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Das tschechische Trauma

Die Schlacht am Weißen Berg

Das tschechische Trauma
Es war eine der kürzesten Schlachten des Dreißigjährigen Krieges. Und doch sollten von jenen zwei Stunden am 8. November 1620, in denen die böhmisch-pfälzische Armee am Weißen Berg westlich von Prag fast vollständig aufgerieben wurde, die nächsten dreihundert Jahre der böhmischen Geschichte abhängen.

Von vorne herein aussichtslos war die Lage des böhmischen Bundesheeres unter Christian von Anhalt keineswegs: Ihnen gegenüber standen kaiserliche Truppen und Truppen der katholischen Liga unter dem Oberbefehl des Grafen Buquoy und Herzog Maximilians von Bayern standen, die mit rund 20000 Mann nur geringfügig größer waren als die böhmischen. Zudem war der Platz für die Schlacht gut gewählt: Den nach Prag hin allmählich abfallenden Bergrücken nahmen die Böhmen in seiner ganzen Breite ein. Aufgrund des Terrains konnte das Heer nur vom Fuß des Berges her angegriffen werden. Die Flanken waren allerdings nur notdürftig gesichert worden, für weitere Befestigungsarbeiten hatte die Zeit gefehlt. Um die Beweglichkeit der Einheiten zu erhöhen, wählte der Fürst von Anhalt für den Kampf eine gelockerte Aufstellung mit Regimentern, die jeweils in kleinere Abteilungen getrennt waren. Als die kaiserlichen Truppen nach der Auflösung des Morgennebels zum Angriff übergingen, war eine rasche Entscheidung zu ihren Gunsten kaum zu erwarten gewesen. “Hat also der Kampf ungefähr eine halbe Stunde dergestalt gewährt”, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht über die Gefechtshandlungen, “daß man nit wissen mögen, welcher Theil obsiegen werde, sondern wie 2 Mauern gegen einander gehalten”.

Die Kaiserlichen drangen jedoch unaufhaltsam vor. Zug um Zug gelang es ihnen, die Schanzen zu ersteigen. Nach kaum mehr als einer Stunde war das böhmische Heer nicht im Rückzug, sondern bereits in regelloser Flucht begriffen. Bis zu den Toren Prags wurden die völlig erschöpften und demoralisierten Truppen von den nachsetzenden Feinden verfolgt.

Die Ursachen für den ebenso raschen wie vollständigen Zusammenbruch liegen zum Teil gewiß in militärischen Versäumnissen und taktischen Fehlern. Nach dem Protokoll einer kurze Zeit später einberufenen Sitzung des böhmischen Kriegsrats hatte die allgemeine Disziplinlosigkeit seit Monaten so überhand genommen, daß “der Soldat mehr dem Freund als dem Feind Schaden that”. Zutreffend kritisierte der kurpfälzische Rat Christoph von Dohna überdies die Schwächen der ständischen Finanzpolitik: “Aus dem Mangel an Bezahlung aber und aus der Unordnung bei den böhmischen Truppen ist späterhin alles Unheil entstanden. Die Compagnien wurden schwächer, die Befehlshaber unwillig”. Als Herzog Maximilian um die Mittagszeit des 9. November 1620 in Prag seinen Einzug hielt, hatte König Friedrich, der an der Schlacht persönlich nicht teilgenommen hatte, die Landeshauptstadt bereits verlassen. Nur einen Jahreslauf hatte er, dem alle Hoffnungen der Protestanten gegolten hatten, die böhmische Krone getragen.

Wie kein anderes Ereignis der neuzeitlichen Geschichte Böhmens ist die Schlacht am Weißen Berg im kollektiven Bewußtsein der Tschechen verankert. “Jedermann kennt sicherlich aus der Geschichte jenen verhängnisvollen Tag, den 8. November 1620, als auf dem Weißen Berg die Glaubensfreiheit begraben, das Volk durch das kaiserliche Heer vergewaltigt und die Freiheit der Nation unterdrückt wurde”. Mit geringen Abweichungen finden sich Deutungen wie diese – sie entstammt einer 1902 in Prag veröffentlichten Geschichte der Jesuiten von Karel Stareck_ – in nahezu sämtlichen tschechischen Geschichtswerken und Schulbüchern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der historische Mythos vom Weißen Berg steht nicht nur für den Verlust der Staatlichkeit, der Rechte und des evangelischen Glaubens. Er steht auch für den Anfang eines tiefen kulturellen und nationalen Verfalls des tschechischen Volkes, das sich erst während der sogenannten Wiedergeburtsbewegung seiner selbst erneut bewußt wurde. Dem böhmischen Barockzeitalter widmete Alois Jirásek, der erfolgreichste historische Romancier des 19. Jahrhunderts, gleich mehrere Romane, die den vermeintlichen Niedergang der tschechischen Nationalkultur in den düstersten Farben schilderten. Die größte Wirkung erzielte er mit seinem Roman “Temno” (Finsternis). Als Epochenbezeichnung wurde der Titel des Romans zum festen Bestandteil der tschechischen Nationalgeschichtsschreibung, welche die Geschichte der böhmischen und mährischen Neuzeit in zwei große, scharf voneinander getrennte Zeitabschnitte unterteilt: in die glanzvolle Epoche vor 1620, die Zeit religiöser und politischer Selbstbestimmung, und in die finstere Epoche nach dem militärischen Zusammenbruch, die Zeit nationaler Bevormundung und Entrechtlichung. Die “Wiedergutmachung” der Niederlage am Weißen Berg, ein Thema, das böhmische Maler, Bildhauer und Schriftsteller seit der Romantik immer häufiger aufgriffen, wurde im 19. Jahrhundert schließlich zu einer wesentlichen Triebkraft der tschechischen Politik gegenüber Wien. Noch 1971 urteilte Josef Polisensky, der Altmeister der tschechischen Historikerzunft: “Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Problematik des Weißen Berges zu den Grundfragen der tschechischen Nationalgeschichte gehört hat und gehört. Kein Dialog über den “Sinn der tschechischen Geschichte‘ konnte und kann ohne Deutung des Weißen Berges auskommen”. Eine ethnisch-nationale Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Deutschen war der Ständeaufstand zu keinem Zeitpunkt – ganz abgesehen davon, daß es damals noch kein modernes Nationalbewußtsein “der” Tschechen oder “der” Deutschen gab. Die Fronten waren schwerer zu durchblicken, als es die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in nationalen Kategorien urteilende und verurteilende Geschichtsschreibung zu vermitteln suchte. So gab es tschechische Standesherren, die katholisch waren und habsburgische Parteigänger ebenso wie deutsche Aufständische, für die der Kampf gegen die verhaßte Dynastie im Vordergrund stand. Der Aufstand war zunächst ein Stände- und Konfessionskonflikt, wie er in ähnlichen Formen, wenn auch nur selten in vergleichbarer Schärfe, für andere europäische Länder im 16. und 17. Jahrhundert kennzeichnend war. Insofern war es kein Zufall, daß das böhmische Geschehen zum Auslöser eines Dreißigjährigen Krieges werden konnte, der erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden beendet wurde. Um den folgenschweren Zusammenstoß von Ständen und Königtum in den böhmischen Ländern zu verstehen, ist es unumgänglich, einige Jahrzehnte zurückzublenden…

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Prof. Dr. Joachim Bahlcke

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