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Aufbruch in den Frieden

Deutsche Mentalitäten nach dem Zweiten Weltkrieg

Aufbruch in den Frieden
Frühestens Mitte der 1980er Jahre würden die Deutschen wieder das Lebensniveau der Vorkriegszeit erreichen. In dieser pessimistischen Einschätzung waren sich viele Experten einig. Am Ende ging alles viel schneller, doch existentielle Ängste blieben.

In der Rückschau scheinen sich die Deutschen nach Kriegsende wie Phönix aus der Asche erhoben zu haben. Das Tempo des Wiederaufbaus, der Anfang der 50er Jahre einsetzte, war enorm. Amerikanische Reisebüros warben für Besuche in westdeutschen Städten, bald seien die Trümmer nicht mehr zu besichtigen. Wenngleich weniger markant, verbesserte sich innerhalb des ersten Nachkriegsjahrzehnts auch in Ostdeutschland die soziale Situation, während dort zugleich die SED-Diktatur mit spätstalinistischen Zügen durchgesetzt wurde. Schon früh war deutlich, dass die DDR im Wohlstandsrennen hinterherlief, ohne die wirtschaftswunderliche Bundesrepublik je einholen zu können. Dieses West-Ost-Gefälle prägte sich den Deutschen als Modell-Vergleich ähnlich nachhaltig ein wie der aus wachsender Distanz zunehmend verwunderte Blick zurück auf das Kriegsende.

Was in ersten Bilanzen allerdings noch kaum aufschien, waren die tiefgreifenden individuellen und familiären Probleme, die den Nachkriegsgesellschaften sowohl in Ost als auch in West ihren mentalen Stempel aufprägten. Auseinandergerissene Familien, der Tod von nahen Angehörigen oder engen Freunden, Entfremdung zwischen Ehepartnern nach kriegsbedingter Trennung, Flucht und Vertreibung, Traumatisierungen durch den Bombenkrieg, eine tiefsitzende Angst vor neuem Krieg oder neuer Not existierten unter der Oberfläche der Wiederaufbauerfolge in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR. Insofern warf der Zweite Weltkrieg tiefe Schatten auf die Gründerzeit der beiden deutschen Staaten.

Die Sorgen der Angehörigen in der Heimat, dass man noch ganz am Schluss den „Heldentod“ des Mannes, Bruders oder Vaters für „Führer, Volk und Vaterland“ werde mitteilen müssen, verschwanden zwar mit dem Ende des Krieges; Frauen, Kinder, alte Menschen, die seit 1942/43 zahllose Nächte in Kellern und Bunkern verbracht hatten, um Schutz vor den alliierten Bombenangriffen zu finden, atmeten auf. Die Erleichterung über das Kriegsende mischte sich aber mit tiefempfundener Niedergeschlagenheit, Apathie und Hoffnungslosigkeit. Dass ein Jahrzehnt später ein für breite Schichten der Bevölkerung ungekannter Wohlstand in einer modernen Konsumgesellschaft beginnen würde, lag 1945 jenseits des Vorstellungshorizonts der Zeitgenossen. Optimistische Experten rechneten damit, dass eine Wiederherstellung des kargen Vorkriegsstandards frühestens Mitte der 1980er Jahre zu erwarten sei.

Zunächst gingen die Deutschen durch ein Tal der materiellen und moralischen Misere. Die ehemaligen Träger und Nutznießer des Nationalsozialismus mussten harte Strafen fürchten. Selbst wenn die Entnazifizierung im Ergebnis recht glimpflich ausging, schuf sie doch für einige Jahre große Unsicherheit. Welches Schicksal die Kriegsgefangenen, zumal im Osten, erwartete, war ungewiss; Hunger, Obdachlosigkeit und überfüllte Behelfswohnungen prägten den Alltag. Besondere Not litten diejenigen, die in der Schlussphase des Krieges aus den deutschen Ostgebieten geflohen oder nach dem Krieg von dort vertrieben worden waren und sich nun in einer fremden Umgebung zurechtfinden mussten. Statt der von den Nationalsozialisten beschworenen „Volks- und Leistungsgemeinschaft“ hatte sich eine informelle Empathie-Skala gebildet. Ganz oben rangierten darauf das eigene und das Leid der Familienangehörigen, dann folgten Freunde, Studien- und Arbeitskollegen, Nachbarn, und erst weit dahinter dachte man an die „Landsleute aus dem Osten“, die man allenfalls als gering entlohnte Helfer in der Landwirtschaft begrüßte. Ganz unten auf der Rangliste des Mitleids befanden sich die überlebenden Opfer des NS-Regimes, Entlassene aus Konzentra‧tionslagern und Zuchthäusern sowie ehemalige ausländische Zwangsarbeiter, die nun als Displaced Persons auf ihre Repatriierung oder die Auswanderung nach Übersee warteten.

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Aber die materielle Not aktivierte auch den Organisationssinn und die Phantasie der Bevölkerung, wobei in vielen Familien nun die Ehefrau zumindest vorübergehend die Verantwortung für den alltäglichen Existenzkampf übernehmen musste. Die damit einhergehenden weiblichen Emanzipationsprozesse sind als „stille Kulturrevolution“ (Annette Kuhn) bezeichnet worden. Der Anbau von Gemüse in Kleingärten, Hamsterfahrten aufs Land, um Schmuck und Kleider gegen Lebensmittel zu tauschen, der riskante Besuch des Schwarzmarkts und Kompensationsgeschäfte von Betrieb zu Betrieb – Autoreifen gegen Kochtöpfe – sind von Zeithistorikern als hohe Schule der kommenden Marktwirtschaft im Westen beschrieben worden. Die Vier-Sektoren-Stadt Berlin galt geradezu als Eldorado der Schieber. Auf dem Schwarzmarkt zeigte sich bereits, dass der Krieg nicht nur der große Gleichmacher war, sondern zugleich gesellschafliche Gegensätze verschärft hatte.

Allerdings sollte man sich die unmittelbare Nachkriegszeit nicht nur als allgemeine Misere mit wenigen Nutznießern vorstellen. Das breite Publikum wollte sich, wie es in einer Filmbesprechung hieß, vergnügen, verlangte „keine Probleme, sondern Musik, Unsinn und sehr viel Liebe“. Am Ende des ersten Nachkriegsjahres wurde das Tanzverbot für das Hamburger Vergnügungsviertel St. Pauli aufgehoben, im September 1946 eröffneten Vertreter der Stadt und der Militärregierung in München ein „Herbstfest“, mit dem an die seit 1939 unterbrochene Tradition des Oktoberfests angeknüpft wurde. Zwar besaßen die Brauereien keine Bier‧zelte, aber gefeiert wurde doch, wenn auch nur mit Dünnbier und wenigen Fahrgeschäften – und selbstverständlich ohne die nicht mehr bzw. noch nicht wieder zeitgemäßen Schießbuden, die durch Ballwurfbuden ersetzt werden mussten…

Prof. Dr. Axel Schildt

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