführt, in denen nach der Zahl der Zimmer gefragt wurde, in denen eine Familie lebte, und in denen man wissen wollte, wie viele Windeln für den Neuankömmling angeschafft worden sind. In den folgenden Jahren hat die Studie das Leben von 5362 der 1946 geborenen Kinder protokolliert, wobei 1958, 1970, 1991 und 2000 neue Kohorten mit in die Studie aufgenommen wurden, wodurch zuletzt mehr als 70.000 Briten erfasst wurden, die damit zu den am ausführlichsten analysierten Menschen des Planeten Erde gehören.

Viele haben es trotzdem geschafft

In ihrem Buch „The Life Project“ schildert Helen Pearson die Interviews, die sie mit Personen führen konnte, die mindestens fünf Jahre in dem Projekt involviert waren. Man erfährt einiges über das subjektive Gefühl des Wohlbefindens, man lernt die Einschätzung der Projektteilnehmer durch Eltern, Lehrer und Schulärzte kennen. Man erfährt, wie der im Hintergrund der Geschichte sich aufbauende Mut, ein Humanes Genomprojekt in Angriff zu nehmen, die Initiatoren des „Life Projects“ dazu brachte, biochemische Daten über das Blut, über Fingernägel, über Haare und Zähne zu sammeln, was unter anderem dazu führte, dass allein aus der Kohorte von 1991 anderthalb Millionen Proben archiviert worden sind.

Abgesehen davon, dass das Vergnügen am Sammeln von Daten offenbar zu den Tugenden von Gesundheitsbehörden zählt, zeigt ein sachlicher Blick auf die vielen Zahlen, dass das höchste Risiko für die Gesundheit oder Überlebensfähigkeit eines Kindes das niedrige Einkommen seiner Eltern war. Frauen in den niedrigsten sozioökonomischen Klassen hatten mit sehr viel höheren Wahrscheinlichkeiten Totgeburten als Frauen aus höheren sozioökonomischen Kreisen, und Kinder aus armen Familien wuchsen langsamer als ihre bessergestellten Freunde. Doch wenn dies auch eher fatalistisch klingt, „The Life Project“ zeigt darüber hinaus, dass es möglich ist, Nachteile zu überwinden und über Widerwärtigkeiten des Lebens zu triumphieren. Die Betreiber des Projektes identifizierten mehrere Faktoren – das Interesse der Eltern an ihren Kindern, ein nicht zu laxes Schulsystem, inhärente Motivation der Schülerinnen und Schüler, den geografischen Ort –, die in der Lage waren, den Erfolg eines Kindes vorherzusagen.

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Heute fehlt es an Freiwilligen

„The Life Project“ hat eine Menge Themen analysiert – etwa das Risiko bei einer Hausgeburt oder die Auswirkungen von Rauchen und Luftverschmutzung auf die Gesundheit –, und eigentlich sollte man erwarten, dass das ganze Vorhaben nun in die nächste Runde geht. Im März 2011, als die Mitglieder der ursprünglichen Kohorte ihren 65. Geburtstag feiern konnten, wurde die Bildung einer neuen Kohorte in Angriff genommen. Die Forscher rechneten damit, mehr als 10.000 Frauen dafür interessieren zu können, doch es meldeten sich nicht einmal 250. So steckt das Projekt im Augenblick fest, und wie Helen Pearson schreibt, wer weiter „some of the mysteries about science and society“ klären will, muss andere Wege gehen.

Übrigens – es wäre eine schöne Aufgabe, die Diskrepanz zwischen den mitmachenden Interessenten vor 70 Jahren und heute zu verstehen. 1946 ging es den meisten Menschen eher schlecht, und 2016 eher besser. Vermutlich ist man dann lieber mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht sollte man es mit einer „Life-Project-App“ versuchen. Mit ihrem Handy beschäftigen sich die Frauen noch lieber.

© wissenschaft.de – Ernst Peter Fischer
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