Textilien und Tonbandgeräte, Dieselmotoren, Kunststoffe und Farbfilme: die Amerikaner waren begeistert von den deutschen Produktentwicklungen. Kaum war der Krieg zu Ende, begannen hoch motivierte Suchteams mit ihren Recherchen im besetzten Territorium. Von Interesse waren nicht nur militärische, sondern auch zivile Innovationen. Es galt nicht nur, möglichst rasch Entwicklungsunterlagen, Baumuster und Patente zu sichern, sondern auch die dazugehörigen Köpfe aufzuspüren und für die eigene Seite zu rekrutieren: Die Jagd auf die technische Intelligenz des “Dritten Reichs” begann. Vor allem Wissenschaftler, Ingenieure und sogar Laboranten in sensiblen Forschungs- und Entwicklungsbereichen avancierten schon in den ersten Nachkriegswochen von gesuchten zu gefragten Persönlichkeiten. Die angloamerikanischen Fahnder waren bestens vorbereitet und mit regelrechten Fahndungslisten ausgestattet. Bereits Ende 1943 hatten Briten und Amerikaner gemeinsam das Geheimkommando “Alsos” gegründet. Auftrag dieser Mission war es, die Mitarbeiter der deutschen Atomforschung aufzuspüren und vor dem Zugriff der sowjetischen Kollegen zu bewahren. Das Vorhaben gelang, die Crème der deutschen Atomforschung wurde zur ersten Tuchfühlung vorübergehend in England festgesetzt. Häufig steckten in den westalliierten Uniformen Mitarbeiter von Privatfirmen, die nicht nur im Auftrag ihrer Regierungen stöberten, sondern die zugleich auch für ihre Arbeitgeber tätig wurden und Betriebsgeheimnisse der deutschen Konkurrenz auskundschafteten. Insgesamt untersuchten bis Herbst 1946 rund 2.900 angloamerikanische Teams mit nahezu 11.000 Mitarbeitern die technischen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus; die Betriebsspione in Uniform verfolgten etwa zu einem Drittel staatliche und zu zwei Dritteln industrielle Interessen.
Auch die Sowjetunion integrierte Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker in ihre Armee und schickte sie an diese neue Front, in die Patentämter, in die Betriebe und deren Forschungslaboratorien. Sie operierten vielfach im Majorsrang und ebenfalls in kleinen Gruppen. In Thüringen und in Sachsen, den von der US-Armee übernommenen Gebieten, kamen sie freilich zu spät: Führende Mitarbeiter von Firmen, die sich mit Raketentechnik oder mit der Entwicklung von elektronischen und optischen Geräten befaßten, vor allem aber auch rund 200 Dozenten aus den naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Halle, Leipzig und Jena waren von den Amerikanern längst evakuiert worden – mit Druck und Drohungen, aber auch mit Versprechungen auf eine goldene Zukunft im Westen. Abwerbungsversuche waren an der Tagesordnung: gerade die sowjetischen Agenten, die Fachleute aus den Westzonen zu locken versuchten, boten nahezu märchenhafte Bedingungen an. Wechselwilligen Wissenschaftlern wurden in der sowjetischen Besatzungszone bis zu 4.500 Kalorien am Tag zugesichert. In Zeiten des blanken Hungers bedeutete dieses Versprechen geradezu ein Leben im Schlaraffenland. Die begehrten und begabten Ingenieure konnten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) mit weiteren Vergünstigungen rechnen; sie erhielten einen unbefristeten Arbeitsvertrag, die Zusicherung, das Vertragsverhältnis jederzeit kündigen und ihre Familien mitnehmen zu können. Standesgemäße Wohnungen gehörten darüber hinaus ebenfalls zu den Anreizen des Ostens. Zwar wurden bereits im Sommer 1945 rund 100 Wissenschaftler in die UdSSR verbracht, die die dortige Atomforschung unterstützen und voranbringen sollten. Unter Manfred von Ardenne und Gustav Hertz wurden für sie in der Nähe von Suchumi am Schwarzen Meer zwei Labors eingerichtet. Bis 1946 war es jedoch die erklärte Politik der Sowjetunion, die Fachleute möglichst in ihren angestammten Arbeitszusammenhängen zu belassen und in Deutschland, auf sowjetisch kontrolliertem Territorium, arbeiten und forschen zu lassen. Die Amerikaner hatten ohnedies bereits die attraktivsten Köpfe und deren Know-how requiriert, so daß man keine Zeit verlieren wollte. Auf Befehl von General Georgi K. Schukow wurden daher ab Sommer 1945 geschlossene Konstruktionsbüros eingerichtet und vielfach in den Sowjetischen Aktiengesellschaften angesiedelt.
In der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1946, morgens um drei Uhr, schwärmten Angehörige der Sowjetarmee aus, warfen “die Spezialisten” samt deren Familien aus ihren Betten und erklärten ihnen, sie würden sofort für mehrere Jahre in die Sowjetunion verbracht. So war es auch bei Familie B. in Jena. Im Morgengrauen hämmerte es an der Haustür. Als Frau B. die Tür öffnete, standen dort ein Offizier und ein Dolmetscher. Der Zeiss-Spezialist B. würde unverzüglich in die Sowjetunion verbracht werden, tönte es der völlig überraschten Frau entgegen. Jedwede Einwände gegen diese Verbringung seien unzulässig, die Familie könne mitkommen. Mit dem Packen sei unverzüglich zu beginnen. Die ein Jahr zuvor abgeschlossenen Verträge hatten keine Gültigkeit mehr. Der ungewöhnliche Lärm zu so früher Morgenstunde weckte nicht nur die übrigen Familienmitglieder, sondern auch die Nachbarn. Sie waren es, die Frau B. nun um Hilfe anrief. Quer über den Hof informierte sie die Anwohner, daß die “Russen” da seien und ihren Mann “abholten”. Sie kämen von Zeiss, hätten sie behauptet, die Nachbarn mögen unverzüglich überprüfen, ob diese Aussage der Wahrheit entspreche. Deren Antwort ließ nicht lang auf sich warten. Überall auf der Straße ständen Lastkraftwagen der Besatzer. Die bewaffneten Soldaten ließen niemanden durch, keiner durfte an diesem Morgen zur Schule oder zur Arbeit gehen…
Dr. Silke Satjukow/Dr. Rainer Gries