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Axt an die Wurzeln einer morschen Christenheit

Radikale Reformatoren

Axt an die Wurzeln einer morschen Christenheit
Für die radikalen Reformatoren waren Luther und Zwingli auf halbem Weg stehengeblieben. Ihre Vertreter, deren bekanntester wohl Thomas Müntzer ist, wollten die Reformation nicht beschädigen oder gar zerstören, sondern sie vollenden. Daraus entstanden die unterschiedlichsten Ansätze und Bewegungen, deren Ziel eine neue Christenheit, eine neue Welt war.

Kaum hatte Martin Luther seine großen Glaubenssätze veröffentlicht, nach denen die Erlösung sola gratia (allein durch die Gnade), sola fide (allein durch den Glauben) und sola scriptura (allein durch die Schrift) möglich sei, und das Priestertum aller Gläubigen und die Freiheit eines Christenmenschen ausgerufen, strömten ganz unterschiedliche Geister in das Lager der Reformation: Priester, Mönche und Nonnen, die mit der römischen Kirche unzufrieden waren, Humanisten und Ritter, Kaufleute, Handwerker und Bauern, Studenten und fahrendes Volk. Altgläubige Priester und Mönche wurden beschimpft und bedroht, Predigten wurden gestört, Bilder von den Altären gerissen, Skulpturen zerschmettert und Kultgeräte entweiht. Pfaffenhaß, „groß Geschrei“ und agitatorische Tumulte waren neben Predigt, Flugschrift und gemeinsamer Bibellektüre das Medium, in dem sich die Erneuerung der Christenheit vollzog. Antiklerikale Agitation war kein Neben-, sondern das Hauptgeräusch der frühen Reformation.

Viele wollten mitreden und ihre Visionen von einer erneuerten Welt durchsetzen. Es gab nicht die Vision, nichts war normiert, Luthers Losungen, sosehr sie sich auf die Errettung des Gottlosen allein durch die Gnade Christi konzentrierten, hatten eine unbändige Vielfalt im Umgang mit der Heiligen Schrift freigesetzt, auch verschiedenartige Konzepte von einer „zukünftigen Reformation“ entstehen lassen: wenig Einigkeit, viel Streit und Bruderzwist unter den Reformgesinnten. Da gab es Rechthaber und Demütige, Hochfahrende, Gemäßigte und Radikale. So schimpfte Luther auf die „himmlischen Propheten“ und meinte seinen einstigen Kollegen Andreas Karlstadt an der Wittenberger Universität, oder er verteufelte die Mordpropheten, Thomas Müntzer etwa, der sich im kursächsischen Allstedt sein „Nest“ gebaut habe, und er wetterte gegen die „mörderischen Rotten der Bauern“, die das Evangelium „fleischlich“ verstanden und sich gegen ihre Herren erhoben hätten. Umgekehrt warf Karlstadt dem Wittenberger Reformator vor, sich zum „neuen Papst“ aufzuwerfen, und Müntzer spottete über das „sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“, das einen billigen, oberflächlichen Glauben predige und den bitteren, schmerzhaften Weg zur „Ankunft des Glaubens“ scheue.

Radikal waren sie zunächst alle. Sie brachen mit Traditionen, Konventionen und mit der geistlich-weltlichen Ordnung des Corpus christianum. Luther, der zum Ketzer erklärt und dem der päpstliche Bann angedroht wurde, warf eine Ausgabe des „Kanonischen Rechts“ in die Flammen eines Holzstoßes, den Studenten am Ufer der Elbe entzündet hatten.

Die Täufer, radikale Anhänger Huldrych Zwinglis in Zürich, zogen sich in ihrer aufbegehrenden Ohnmacht in die „Vollkommenheit Christi“ zurück und erklärten jene, die „außerhalb der Vollkommenheit Christi“ verharrten, zu Heiden. Das war eine Provokation sondergleichen. Sie stellten alles auf den Kopf und überließen das christliche Abendland als das Reich der Heiden und „Belials“ sich selber.

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Mehr noch: Im westfälischen Münster wurde 1534 eine Theokratie errichtet, mit Gütergemeinschaft und Vielweiberei, eigenem König und Hofstaat, eine Gegenherrschaft zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. So oder so: Reformation war zunächst einmal radikale Reformation. Die traditionelle Trennung in Gemäßigte und Radikale, die den einen recht gibt und die anderen ins Unrecht setzt, ist nicht sachgemäß.

Was wollten diejenigen, die als Radikale stigmatisiert, verfolgt und getötet wurden? Auf keinen Fall wollten sie die Reformation gefährden, wie ihnen vorgeworfen wurde. Sie wollten vielmehr die Axt an die Wurzel (radix?) einer morschen Christenheit legen und eine Reformation herbeiführen, die anders war als diejenige Luthers und Zwinglis, anders auch als jene, die den weltlichen Herrschern recht gewesen wäre. Das soll an Thomas Müntzer, dem Prototyp der Radikalität, den Ernst Bloch einen „Rebell in Christo“ genannt hat, und an Konrad Grebel gezeigt werden, dem mißratenen Züricher Patriziersohn, der 1525 die erste Glaubenstaufe an einem entlaufenen Priester vollzog.

Thomas Müntzer (um 1489–1525) stieß bald nach seinem Studium zum reformatorischen Lager in Wittenberg, las die Schriften der deutschen Mystik, die Akten des Konzils von Konstanz, auf dem Jan Hus 1415 verbrannt wurde, neben den Schriften einiger Kirchenväter auch die Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea (um 275–339), die über den frühen Verfall der Kirche berichtete. Luther empfahl ihn für die Vertretung einer Pfarrstelle an St. Marien im wirtschaftlich aufstrebenden Zwickau, wo er die Reformation voranbringen sollte. Dort legte Müntzer sich mit den Franziskanern ebenso an wie mit dem humanistisch gebildeten Sylvius Egranus, den er vertrat und dessen geistlos-philologischer Umgang mit der Heiligen Schrift ihm jeden Reformeifer zu ersticken schien.

Müntzer fand Anklang in der Stadt und wurde auf die Pfarrstelle an St. Katharinen berufen, in der sich vor allem Tuchknappen und einfache Handwerker versammelten. „Die Laien müssen unsere Prälaten und Pfarrer werden“, soll er auf der Kanzel gefordert und damit viel Pfaffenhaß und Unruhe geschürt haben. Der Priester, der seine Autorität verspielt hat, wird „abgebaut“; der Laie wird „aufgebaut“, so daß er zum Träger geistlicher Autorität werden kann. Als Müntzer die Zwickauer Bevölkerung mit Predigt und Agitation zu polarisieren begann, mußte er die Stadt wieder verlassen…

Prof. Dr. Hans-Jürgen Goertz

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