… Der Empfang der Wundmale wies dem poverello einen bevorzugten Platz unter den Heiligen zu, indem sie ihn als alter Christus, als zweiten Christus, erscheinen ließen. Anfangs hatte man von offizieller Seite das Stigmatisationswunder von 1224 auf dem Berg La Verna eher zurückhaltend behandelt, in der Kanonisationsbulle zur Heiligsprechung von 1228 kommt es noch nicht vor. Gut 200 Jahre später entstand die kleine Bildtafel des Fra Angelico aus Fiesole (oben). Sie war – wie jene mit der Feuerprobe des Franziskus vor dem Sultan auf Seite 24 – einst Bestandteil des Sockels eines heute auf mehrere Orte verteilten Altaraufsatzes, das der Dominikanermönch 1428/29 für die bedeutende Franziskanerkirche Santa Croce in Florenz schuf. Seit 1237 galt die Stigmatisation dann als kirchlich beglaubigt. Dieser mystische Bezug war für die Reliquienverehrung von höchster Relevanz, vermittelte Franziskus doch in seinen Reliquien so unmittelbar zu Christus. Das belegen zwei frühe, um 1250 bis 1270 in Limoges geschaffene Franziskus-Reliquiare, die im Musée du Louvre und im Musée Cluny in Paris aufbewahrt werden. Das vierpassförmige Reliquiar zeigt auf seiner Hauptseite fünf von Bergkristallen verschlossene Depositorien für Reliquien, die an die Fünf Wunden Jesu gemahnen. Auf der Rückseite zeigt die Kupferplatte die Szene der Stigmatisation. Unten steht zwischen blühenden Bäumen Franziskus. Die erhobenen Hände, die Füße und die Seite tragen die Wundmale. Franziskus hat den Blick erhoben. Über ihm erscheint in einer Wolkenbordüre Christus am Kreuz als Seraph (Seraphim sind sechsflügelige Engel, die in der außerbiblischen Tradition an der Spitze der Engelshierachie stehen)…
Prof. Dr. Christoph Stiegemann