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Die Natur als belebt betrachten

Weltbild der Schamanen Sibiriens

Die Natur als belebt betrachten
Ein Schamane trägt eine hohe Verantwortung. Als Verkörperung seiner Gruppe reist er in andere Welten und setzt sich dort für deren Schicksal ein. Unterstützt von Hilfsgeistern, versucht er die Signale der Natur zu deuten, um die richtigen Entscheidungen für den Einzelnen wie für die Gruppe zu treffen. Dahinter steht eine besondere Vorstellung vom Leben des Menschen in der Natur.

Kulturen haben wohl schon immer Antworten auf jene Fragen gesucht, die letztlich unser Sein bestimmen. Diesen Fragen ist kaum auszuweichen, auch wenn heutzutage viele Menschen meinen, mit Hilfe des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts die Natur erklären zu können. Verleiht in traditionalen Gesellschaften das „Wissen um die letzten Dinge“ denen, die darüber verfügen, Ansehen und Autorität, so dominiert in modernen Gesellschaften der Glaube an die Beherrschbarkeit der Natur durch technologisches Know-how. So wurde in der Sowjetzeit propagiert, dass die Natur durch den Einsatz von Technik selbst unter den extremen Bedingungen Sibiriens zu bezwingen sei. Die Welt‧bilder der dort lebenden Menschen wurden für obsolet erklärt, deren Repräsentanten – die Schamanen – verfolgt und teilweise getötet, stellten sie doch die ideologische Legitimation der neuen Machthaber in Frage.

Bis dahin hatte der Schamanismus unzähligen Generationen Orientierung im Umgang mit der Natur gegeben und ihnen so zum Überleben unter schwierigsten äußeren Bedingungen verholfen. Was machte ihn so erfolgreich? Und was bewirkte, dass er in den Gemeinschaften so stark verankert war, dass die Sowjets ihn nicht durch Überzeugungsarbeit, wie anfänglich beabsichtigt, sondern nur mit Gewalt bekämpfen konnten?

Schamanen wurden vor allem zur Bewältigung von Krisensituationen herangezogen. Diese konnten persönlicher Natur sein, aber auch die Gemeinschaft als Ganzes betreffen. Als Ursache galt immer menschliches Fehlverhalten: Krisen waren Ausdruck eines gestörten Gleichgewichts zwischen den Menschen und den sie umgebenden Mächten der Natur, als deren Teil sie sich empfanden. Als Folge konnte ein Mensch erkranken oder das Jagdwild ausbleiben. Im rituellen Dialog mit den Mächten der Natur mussten daher die Ursachen der von Zeit zu Zeit erfahrenen Notsituationen geklärt werden. Oder man suchte Rat in Fragen, die man selbst nicht zu entscheiden vermochte, etwa nach der richtigen Route für die nomadisierenden Rentierhirten.

Wer war zu einem solchen Dialog mit den Naturmächten imstande? Was prädestinierte einen Menschen dazu, und wie wurde er gefunden? Die Entscheidung darüber lag nie bei ihm selbst. Vielmehr beriefen ihn bestimmte Geister, die ihm nach erfolgreicher Initiation als Helfer in seinem rituellen Dialog mit den übernatürlichen Mächten zur Verfügung standen. Bestimmte Merkmale ließen die Eignung eines Menschen vermuten, etwa eine besondere Sensibilität, Spannungen im sozialen oder natürlichen Umfeld wahrzunehmen. Auch führte eine Berufung oft zu einer ernsthaften psychischen oder gar körperlichen Erkrankung des Schamanen-Anwärters – und gerade dies verwies darauf, dass er erwählt war. Ob ein Schamane oder eine Schamanin dann dauerhaft mit dieser Funktion betraut wurde, dafür war letztlich der Erfolg ausschlaggebend, den sie vorzuweisen hatten.

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Häufig versuchten die Berufenen, sich gegen diese Bestimmung zu wehren. Keineswegs alle sahen das „Amt“ als attraktiv an, zumal es mit großer Verantwortung, aber kaum mit Privilegien oder materiellen Vorteilen verbunden war. Im Gegenteil, Schamanen hatten manchmal die Versorgung ihrer Familie und ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten, denen sie ja immer noch nachgehen mussten, hinter die von ihnen erwarteten Aufgaben für das Wohlergehen der Gemeinschaft zurückzustellen.

Oft lag es nahe, dass die Hilfsgeister eines verstorbenen Schamanen einen Anwärter aus dessen engerer Verwandtschaft auswählten, häufig den Enkel oder die Enkelin. Das heißt aber keineswegs, dass es sich verfestigende Schamanendynastien gab; auch bei einer gelegentlichen „Erbfolge“ war immer die Eignung wichtig.

Die Berufung war nur der erste Schritt in der Schamanenwerdung. Hinzu kam die Einweisung in die rituellen Praktiken durch einen Lehrmeister, in der Regel einen erfahrenen älteren Schamanen. Hierzu zählte vor allem das Erlernen der rituellen Ek‧stase: Unter dem Einfluss oft monotoner Trommelgeräusche und Ritualgesänge, besonderer körperlicher Belastungen sowie halluzinogener Pflanzen versetzte sich der Schamane in einen tranceartigen Zustand, der ihn für den Dialog mit den übernatürlichen Mächten sensibilisierte. Dann vergewisserte er sich der Unterstützung bestimmter Hilfsgeister, meist tiergestaltiger Wesen, in die er sich bei Bedarf verwandeln konnte – sie dienten ihm quasi als Alter Ego; oder er nutzte sie als Transporttiere auf seinen weiten Reisen in die unterschiedlichsten Regionen des Kosmos…

Literatur: Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 2007: Sibirische Völker. Transkulturelle Beziehungen und Identitäten in Nordasien. Berlin 2007.

Schamanen Sibiriens Magier, Mittler, Heiler Linden-Museum Stuttgart Staatliches Museum für Völkerkunde 13. Dezember 2008 – 28. Juni 2009 Die Ausstellung greift die Faszination „Sibirien“ auf und bietet tiefe Einblicke in die Lebenswirklichkeit sibirischer Völker. Im Mittelpunkt steht die Weltsicht des Schamanismus. Erzählt werden Lebensgeschichten historischer Schamanen, anschaulich illustriert durch ihre reichverzierten Gewänder, Ritualgegenstände wie Trommeln und Spiegel, höchst überraschende Zeichnungen auf Walrosszähnen sowie historische Fotografien.

In Kooperation mit dem Russischen Ethnographischen Museum St. Petersburg werden 160 Spitzenobjekte gezeigt, die in Westeuropa noch nie zu sehen waren. Auch die Musik der Schamanen ertönt, und eine multimediale Installa‧tion bietet faszinierende musikalische und visuelle Eindrücke. Indem die Ausstellung heutige Schamanen und zeitgenössische sibirische Künstler präsentiert, schlägt sie eine Brücke zur Gegenwart.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Dietrich Reimer Verlag, Berlin.

http://www.lindenmuseum.de

Dr. Erich Kasten

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♦ Zen|tral|rech|ner  〈m. 3; IT〉 zentraler Rechner einer EDV–Anlage, Zentraleinheit

♦ Die Buchstabenfolge zen|tr… kann in Fremdwörtern auch zent|r… getrennt werden.

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Feld|ha|se  〈m. 17; Zool.〉 nichtgeselliger, auf dem Feld lebender Hase, etwa 70 cm lang u. 6 kg schwer, der sich im Unterschied zum Kaninchen nicht eingräbt: Lepus europaeus

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