Es kommt nicht so oft vor, dass sich Hunderte von Forscher zum Protest aufraffen. Meistens sind sie ja viel zu sehr beschäftigt. Doch vergangene Woche ereignete sich Ungewöhnliches: Mehr als 600 Wissenschaftler unterzeichneten einen Protestbrief gegen das Human Brain Project. Erstaunlich. Beim Atomausstieg rührten sich gerade mal 300 Forscher bei der Bundeskanzlerin und boten an, zu den Erneuerbaren zu arbeiten.
Im Human Brain Project soll das menschliche Gehirn in Hochleistungsrechnern simuliert werden. Eine Milliarde Euro über zehn Jahre lässt es sich die Europäische Kommission kosten. Es ist eines von zwei visionären Flaggschiffen der EU-Forschung. In der Tat visionär ist, was sich der Initiator und Koordinator des Human Brain Project, Henry Markram von der Polytechnischen Hochschule Lausanne, ausgedacht hat. Er will einen Paradigmenwechsel für die Neurowissenschaften. Nicht eine Studie soll die nächste jagen und allerorten Abertausende von neuen Daten hervorbringen. Nein, er will alle schon vorhandenen Ergebnisse in einer gigantischen Simulation des menschlichen Gehirns bündeln.
Über vier Jahre hat er sich mit dieser Vision der Begutachtung gestellt, durch die EU-Kommission, durch Wissenschaftler, darunter Skeptiker und Widersacher. Bis heute haben sich dem Projekt mehr als 112 Institute aus 24 Ländern angeschlossen. Mehrere Hundert Vorschläge konkurrierten mit dem Vorhaben. Aber die Idee vom modellierten Gehirn hat am Ende überzeugt.
Dick auftragen für dickes Geld
Wahr ist allerdings auch, dass Markram in seinen Bewerbungsvorträgen ziemlich dick aufgetragen hat. Er verglich das Projekt mit „einer Mondmission“ und sprach vom „Ende der Tierversuche“. Das Um-den-Finger-wickeln der Entscheider war nicht gerade die feine englische Art. Aber vor allem in diesem Punkt schenken sich die Forscher im Allgemeinen wenig. Mindestens genauso hochtrabend war in einem Konkurrenzprojekt von Robotern als Schutzengeln im Alltag die Rede.
Doch der Sturm der Entrüstung kommt zu einem besonderen Zeitpunkt: Kurz zuvor hatte das Leitungsgremium des Projekts die kognitiven Neurowissenschaften, insgesamt 18 Labore, aus dem Projekt gekegelt. Kurz zuvor hatte die Europäische Kommission dazu aufgefordert, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und weil jenes Teilprojekt vor allem neue Daten generieren sollte, was Markrams Idee vom Paradigmenwechsel – der Fusion bestehender Daten – widersprach, war der Rauswurf konsequent.
Für die Geschassten ist das bitter. Sie müssen sich nun in der langen Schlange um die Ein-Milliarden-Euro-Torte anstellen. Nur noch über Partnerprojekte können sie sich dem Human Brain Project wieder anschließen, müssen dann aber die Hälfte der Fördermittel von der Industrie oder dem eigenen Land eintreiben. Das kostet Nerven, Zeit und in Anbetracht der großen Summen dürfte es auch schwierig werden.
Kündigung mit Knalleffekt
Vor allem die Rausgeworfenen protestieren nun: Wut entbrannt hat sich Zacchary Mainen, Leiter des Champalimaud Neuroscience Programme in Lissabon, aus dem Human Brain Project verabschiedet. Er war es auch, der ebenjenen Protestbrief verfasst hat. Den haben andere Forscher aus dem Bereich der kognitiven Neurowissenschaften unterzeichnet, teils aus dem Human Brain Project, teils nicht. Kein Wunder, sie fürchten um ihre Pfründe. Und wer nicht dabei ist, wird es schwer haben, an Gelder für die Kognitionswissenschaften heranzukommen. Schlicht, weil das Human Brain Project dermaßen viel zugewiesen bekommt.
Es geht um Geld und um Macht. Viele der Protestler sind konventionelle Datensammler, wie sie Markram wohl nennen würde. Sie wollen gern ein dickes Stück vom Kuchen abhaben, aber dafür nicht ihre Herangehensweise wechseln und sich dem von Markram beschworenen Paradigmenwechsel unterwerfen. Wortreich wird diese Rebellion geführt – von „mangelnder Offenheit und Flexibilität des Managements“ ist im Protestbrief die Rede. Das Human Brain Project solle der herrschenden Meinung in der Neurocommunity folgen. Das heißt: Weitermachen wie bisher. Die Projektziele im Eigeninteresse umschreiben und natürlich – sonst gäbe es den ganzen Zwist nicht – die Milliarde bitte schön an alle Anwärter aufteilen.
Es ist ein ausgesprochen durchsichtiges Manöver. Der Aufschrei so kurz nachdem der Geldhahn halb zugedreht wurde. Und fast schon kurzsichtig ist es, wenn die Protestler in ihrem Brief nun eine Evaluation fordern, obwohl das Projekt sich erst seit Kurzem in der Planungsphase befindet und sowieso im Januar 2015 evaluiert wird. Die Europäische Kommission hat das durchschaut und souverän reagiert. Sie steht weiter hinter dem Projekt.
Susanne Donner
Die Journalistin kommentiert neue Entwicklungen in den Bereichen Lebenswissenschaften und Medizin, Genetik, Chemie, Umwelt, Bioethik und Psychologie. Bekannt wurde sie für ihre Features, Reportagen und Hintergrundberichte in bild der wissenschaft, der WirtschaftsWoche, Die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Sie wurde mit drei Journalistenpreisen ausgezeichnet und arbeitet als Gutachterin für den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags.
© wissenschaft.de