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1917 – Das „Jahr der Wirren“

Meutereien im französischen Heer

1917 – Das „Jahr der Wirren“
Das vorletzte Kriegsjahr ist für die Geschichte des Ersten Weltkriegs ein sperriges Jahr. Der Elan, die Hoffnungen und Siegesgewißheiten der Anfangszeit waren längst verflogen. Die grausamen Materialschlachten führten zu Unruhe und sogar zu Meutereien. Dann aber verschaffte sich vor allem in Frankreich die Politik wieder Gehör.

In dem Maße, in dem der Weltkrieg im Feld steckenblieb, wurde er an der Front und in der Heimat zum Arbeitskrieg, und die 1916 mit den Ma?terialschlachten von Verdun und an der Somme einsetzende Industrialisierung der Kriegsproduktion machte aus ihm endgültig den Maschinenkrieg. Dieser fraß ungeheure Mengen an „Menschenmaterial“ (das Wort kam damals auf?), wovon man aber in der Heimat wie an der Front nur bruchstückhaft erfuhr – die Fronten waren zu langgezogen bzw. zu weit voneinander entfernt, als daß man Näheres hätte in Erfahrung bringen können. Selbst die militärische Führung hatte teilweise keinen Überblick, war an Informationen aber auch nicht sonderlich interessiert. 1917 war jedoch auch das Jahr, in dem die Politik erneut zu ihrem Recht kam, nachdem sie 1914 in der ersten Kriegsbegeisterung und wegen der Zugzwänge einer Mobilisierung, die viele Millionen Männer umfaßte, fast ganz in den Hintergrund getreten war. Nach mehr als zwei Jahren Kriegszustand mußte man der Bevölkerung Versprechungen machen und sie quasi „zum letzten Gefecht“ aufrufen, um die wachsende Friedenssehnsucht der Massen zu kanalisieren und sie zum Durchhalten zu motivieren. Der erste große Aufruf des amerikanischen Präsidenten Wilson zu einem „Frieden ohne Sieger“ vom Januar 1917 zeigte den Regierenden Europas, worauf sie nunmehr achten mußten. Von März/April 1917 an kam es in verschiedenen Ländern zu Streiks von Arbeitern und besonders Arbeiterinnen, so etwa den „Midinettes“ der großen Pariser Konfektionshäuser. Lange Zeit blickten die Historiker wie gebannt auf die russischen Re?volutionen, die Februar-Revolution und insbesondere die Oktober-Revolution der Bolschewiki, deren Ziele in Lenins „Dekret über den Frieden“ vom 8. November 1917 und dem Aufruf der Arbeiter- und Soldatenräte zu einem Frieden „ohne Anne?xionen und Kontributionen“ ihren Niederschlag fanden. Der Mythos der „großen sozialistischen Oktober-Revolution“ ist mit dem Jahrhundert, in dem er entstanden ist, verlorengegangen. Nachdem sich die Geschichtsbetrachtung von dieser Fixierung gelöst hat, erscheint das Jahr 1917 noch vielfältiger, widersprüchlicher und konfuser als zuvor. Für Frankreich ist das Jahr 1917 in besonderem Maße bedeutend, und gleichzeitig sperrt es sich gegen eine Erzählung im Zusammenhang. 1917 war – so der Titel des auf dieses Jahr bezogenen Memoirenwerks des damaligen Staatspräsidenten Poincaré – „l’année trouble“, das Jahr der Wirren. Jean-Jacques Becker, der beste Kenner jener Zeit, hat es in seinem gleichnamigen Buch als „l’année impossible“, das unmögliche Jahr, charakterisiert. Warum aber war es ein Jahr der Wirren bzw. unmöglich? Wirr waren zunächst die Machtverhältnisse. Bis 1914 herrschte in Frankreich traditionell der Primat der zivilen Gewalt. In diesem Jahr hatte man die Macht jedoch unter dem Schlagwort der union sacrée, der geheiligten Einheit, (fast) ganz in die Hände der Militärs gegeben, und diese waren daran interes?siert, Regierende und Parlamentarier von ihren Belangen möglichst fern?zu?halten. Die Zensur war (wie in Deutschland) rein militärisch organisiert, und das Parlament hatte einer Quasi-Selbstentmachtung zugestimmt. Der Kriegsminister Millerand war einer der eifrigsten Erfüllungsgehilfen des Oberkommandierenden des Heeres, des Generals Joffre. Der Zustand war der deutschen Situation nicht unähnlich. Deutlich unterschied sich jedoch der Weg, den die beiden Nationen nach den entsetzlichen Materialschlachten von 1916 (Verdun und Somme) nahmen. Während in Deutschland die Militärs endgültig zum auch politisch entscheidenden Element wurden (siehe dazu Seite 38), mußten sich die erfolglosen Generale in Frankreich wieder verstärkt ziviler Kontrolle beugen. Mitten im Krieg, der Frankreich ja viel unmittelbarer betraf als Deutschland, da zehn Departements Kriegsgebiet und damit eine kraterübersäte Mondlandschaft waren, gelang es Parla?ment und Regierung, die Generalität wieder zur Räson zu bringen und die Bevölkerung mit neuem Durchhalte- und Siegeswillen zu erfüllen. Das ist eines der kleinen und außerhalb Frankreichs gar nicht sonderlich bemerkten Wunder des Ersten Weltkriegs…

Prof. Dr. Gerd Krumeich

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