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Die Herren der Meere

Schiffahrt, Handel, Entdeckungen

Die Herren der Meere
Szene aus zahllosen Filmen: Kräftige Wikinger rudern mit ihren Langschiffen selbst an die entferntesten Ecken der Erde. Doch diese beeindruckende Darbietung hat einen entscheidenden Fehler – sie stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein.

Es besteht kein Zweifel daran, daß die bedeutendste technische Sonderleistung im mittelalterlichen Skandinavien die Entwicklung von hochseetüchtigen und vergleichsweise schnellen Segelschiffstypen war. Diese Schiffe verschafften den Skandinaviern auch den einzigen militärisch-technischen Vorsprung gegenüber den anderen Westeuropäern, denn im Hinblick auf die Form der Waffen bestanden kaum Unterschiede, und hinsichtlich der Qualität der metallenen Waffenteile hinkten die Krieger aus dem Norden etwa beträchtlich hinter dem Frankenreich her.

Als die beiden heute berühmtesten Wikingerschiffe, das Osebergschiff und das Gokstadschiff, Ende des 19. Jahrhunderts aus gewaltigen Adelsgräbern am Oslofjord geborgen wurden, war man der Meinung, damit genau den Schiffstyp gefunden zu haben, mit dem die Wikinger ihre berühmten Plünder-, Handels- und Entdeckungsreisen unternommen hatten, nämlich das Langschiff.

Zwar hätten auch die Wikinger dieses Schiff schon als Langschiffe bezeichnet, doch mit einer ganz anderen Bedeutung: „Langschiff“ war synonym mit „Kriegsschiff“, im Kontrast zu anderen Schiffstypen, wie Handelsschiffen, Transportschiffen, Fährschiffen oder Fischereifahrzeugen. Hierin folgte man offenbar den Römern, die mit „navis longa“ ebenfalls das Kriegsschiff bezeichneten. Das Gokstadschiff und das Osebergschiff waren also ganz deutlich Kriegsschiffe, aber von unterschiedlichem Typ: Das reich dekorierte Osebergschiff war extrem flach und schlank und somit auch zweifellos recht schnell war. Das wesentliche massivere Gokstadschiff war dagegen viel hochbordiger. Und trotzdem war auch das Gokstadtschiff noch sehr schnell, wie dessen Nachbau, die „Viking“, 1893 bewies: Das Schiff segelte in 27 Tagen von Bergen in Norwegen zur Weltausstellung nach Chicago (das sind 2600 Seemeilen, rund 4800 Kilometer) und erreichte dabei Geschwindigkeiten von elf Knoten (etwa 20,5 km/h), was heute noch für ältere Langstreckenfrachter eine akzeptable Geschwindigkeit ist.

Gerade angesichts dieses spektakulären Erfolgs ist es eine Ironie der Geschichte, daß die Wikinger mit solchen Schiffen wohl niemals so lange Entdeckungfahrten unternommen haben. Das schicke Osebergschiff war nämlich wegen seines niederen Freibords nur sehr bedingt außerhalb von Küstengewässern einsatzfähig und ist am ehesten als königliche Yacht zu bezeichnen. Auch das seetüchtigere Gokstadschiff hätte auf Hochseestrecken zu wenig Schutz und auch Raum geboten. Solche Kriegschiffe wurden in Küstengewässern um Norwegen, vielleicht auch in der Ostsee eingesetzt; auf offener See hatten diese schnellen Kreuzer nichts zu suchen. Für Hochseefahrten verwendeten die Wikinger nämlichen einen ganz anderen Schiffstyp, dessen Aussehen wir erst seit einem sensationellen Schiffsfund der 1960er Jahre im dänischen Roskildefjord kennen, bei dem fünf Wikingerschiffe verschiedener Typen gehoben wurden. Der wichtigste Fund darunter war der eines 16,5 Meter langen und 4,6 Meter breiten wikingerzeitlichen Hochseehandelsschiffes, dessen Typ wir schon lange aus den mittelalterlichen Quellen kennen: die sogennannte „knörr“ ( Plural „knarrar“). Dieser Typ ist zwar in der selben Technik gebaut wie die Langschiffe, aber viel stärker, hochbordiger und weist nicht zuletzt nur vier Riemenpaare auf, was zeigt, daß dieses Schiff bis auf Hafenmanöver ausschließlich gesegelt wurde. Das war auch das Aus für den Mythos, demzufolge Wikinger ihre Schiffe selbst über lange Hochseestrecken gerudert hätten.

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Gerudert wurden auch Kriegsschiffe nur in der Schlacht selbst, sonst bei Hafenmanövern, in Fjorden und auf Flüssen. Für Langstreckenfahrten war dies kein geeigneter Antrieb – und es waren doch gerade diese Fernreisen, die die Wikinger ebenso berühmt wie berüchtigt gemacht haben. Denn während England und Irland, auch Friesland und Frankreich von Norwegen und Dänemark nur zwei bis vier Segeltage entfernt liegen, benötigte man für Strecken von mehrereren 1000 Kilometern wie um Westeuropa herum ins Mittelmeer, besonders aber nach Grönland und Nordamerika ganz andere navigatorische und nautische Fertigkeiten. Respekt vor diesen Distanzen und den damit immer verbundenen Gefahren hatten die frühmittelalterlichen Skandinavier jedenfalls kaum. Ein von isländischen Mönchen des Hochmittelalters auf Pergament festgehaltener, aber sicherlich schon viel älterer Text gibt uns die Segelanweisungen für den Nordatlantik: „So sagen weise Männer, daß man von Stade [heute Stadlandet nördlich des Nordfjords] in Norwegen sieben Segeltage nach Horn in [Süd-]Ost-Island braucht, aber von Snæfellsness vier Segeltage bis nach Hvarf in Grönland. Von Hernum [heute Hennøya nordwestlich von Bergen] in Norwegen soll man genau nach Westen bis Hvarf [in der Ostsiedlung] in Grönland segeln, sodaß man nördlich der Shetland-Inseln so vorbeisegelt, daß man sie nur bei klarer Fernsicht sieht, aber südlich der Färöer so, daß der Horizont auf halber Höhe der Berge liegt, und so südlich von Island vorbei, daß man davon nur die Vögel und Wale sieht“. Das ergibt also für die rund 1300 Kilometer von Westnorwegen bis Südisland realistische sieben Tage, dagegen erscheinen – bei einer geschätzten Durchschnittsgeschwindigkeit von neun Knoten – die nur vier Segeltage für die Fahrt von Westisland um die grönländische Südspitze herum (etwa 1500 Kilometer) etwas optimistisch. Irland indes konnte von Südisland aus problemlos innerhalb von drei Tagen (circa 1200 Kilometer), von Nordisland aus in fünf Tagen (etwa 1600 Kilometer) bei gutem Wind erreicht werden. Die Strecken zwischen Norwegen, Island, Schottland und Irland wurden schon seit der frühesten Wikingerzeit im 8. Jahrhundert intensiv befahren. Der dichte Schiffsverkehr zwischen Norwegen und Island wurde nach der Christianisierung der Insel im Jahr 1000 wohl eher noch dichter, und erst im Spätmittelalter geriet Island unter erst norwegischer, dann dänischer Herrschaft in eine jahrhundertelange Isolation. In der Wikingerzeit aber waren es zuerst Hunderte von Handelsschiffen, „knarrar“ eben, die Siedler von Norwegen oder auch den schottischen Inseln nach Island brachten. Später brachten viele Handelsschiffe Holz und Getreide nach Island und nahmen dafür Wolle und Felle mit zum Kontinent. Auch die Kirchen und Klöster des Mittelalters waren auf diesen intensiven Verkehr angewiesen – nicht nur um Nachschub an Meßwein zu bekommen, sondern vor allem wegen der innerkirchlichen Kommunikation mit den Festlanddiözesen und mit Rom.

Die in den zitierten Segelanweisungen gegebenen Segelzeiten sind zwar wohl Idealwerte, die mit einem vollspantigen Handelsschiff nur bei günstigem Wind und gutem Wetter erzielt werden konnten, aber man kann daran sehen, daß die betreffenden Distanzen keine abschreckende Wirkung auf potentielle Entdecker haben konnten. Dazu kommt, daß die Wikinger glaubten, daß Grönland durch eine Landbrücke mit Nordskandinavien bzw. Westsibirien verbunden sei, wofür man eine Reihe von „Beweisen“ anführte, wie etwa angebliche Fußreisen von Norwegen nach Grönland. Geographische Texte mittelalterlicher isländischer Möche äußern zudem die Vermutung, daß das vor 1000 entdeckte und später kurzeitig besiedelte Vinland (wohl mit Neufundland zu identifizieren) weiter südlich mit (Nord-)Afrika zusammenhängen könnte. Damit wird der ganze nördliche Nordatlantik in der Vorstellung der Wikinger zu einem überschaubaren Binnenozean der Skandinavier, dessen Überquerung weder große navigatorische noch logistische Probleme bereitete. Die Grenzen und fernen Ufer dieses Meeres waren zwar nicht durchwegs bekannt, wurden aber als bekannt vorausgesetzt, was ihnen die Schrecken weitgehend nahm…

Prof. Dr. Rudolf Simek

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