Das Schreiben ist rätselhaft und der Ton gewöhnungsbedürftig: „Höre“, so spricht Hildegard den König an, „die Zeiten, in denen du lebst, sind leichtfertig wie ein Weib, neigen sich verderblicher Ungerechtigkeit zu und versuchen, die Gerechtigkeit im Weinberg des Herrn zu vernichten.“ Doch der Brief warnt vor „noch Schlimmerem“ in der Zukunft, einer Zeit „voller Lästerung wie ein verwesender Kadaver“. Danach erst, endlich, werde sich die „Gerechtigkeit Gottes ein wenig aufrichten“ – wenn auch nicht dauerhaft. Noch einmal nämlich drohe Ungemach: Selbst die Priester würden dann „wie von Wölfen zerfleischt und von ihren Stätten und aus der Heimat vertrieben“. Schließlich aber werde der Tag kommen, wenn alle „Fürsten in einmütiger Eintracht die Zeiten der größten Irrtümer“ bekämpfen – und, mit Gottes Hilfe, einen glänzenden Sieg erringen.
Der König, so nimmt Hildegard am Ende noch einmal den Briefempfänger selbst ins Gebet, müsse sich jedoch vorsehen, wenn auch er dieser Verheißung teilhaftig werden wolle: „Bezähme deine Lust und bessere dich, damit du geläutert zu jenen Zeiten gelangst.“ Hildegards Brief an den ersten Stauferkönig Konrad III. (1138–1152) hält sich nicht erst auf mit höfischen Floskeln und gewundenen Eitelkeiten. Hier spricht die Prophetin, deren Auftrag es ist, Menschenseelen vor Höllenqualen im Jenseits zu bewahren – so, wie es das „lebendige Licht“ Gottes ihr zuvor offenbart hatte.
Weil das hohe Mittelalter eine Blütephase literarischer Briefstilisierung war und Briefe überdies häufig vor ihren Empfängern öffentlich verlesen wurden, waren sie auch ein geeignetes Medium, um prophetische Botschaften weiträumig zu verbreiten.
Hildegard nutzte dieses Medium virtuos…
Autor: Dr. Matthias Schmandt
Den vollständigen Artikel lesen Sie in DAMALS 06/2020