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Alle Spuren führen nach Passau

Die Entstehung des Nibelungenlieds

Alle Spuren führen nach Passau
Das Nibelungenlied ist an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert von einem unbekannten Dichter in Passau verfasst worden. So liest man es in den Handbüchern. Doch was spröde klingen mag, ist das Ergebnis einer fast schon detektivischen wissenschaftlichen Spurensuche.

Beginnen wir mit der Datierung: Sie ergibt sich aus der Art, wie der Verfasser mit den Reimen umgeht, und aus einer Anspielung im „Parzival“-Roman Wolframs von Eschenbach. Der Text ist in Strophen gedichtet, die aus vier Zeilen bestehen, von denen jeweils die erste und die zweite sowie die dritte und die vierte aufeinander reimen:

Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn, daz in allen landen niht schœners mohte sîn, Kriemhilt geheizen; si wart ein schœne wîp. dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.

(„Es wuchs im Burgundenland ein junges Edelfräulein heran, so schön wie keine andere auf der Welt, Kriemhild hieß sie. Später wurde sie eine schöne Frau. Ihretwegen mussten viele Ritter ihr Leben verlieren.“)

Die Reime in dieser Strophe sind rein, das heißt, die Formen sind ab dem letzten voll betonten Vokal identisch (-în, -îp). Das ist nicht selbstverständlich. Auf einer älteren Stufe der Reimtechnik war man schon zufrieden, wenn die Reimklänge einander ähnlich waren. Der Standard, den das Nibelungenlied zeigt, ist vor den späten 80er oder frühen 90er Jahren des 12. Jahrhunderts nicht möglich. Früher kann der Text in der uns vorliegenden Form demnach nicht gedichtet worden sein. Und er muss vor um 1205 existiert haben, denn die Anspielung im „Parzival“ findet sich in einem Teil des Romans, den Wolfram von Eschenbach um 1204/05 gedichtet hat.

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Den Verfasser des „Parzival“-Romans kennen wir, weil er – wie andere Romanautoren auch – im Werk seinen Namen nennt. Der Nibelungendichter tut das nicht. Indem er anonym bleibt, folgt er einer Konvention der Gattung Heldendichtung. Deren Stoffe galten als Geschichtsüberlieferung, und entsprechend verstanden sich die Ependichter als Vermittler eines objektiven, überindividuellen Geschichtswissens. Ganz ist es dem Nibelungendichter aber nicht gelungen, als Person hinter den Stoff zurückzutreten. Er hat Spuren hinterlassen, die es uns erlauben zu erschließen, wo er gewirkt und welchem Stand er angehört hat.

Einen ersten Hinweis auf den Entstehungsort gibt die Sprache bzw. der Schriftdialekt, den der Dichter verwendet hat. Er weist in den bairisch-österreichischen Raum. Eine Beobachtung am Text führt weiter. Dem Leser muss auffallen, dass der Dichter eine Gestalt hervorhebt, die für den Gang der Geschichte gänzlich belanglos ist: den Bischof Pilgrim von Passau. Er ist der Onkel Kriemhilds (der Bruder ihrer Mutter). Er reitet Kriemhild auf ihrer Reise ins Hunnenland entgegen und begleitet sie ein gutes Stück auf ihrem Weg. Später machen die Burgunden bei ihm Station, und auch die Boten, die der Hunnen‧könig nach Worms schickt, suchen ihn auf. Auffällig ist weiter, dass der Erzähler zu keinem anderen Ort so präzise Angaben macht wie zu Passau. Er betont, dass dort der Inn mit starker Strömung in die Donau fließt. Und er merkt an, dass sich dort ein Kloster befindet, wahrscheinlich bezieht sich dieser Hinweis auf das bedeutende Benediktinerinnenstift Niedernburg. So drängt sich der Verdacht auf, dass das Nibelungenlied in Passau verfasst worden ist.

Bücher vom Umfang des Nibelungenlieds konnten damals nicht beliebig verfasst und publiziert werden. Die Produktionskosten waren hoch – schon der allein verfügbare Beschreibstoff Pergament war sehr teuer –, und es gab keinen literarischen Markt, auf dem der Dichter sein Werk hätte anbieten können. Um umfangreichere Texte zu verfassen, musste man ent‧weder im institutionellen Raum der Kirche tätig sein – etwa als Mönch in einem Kloster oder als Mitglied eines Domkapitels –, oder man benötigte einen finanzkräftigen Auftraggeber aus dem Adel. In Passau waren beide Möglichkeiten zugleich gegeben. Den Passauer Bischofsstuhl hatte in der fraglichen Zeit – von 1191 bis 1204 – ein Mann inne, der zu den einflussreichsten Reichsfürsten gehörte und der nachweislich an deutscher Literatur interessiert war: Wolfger von Erla. Berühmt ist eine Buchung in seinen Reiseabrechnungen, die für den 12. November 1203 festhält, dass dem Sänger Walther von der Vogelweide ein größerer Betrag für den Kauf eines Pelzmantels ausgezahlt wurde. Alles in allem ist die Indizienkette so stark, dass man davon ausgehen kann, dass das Nibelungenlied im Auftrag Wolfgers am Passauer Bischofshof entstanden ist. Da der Text literarische Bildung verrät, können wir uns den Verfasser als Kleriker im Umkreis des Bischofs vorstellen, als einen Mann, der nicht unbedingt Priester gewesen sein muss, aber geistlich gebildet und damit schreib- und lesekundig war.

Der mutmaßliche Passauer Entstehungskontext gewinnt an Profil, wenn man einen weiteren Text berücksichtigt, die sogenannte Nibelungen-Klage. Mit wenigen, späten Ausnahmen folgt sie in den Handschriften auf das Nibelungenlied. Es ist wahrscheinlich, dass sie ihm von Anfang an beigegeben war, die beiden Texte mithin als „Nibelungen-Buch“ einen genuinen Textverbund bilden. Im Gegensatz zum strophischen Nibelungenlied ist die Nibelungen-Klage in Reimpaarversen verfasst. Sie erzählt, was nach der Katastrophe am Hunnenhof geschehen ist – wie man die Toten auffand und unter endlosen Klagen bestattete und wie die Nachricht von den Ereignissen verbreitet wurde –, und sie unterzieht im Rückblick das Geschehen um Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache einer moraltheologischen Bewertung. Sie hält auch fest, dass der Bischof Pilgrim die Aufzeichnung der Ereignisse veranlasst habe. Er befahl, heißt es da, „aus Liebe zu seinen Neffen, diese Geschichte aufzuschreiben, wie sie sich ereignet hatte, in lateinischer Sprache, dass sie als wahr verbürgt sein sollte für jeden, der später von ihr hörte, von Anfang an, wie sie anhob und begann und wie sie endete, von den Leiden der tapferen Helden und wie sie alle den Tod fanden. Das ließ er alles aufschreiben. Nichts davon ließ er übergehen, denn der Spielmann“ – den der Hunnenkönig als Boten gesandt hatte – „hatte ihm genau Auskunft gegeben, wie es ergangen war und sich ereignet hatte; denn er hatte es gehört und gesehen, er und viele andere Männer. Die Geschichte wurde niedergeschrieben von seinem Schreiber, Meister Konrad. Seither hat man sie oft in deutscher Sprache gedichtet. Alt und jung kennen die Geschichte genau.“ Man könnte das als Fiktion abtun, die beglaubigen sollte, dass die Geschichte wahr war. Doch hat es tatsächlich einen Passauer Bischof mit Namen Pilgrim gegeben…

Literatur Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B herausgegeben von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart 2010.

Joachim Heinzle, Die Nibelungen. Lied und Sage. Darmstadt 2005.

Prof. Dr. Joachim Heinzle

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