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Aufschwung in Europa

Das bundesdeutsche Wirtschaftswunder im Vergleich

Aufschwung in Europa
Nahezu alle europäischen Ökonomien erzielten nach der Überwindung der unmittelbaren Kriegsfolgen vergleichbar hohe Wachstumsraten. Das „Wirtschaftswunder“ in der Adenauer-Republik war Teil einer allgemeinen Nachkriegsprosperität und keine Einzelerscheinung.

Bis Mitte der 1970er Jahre näherten sich die Produktivitätsniveaus innerhalb Westeuropas weitgehend an, und es kam zu einem Aufholprozess gegenüber den USA. Länder, die nach dem Krieg am weitesten zurückgelegen hatten, wiesen die höchsten Wachstumsraten auf. Dazu zählten Westdeutschland, Frankreich, Italien, Österreich und die Niederlande. Europas Boom wird mit dem Bedarf des Wiederaufbaus und der relativen Rückständigkeit in den Bereichen Technologie, industrielle Organisation und Massenkonsum erklärt. Im Folgenden richtet sich der Blick auf die Entwicklung im Commonwealth-Land Großbritannien, im EFTA-Mitgliedsstaat Österreich und auf Italien als industriellen Nachzügler und EWG-Gründungsstaat.

Wie 1918 war das Vereinigte Königreich auch nach dem Zweiten Weltkrieg Siegermacht. Es hatte zwar sehr viel weniger Kriegszerstörungen zu verkraften als das übrige Europa, doch hatte der Krieg seine bereits geschwächte Wirtschaft weiter untergraben. Der schwindende Anteil britischer Exporte am Welthandel sowie Importkontrollen und -beschränkungen aufgrund der weltweiten Dollar-Knappheit führten zu massiven Handelsbilanzdefiziten. Die schlechte Versorgungslage zwang die Regierung, die Rationierung von Kleidung und Lebensmitteln beizubehalten (erst 1953/54 erlaubten die verbesserten ökonomischen Rahmenbedingungen ihre Aufhebung). Man legte die Priorität auf den Export und forderte der Bevölkerung Jahre der austerity, der privaten Konsumeinschränkung, ab. Von 1948 bis 1950 stiegen die Löhne nur um fünf, die Einzelhandelspreise aber um acht Prozent.

Großbritanniens wirtschaftliche Position verschlechterte sich im internationalen Vergleich erheblich. Wirtschaftswachstum und Beschäftigung blieben weit hinter der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und anderen Industrieländern zurück. Zwischen 1950 und 1959 ging der britische Anteil am Welthandel von 25 auf 17 Prozent zurück, während der des westdeutsche Teilstaats von sieben auf 20 Prozent stieg.

Die britische Wirtschaftspolitik gilt als eine der wichtigsten Ursachen für den Niedergang. Sie favorisierte die Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung, eine ausgeglichene Zahlungsbilanz sowie Preisstabilität im In- und Ausland (Kontrolle von Inflation bzw. Wechselkurs) und versäumte es, durch langfristige Planung die Produktivität zu steigern. Die Folge war eine alle drei bis fünf Jahre erneuerte Deflationspolitik; Einsparungen gingen hauptsächlich zu Lasten der Kapitalinvestitionen, was wiederum die Wettbewerbsposition der Wirtschaft schwächte und zu geringer Produktivität und langsamem Wachstum führte. Zwischen 1947 und 1973 erreichten die Investitionen in Großbritannien rund zwölf bis 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in den anderen europäischen Industriestaaten waren es 20, in Japan sogar rund 30 Prozent. Mit einem jahresdurchschnittlichen Produktivitätsanstieg von 2,3 Prozent (1960–1973) lag das Land deutlich unter dem durchschnittlichen Wert in den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC /OECD; 3,2 Prozent). Die Labour-Regierung (1945–1951) legte den Grundstein für den interventionistischen Wohlfahrtsstaat, die Konservativen trugen das System der sozialen Absicherung allerdings mit. Seit 1948 gab es den kostenlosen staatlichen Gesundheitsdienst. Die Regierung verstaatlichte die Schlüsselunternehmen: 1946 Notenbank (Bank of England ) und Fluglinien, 1947 Bergbau, 1948 Transportwesen und Stromerzeuger, 1949 Gasversorgung, 1951 Eisen- und Stahlindustrie. Das Problem der Arbeitslosigkeit schien beseitigt (sie sank 1951 auf 1,1 Prozent).

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1948 begann ein langsamer Erholungsprozess. Motor des Aufschwungs waren die Hilfsgelder im Rahmen des Marshall-Plans (gemessen am Volumen war Großbritannien nach Frankreich zweitgrößter Empfänger der Zahlungen aus den USA). Mit der Abwertung des Pfunds (1949; sein Wert war durch die Kriegsinflation gesunken) wurde das internationale Vertrauen in die britische Währung wiederhergestellt. Eine verbesserte Preisentwicklung für britische Produkte auf den Weltmärkten verschaffte der Regierung neuen wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum. Eine Boomperiode der Londoner Börse flankierte den Aufschwung.

Die Konservativen (seit 1951 amtierte die Regierung Churchill) setzten 1953/54 ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm um und bauten ohne Steuererhöhungen die Leistungen des sozialistischen Wohlfahrtsstaats weiter aus. Konsumbedürfnisse der Bevölkerung brachen sich Bahn. Zwischen 1951 und 1963 stiegen die Einkommen erstmals rascher als die Preise (um rund 72 Prozent gegenüber knapp 45 Prozent). 1965 hatten 88 Prozent der britischen Haushalte ein Fernsehgerät, 39 Prozent einen Kühlschrank und 56 Prozent eine Waschmaschine. Die TV-Anschlüsse wuchsen von einer halben (1950) auf über zwölf Millionen (1964) an, die Zahl der Autos stieg von 2,25 (1951) auf über acht Millionen (1964).

Allerdings verursachten die Besatzungszone in Deutschland, die Aufrüstung als Folge des Kalten Krieges und das Festhalten am Großmachtstatus enorme Kosten. Nach Indien (1947) wollte London keine weiteren imperialen Positionen räumen. Der Wirtschaftseinbruch im Umfeld der Suez-Krise (1956) verschärfte die Probleme so sehr, dass London erstmals auf die Hilfe des Internationalen Währungsfonds zurückgreifen musste. Da Kapitalbewegungen im Sterling-Raum (etwa der Bereich des Commonwealth) keinen Einschränkungen unterlagen, waren die Kontrollen gerade bei den Kapitalexporten unzureichend. Das System von Handelspräferenzen unter den Commonwealth-Mitgliedern behinderte Bemühungen um einen freieren internationalen Handel, etwa im Rahmen der EWG oder des internationalen Zoll- und Handelsabkommens GATT…

In den ersten Nachkriegsjahren hatte Österreich massive Versorgungsprobleme zu bewältigen, es ging darum, das Überleben zu sichern. Diese Notsituation konnte durch Anstrengungen der Bevölkerung und internationale Unterstützung relativ rasch überwunden werden. Die Wirtschaftspolitik wirkte inflationshemmend und sorgte für Zurückhaltung bei Löhnen und Preisen. Unter den Nahrungsmittel- und sonstigen Hilfen besaß der Marshall-Plan große Bedeutung; früher und leichter, als es sonst der Fall gewesen wäre, ermöglichte er der Wirtschaft den Aufbau einer konkurrenzfähigen Produktion.

Österreich erhielt trotz sowjetischer Besatzung Mittel aus dem European Recovery Program (ERP; nach Norwegen bezog es den höchsten Pro-Kopf-Betrag). Bis 1950 flossen 60 Prozent davon in die 1946 verstaatlichten Bereiche Bergbau, Stahl und Elektrizität (es han‧delte sich vor allem um Eigentum, das vor oder nach dem „Anschluss“ in deutsche Hände gelangt war). Obwohl die „Großen Drei“ (USA, UdSSR, Großbritannien) 1945 auf der Potsdamer Konferenz den Verzicht auf Reparationen durch Österreich beschlossen hatten, erbrachte die österreichi‧sche Wirtschaft reparationsäquivalente Leistungen. Bei Kriegsende war Österreich nach Rumänien Europas größter Erdölproduzent gewesen. Die sowjetische Besatzungsmacht konzentrierte sich daher bei der Ausbeutung ihrer Zone auf die Erdölvorkommen im Wiener Becken.

Der westliche Landesteil – mit den größten im Krieg entstandenen Unternehmen (Stahl, Metallurgie, Chemie) – empfing höhere ERP-Zuwendungen. Von 1950 an wurden die Alpenregionen bei der Ressourcenverteilung auch im Bereich Tourismus begünstigt, der neben dem Export elektrischer Energie zum Ausgleich der defizitären Zahlungsbilanz beitrug. Kredite und günstige Warenlieferungen aus dem ERP trugen zur Überwindung der nachkriegsbedingten Engpässe bei Rohstoffen und Investitionsgütern bei.

Schon vor 1950 erreichte Österreich wieder das Wertschöpfungsniveau von 1937; die Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen und die Menge verfügbarer Konsumgüter stiegen. Die Kaufkraftsteigerung und eine günstige Konjunktur auf den erst wieder zu erschließenden Exportmärkten förderten die Auslastung vorhandener und großteils erneuerter sowie neugeschaffener Produktionskapazitäten (voll entfalten konnte sich die weitere Industrialisierung allerdings erst nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen und dem Ende der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung 1955). In der Bevölkerung hatte sich ein enormer Güterbedarf aufgestaut – nun konnte man sich langlebige und bislang vielfach unerschwingliche Konsumgüter leisten…

Literatur: Barry J. Eichengreen, The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond. Princeton 2007. Rolf Petri, Von der Autarkie zum Wirtschaftswunder. Wirtschaftspolitik und industrieller Wandel in Italien 1935 –1963. Tübingen 2001. Sidney Pollard, The wasting of the British economy. British economic policy 1945 to the present. New York 1982. Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995.

Dr. Maximiliane Rieder

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