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Die Werkstatt der Welt

Die wirtschaftliche Entwicklung im Viktorianischen Zeitalter

Die Werkstatt der Welt
Mehr als die Hälfte des europäischen Eisens wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien produziert. Das Land war auch Vorreiter des Eisenbahnbaus und in zahlreichen anderen Wirtschaftsbereichen. Doch dann wurde Großbritannien in vielen Feldern von den Vereinigten Staaten und Deutschland überholt. Weshalb?

Die Weltausstellung von 1851 sollte nach der Meinung ihres Initiators Prinz Albert „ein lebendiges Bild der Entwicklungsstufe abgeben, welche die gesamte Menschheit bei ihrer großartigen Aufgabe erreicht hat, sich die Natur für ihre Zwecke untertan zu machen. Sie bildet zugleich den Ausgangspunkt, von dem aus alle Nationen ihre weiteren Anstrengungen ausgehen lassen sollten … Dies kann aber nur gelingen durch die Unterstützung, die wir bereit sind uns gegenseitig zu gewähren; durch Frieden, Liebe und tatkräftige Hilfe, nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen den Nationen dieser Erde.“ Wenn der Gemahl Königin Viktorias sein Weltausstellungsprojekt mit diesen Worten begründete, war das für die Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs so utopisch, wie es sich anhören mag.

Die Losung „Wirtschaftlicher Fortschritt durch Frieden“ entsprach voll und ganz der britischen Interessenlage während des Viktorianischen Zeitalters. Großbritannien war nicht nur der Pionier der Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert gewesen; um die Mitte des 19. Jahrhunderts galt das Land geradezu als die „Werkstatt der Welt“: Es stellte zwar nur etwa zehn Prozent der europäischen Bevölkerung, aber es verarbeitete 59 Prozent der von Europa importierten Baumwolle. Großbritannien verfügte ferner über 58 Prozent der europäischen Eisen- und sogar 68 Prozent der europäischen Kohleproduktion. Entsprechend verbrauchte Großbritannien fast genauso viel Energie wie der gesamte Rest des Kontinents zusammen.

Die meisten der neuen, mit industriellen Methoden hergestellten Produkte ließen sich nicht zur Gänze auf dem Binnenmarkt absetzen. Denn mit der Industrialisierung war zunächst noch keineswegs eine spürbare Steigerung des Wohlstands breiter Bevölkerungsschichten einhergegangen. Großbritannien war deshalb auf die Exportmärkte in Kontinentaleuropa und in Übersee angewiesen. Gleichzeitig basierte die Industrialisierung auf der Einfuhr von Rohstoffen, die in Großbritannien gar nicht oder nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung standen. Die britische Volkswirtschaft war demzufolge an offenen Grenzen und sicheren Seewegen interessiert.

Baumwolle, Tabak und Zucker kamen über den Atlantik, Holz und Getreide über die Ostsee. Der britische Außenhandel machte zwar „nur“ etwa ein Drittel des Außenhandels Europas aus. Aber die Außenhandelsstruktur verdeutlicht die Überlegenheit der britischen im Vergleich zur kontinentaleuropäischen Wirtschaft: Während die Briten überwiegend Fertigwaren exportierten und Nahrungsmittel und Rohstoffe importierten, exportierten die kontinentaleuropäischen Staaten Rohstoffe und Nahrungsmittel und importierten (überwiegend britische) Fertigwaren. So überraschte es auch niemanden, daß die britische Wirtschaft auf der Londoner Weltausstellung fast alle Preise für Industrieprodukte gewann, während sich die anderen Länder mit den Preisen für Nahrungsmittel und Handwerksprodukte begnügen mußten.

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Krieg konnte den wirtschaftlichen Fortschritt aus britischer Sicht demzufolge nur behindern. Diese Erfahrung hatte man zuletzt während der Napoleonischen Kriege gemacht, als die Kontinentalsperre die britische Industrie von den europäischen Absatzmärkten abgeschnitten hatte. Rund 100 Jahre lang, zwischen dem Wiener Kongreß 1815 und den Schüssen von Sarajevo 1914, gelang es deshalb den Briten, dieses Interesse an offenen Grenzen im Prinzip durchzusetzen. Man spricht deshalb auch vom „britischen Frieden“ („Pax Britannica“).

Zu Beginn der Viktorianischen Epoche trat Großbritannien gerade in seine zweite, die schwerindustrielle Industrialisierungsphase, in das Eisenbahnzeitalter, ein. Die erste, die leichtindustrielle Phase, war in erster Linie durch die Textilindustrie geprägt gewesen. Mit dem Einsatz von Dampfmaschinen in der Textilindustrie hatten zwar auch der Steinkohlebergbau und die Eisen- und Stahlindustrie einen Modernisierungsimpuls erhalten, aber der Durchbruch kam erst mit der massenhaften Produktion von Schienen und der Nachfrage nach Lokomotiven, dem High-Tech-Produkt dieser Zeit.

Die erste Eisenbahnstrecke von Stockton nach Darlington wurde 1825 eröffnet. Allerdings waren die Lokomotiven auf dieser Strecke noch auf die Unterstützung stationärer Dampfmaschinen angewiesen. Die erste moderne Eisenbahnstrecke verband dann seit 1830 den Baumwollhafen Liverpool mit dem bedeutendsten Verarbeiter dieses Rohstoffs, mit Manchester, der weltweit größten Industriestadt des frühen 19. Jahrhunderts.

Gebaut wurde diese Eisenbahnverbindung von einer privaten Eisenbahngesellschaft, der Liverpool & Manchester Railway Company, deren Erfolg eine wahre Eisenbahnmanie („Railway Mania“) auslöste. Zum Zeitpunkt der Thronbesteigung von Königin Viktoria 1837 waren bereits 500 Meilen Eisenbahn gebaut worden, und die Eisenbahngründungseuphorie erlebte angesichts völlig übersteigerter Gewinnerwartungen gerade ihren ersten Katzenjammer. Diese Krise war aber nur von kurzer Dauer, so daß bis zur Eröffnung der Weltausstellung 1851 bereits über 6500 Meilen gebaut waren.

Der Staat hielt sich aus dem Eisenbahnbau vollkommen heraus. Die Strecken bedurften zwar einer parlamentarischen Genehmigung, aber eine zentrale Netzplanung existierte nicht. Das Netz entstand vielmehr weitgehend ungeordnet, angetrieben allerdings durch die Konkurrenz zwischen den Bahngesellschaften. Überhaupt kann der britische Staat des Viktorianischen Zeitalters zwar nicht als „Nachtwächterstaat“ bezeichnet werden, aber eigener wirtschaftlicher Betätigung enthielt er sich vollständig. Er stand damit ganz im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Staaten, deren „Verkehrsrevolutionen“ überwiegend durch die öffentliche Hand finanziert wurden.

In Großbritannien engagierten sich lediglich die Städte in bestimmten Bereichen der Versorgungswirtschaft, insbesondere bei der Abwasserentsorgung. Auch dafür war Großbritannien um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein vielbeachtetes Vorbild. Ähnlich wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Textilindustrie besaß Großbritannien auch in den Hochtechnologiebranchen der schwerindustriellen Phase der Industrialisierung zunächst einen technischen Vorsprung. Das galt nicht nur für die Eisenbahn, sondern auch für die Stahlindustrie, den Schiffbau oder die Nachrichtentechnik. Große Aufmerksamkeit erregte 1865 das riesige, zum Kabelleger umgebaute ehemalige Passagierschiff „Great Eastern“, als es 4200 Kilometer Kabel durch den Atlantik verlegte, so daß ein Jahr später der Telegrammverkehr zwischen Europa und den Vereinigten Staaten aufgenommen werden konnte…

Prof. Dr. Dieter Ziegler

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