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Der „Alice in Wonderland“-Präsident

John F. Kennedy und die amerikanische Außenpolitik

Der „Alice in Wonderland“-Präsident
Was wäre geschehen, wenn – mit diesen Fragen beschäftigt sich die „kontrafaktische Geschichtsschreibung“. Was also wäre geschehen, wäre Präsident Kennedy nicht ermordet worden? Die Diskussion darüber ist neu entbrannt.

Nach einem Erdrutschsieg über den republikanischen Herausforderer Barry Goldwater im November 1964 brachte John F. Kennedy eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot. Auf der Grundlage des im Vorjahr mit der UdSSR vereinbarten Verbots, Atomwaffen in der Atmosphäre zu testen, unterzeichnete man zunächst einen Nichtangriffsvertrag mit Moskau und schließlich weitere Abkommen, die dem Rüstungswettlauf ein Ende bereiteten und ungeheure Mittel zur Investition in Bildung und Wohlfahrt freisetzten. Inspiriert von der sozialdemokratischen Idee eines „Wandels durch Annäherung“, nahmen die USA mit der DDR diplomatische Beziehungen auf und ermutigten die Bonner Regierung zur Anerkennung der polnischen Westgrenze. Aus dem „Eisernen Vorhang“ wurde almählich eine für Ideen und Waren durchlässige Grenze. Und in Südostasien fand der längste Kolonialkrieg des 20. Jahrhunderts sein Ende. Die letzten amerikanischen Militärberater packten 1965 ihre Koffer und überließen es den Vietnamesen, darüber zu befinden, in welcher Gesellschaftsordnung sie fortan leben wollten. Der Kalte Krieg gehörte endgültig der Vergangenheit an.

Bekanntlich war alles ganz anders. Am 22. November 1963, nach 1000 Tagen im Weißen Haus, fiel der 34. Präsident der Vereinigten Staaten in Dallas einem Attentat zum Opfer, sein Nachfolger schickte im Lauf von zehn Jahren drei Millionen Soldaten nach Vietnam, an der Berliner Mauer schossen Grenzpolizisten weiterhin auf Flüchtlinge, die USA wurden von einer beispiellosen Welle politischer Gewalt erschüttert, und die Hoffnungen auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ kamen im August 1968 unter die Räder der in Prag einrollenden russischen Panzer.

Daß dieser Lauf der Dinge in sein Gegenteil hätte verkehrt werden können, ist im Rückblick schwer vorstellbar. Dennoch finden auch prominente Historiker Gefallen an einer „kontrafaktischen Geschichtsschreibung“: Ohne die Kugeln von Dallas wäre die Welt eine andere gewesen. Howard Jones und Robert Dallek – die prominentesten Autoren aus jüngster Zeit – setzen damit eine Debatte fort, die der Regisseur Oliver Stone in den frühen 1990er Jahren mit seinem Film „JFK“ popularisierte. Im Unterschied zu Stone geht es ihnen nicht um ein Gedankenexperiment, sie pochen darauf, daß die Quellen ihre Behauptung untermauerten.

Damit wird die Debatte über John F. Kennedy um ein anregendes Kapitel erweitert. Die Frage nach seinen langfristigen Zielen schärft den Blick für das politische Terrain, auf dem er sich hätte behaupten müssen, und somit für die Mittel und Möglichkeiten, die ihm gegeben waren. Es geht also um den Versuch, den historischen Ort einer unvollendeten Präsidentschaft zu vermessen. In der Tat scheint einiges für den Mut zu einer riskanten Neuinterpretation von John F. Kennedy und seiner Amtszeit zu sprechen. Ehedem ein hart gesottener Kalter Krieger, der in der Sprache eines Joseph McCarthy das Außenministerium für den „Verlust Chinas“ und die Regierung Eisenhower aller Evidenz zum Trotz für eine „Raketenlücke“ verantwortlich machte, schlug der Präsident nach der Kuba-Krise versöhnliche Töne an. Er distanzierte sich deutlich von den Advokaten eines atomaren „Erstschlags“ um den Luftwaffenchef Curtis LeMay und den Marinebefehlshaber Arleigh Burke, die sein Vertrauen ein um das andere Mal mißbraucht hatten. Auf Anordnung des Weißen Hauses stellte Verteidigungsminister Robert McNamara mehrfach klar, daß die USA Atomwaffen nur zur Vergeltung und damit im „Zweitschlag“ einsetzen würden. Insbesondere justierte Kennedy das Verhältnis zu Nikita Chruschtschow neu. An die Stelle einer ins Persönliche gehenden und mit Macho-Allüren aufgeladenen Konfrontation trat fortan das Bemühen um einen von nüchternem Kalkül geleiteten Interessenausgleich. Auf diese Weise wurden binnen weniger Monate bemerkenswerte Fortschritte erzielt – darunter die Einrichtung eines „heißen Drahts“ zwischen den Hauptstädten und im Sommer 1963 der bis dato kaum für möglich gehaltene Abschluß eines Abkommens zum Verbot überirdischer Atomversuche.

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Nicht zuletzt sprach sich der Präsident im Kreis seiner Berater wiederholt gegen einen mit amerikanischen Truppen geführten Landkrieg in Südostasien aus. „Das ist doch wie mit einem Drink“, pflegte er zu sagen. „Man nimmt einen, die Wirkung läßt nach, und schon will man nachgießen.“ Sollte es nicht möglich sein, für Vietnam ein Neutralitätsabkommen nach dem Vorbild von Laos zu schließen, dann müßten die Südvietnamesen ihre Konflikte selbst austragen. Wie es scheint, ahnte Kennedy früher als andere in Washington, daß die Ausweitung des militärischen Engagements auch die Gefahr eines politischen Kontrollverlusts mit sich brachte. Auch aus diesem Grund unterzeichnete er im Oktober 1963 eine Direktive zur nationalen Sicherheitspolitik, die binnen dreier Monate den Abzug von 1000 Militärberatern vorsah…

Dr. Bernd Greiner

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