Der Korridor erstreckte sich über 40 Meter unter dem Fußbodenniveau des Palasts und war vom Festsaal (Halle A) aus zugänglich. In regelmäßigen Abständen waren drei verbrannte Holztüren angebracht. Der Gang stellte die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten her. Die Türen deuten an, dass man den Zugang symbolisch in Abschnitte unterteilen wollte, um die Distanz zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu veranschaulichen. Der Gang durch den Korridor glich folglich dem Abstieg in die Unterwelt.
Am Ende des kontinuierlich abfallenden Korridors öffnet sich ein fünf Meter tiefer Schacht: die Vorkammer der Gruft. Hier musste man sicherlich über Leitern hinabsteigen. Auf dem Boden der Kammer stehen zwei Statuen aus Basalt. Die Bildwerke sind ausgezeichnet erhalten und von hoher künstlerischer Qualität (siehe unser Titelbild). Ihre feine Modellierung weist darauf hin, dass sie um 1750 v. Chr. entstanden sein dürften. Auffälligerweise sind die Figuren fast identisch. Selbst in den Maßen – sie wurden durch einen 3-D-Laser-Scan überprüft – liegen die Abweichungen im Bereich weniger Zentimeter.
Es handelt sich um die Bildnisse von Königen. Sie tragen einen Wulstmantel, ein Haarband umfasst das sorgfältig zusammengesteckte Haar. Auf einem Hocker sitzend, hält jeder eine Schale in der Hand, um Opfer‧gaben zu empfangen. Sie stellen königliche Ahnen dar. Tatsächlich wurde vor diesen Statuen geopfert. Auf dem Boden standen Opferschalen, eine um‧gedrehte Schale deckte einen großen, sicher einst fleischreichen Tierknochen ab, als wollte man Fliegen abhalten. Alles war noch so wie im Moment vor der Zerstörung. Der Schutt des einstürzenden Palasts hatte die Vorkammer vollständig aufgefüllt, so dass sie gleichsam im Zustand ihrer letzten Benutzung versiegelt wurde.
Die außergewöhnliche Fundsitua‧tion ermöglicht es uns, die Vorkammer als Ort der Verehrung der königlichen Ahnen zu identifizieren. Der Ahnenkult hatte eine herausragende Bedeutung für das Königtum von Qatna. Der Sohn und Nachfolger eines verstorbenen Königs konnte so den Rat der toten Herrscher für wichtige politische Entscheidungen einholen. Zugleich legitimierte er sich durch das Recht, den Ahnenkult für seine Vorfahren auszuführen, als rechtmäßiger Thronnachfolger. Auf diese Weise nahmen die königlichen Ahnen aktiv an der Gestaltung des politischen Lebens teil…
Prof. Dr. Peter Pfälzner