Bis zu diesem Zeitpunkt ist Literatur in der Wiederaufbaugesellschaft der Nachkriegszeit ein eher randständiges Phänomen. Mit der Aufführung des Hochhuth-Dramas findet diese Phase ihr jähes Ende. Nie zuvor hat ein Theaterstück so heftige Emotionen provoziert und die Meinungen im Land so stark polarisiert. Und es macht seinen 31jährigen Autor, der zuvor als Lektor beim Bertelsmann Verlag die Werke Wilhelms Buschs herausgegeben hatte, schlagartig weltbekannt.
Der „Stellvertreter” spielt in den Jahren 1942–1944 in Berlin, Rom und Auschwitz. In dem Stück geht es um das Verhältnis des Heiligen Stuhls zur “Endlösung” der Judenfrage. Spätestens seit Frühjahr 1942 wußte Papst Pius XII (1876–1958) von Massenvernichtungen jüdischer Bürger in den Konzentrationslagern im besetzten Polen. Doch dazu schwieg der Heilige Vater, die ehrwürdigste moralische Instanz auf Erden, die für sich in Anspruch nahm, Gottes Stellvertreter zu sein; er nannte weder den Holocaust noch die dafür Verantwortlichen öffentlich beim Namen. Und der Papst schwieg nicht nur 1942, er schwieg auch noch im Herbst 1943, als in Rom, sozusagen „vor seiner Haustür”, jüdische Mitbürger in die KZs “abgefahren” (Heinrich Himmler) wurden, ja er schwieg selbst noch 1944, als der Vatikan längst unter alliiertem Schutz stand und Vergeltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten nicht mehr zu befürchten waren. Um diese Tatsachen herum hatte Hochhuth sein Schauspiel aufgebaut. Dieser, so Erwin Piscator im Vorwort zur Buchausgabe des Schauspiels, „breitet wissenschaftlich erarbeitetes Material künstlerisch formuliert aus, er ordnet, er gliedert sein Material mit den Mitteln eines – ich sage das mit vollem Bewußtsein – bedeutenden Dramatikers.”
Freilich verlieh gerade der große Apparat an historischen Quellen der Empörung des Autors gegenüber dem Heiligen Stuhl besondere Schubkraft. Als Ergebnis entstand, durchaus im Sinne Friedrich Schillers, “Theater als moralische Anstalt”. Und dessen Wirkung fiel umso stärker aus, als Erwin Piscator ja nicht die Buchausgabe samt der abgedruckten Quellen, sondern nur das Drama selbst und dieses noch dazu in einer auf etwa zwei Fünftel komprimierten Version auf die Bühne brachte (in voller Länge ist es in weniger als sechs Stunden kaum aufführbar). So konnte der direkte Szenenwechsel vom Papstpalast zur Gaskammer zwischen dem vierten und fünften Akt die tragische Fallhöhe besonders sinnfällig machen.
Im Frühjahr 1963 kam es, vor allem über der (hypothetischen) Frage, ob der Papst die Mordmaschinerie des NS-Regimes hätte anhalten können, wenn er sein Amt dazu genutzt hätte, die Weltöffentlichkeit auf den Holocaust aufmerksam zu machen, zu nicht enden wollenden Debatten (die, wie wir gerade wieder erleben, bis heute anhalten). Der Literaturkritiker Fritz Raddatz, der in einem Taschenbuch eine Bilanz der Wirkung des Stellvertreters vorlegte, konnte schon ein knappes halbes Jahr später aus über 3000 zwischen heller Begeisterung und wütender Ablehnung schwankenden Kritiken, Berichten und Briefen auswählen.
Viele, von denen man es gar nicht erwartet hatte, meinten Farbe bekennen zu müssen: So initiierte etwa der CDU-Abgeordnete Heinrich Krone eine “Kleine Anfrage” von 19 Parteifreunden an den Bundestag: “Muß es die Freunde unseres Volkes nicht befremden, wenn gerade von deutscher Seite in Papst Pius XII. eine Persönlichkeit angegriffen wird, die nicht nur den Juden während der Verfolgung durch das Naziregime tatkräftig geholfen, sondern auch während der gesamten Zeit ihres Wirkens dem deutschen Volk besonders nahe gestanden hat?” Der damalige Außenminister Gerhard Schröder (CDU) drückte das tiefe Bedauern der Regierung Adenauer aus, „daß in diesem Zusammenhang Angriffe gegen Papst Pius den XII. gerichtet worden sind.”
Hochhuth hatte aus der Verteilung von Sympathie und Antipathie der im Stück handelnden Figuren nicht den geringsten Hehl gemacht. Als „sympathisch” zeichnete er jene, die ihre Grenzen – ob im NS-System oder auf seiten der Kurie – aus Gewissensgründen zu überschreiten bereit waren; den mit der Beschaffung des Zyklon B befaßten SS-Offizier Kurt Gerstein etwa, der im Drama einen Juden versteckt oder den jungen Jesuitenpater Riccardo Fontana, welcher den Papst zu einer offiziellen Verurteilung des Nationalsozialismus zu bewegen versucht…
Dr. Dirk Schindelbeck