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„Ein fremder Geist ist in sie eingekehrt…“

Friedrich Schiller – eine biographische Skizze

„Ein fremder Geist ist in sie eingekehrt…“
Mit seiner Beschwörung der Ideale von bürgerlicher Freiheit, nationaler Brüderlichkeit und Einheit wurde Friedrich Schiller im 19. Jahrhundert zum Nationaldichter der Deutschen.

In einer „Ankündigung“ seines Journals „Rheinische Thalia“ (1784) schrieb der am 10. November 1759 in Marbach am Neckar geborene Dichter über seine Herkunft: „Ein seltsamer Mißverstand der Natur hat mich in meinem Geburtsort zum Dichter verurteilt“. Mit rhetorischer Emphase markiert der Satz, daß zu dieser Zeit das literarische Leben im Herzogtum Württemberg sich noch auf der Stufe eines fortgeschrittenen Entwicklungslandes befand. Es war an dem historischen Prozeß, von dem das nördliche Deutschland erfaßt worden war – der Entwicklung des Deutschen zu einer der großen Literatursprachen Europas –, trotz seiner protestantischen Bevölkerung wie der ganze katholische Süden des Reiches bis dahin nur in geringem Maße beteiligt. Was in Württemberg als neue Poesie hervortrat, stand meist im Zeichen der Nachfolge Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803), dessen Dichtung den Übergang von religiöser Spiritualität zu säkularer poetischer Begeisterung exemplarisch vorbildete. Auch der junge Schiller war in seinen allerersten Gedichten noch „ein Sklave von Klopstock“, wie er rückblickend selbst sagte.

Die Bedeutung des protestantischen Pfarrhauses für den Aufgang großer Dichtung (und Philosophie) in Deutschland ist ein bekanntes geistesgeschichtliches Phänomen. Schiller entstammte zwar keinem Pfarrhaus, aber seine frommen Eltern – Elisabeth Dorothea, geb. Kodweiß, eine Gastwirtstochter, und der Wundarzt, dann württembergische Offizier Johann Caspar Schiller – bestimmten den Sohn früh zum Geistlichen. Das war bald auch dessen eigener Wunsch, als er in Lorch, dem zeitweiligen Wohnort der Familie, vom dortigen Pastor Moser Privatunterricht erhielt. In der Lateinschule, die er seit 1766 in Ludwigsburg besuchte, war der Lehrplan vornehmlich auf die Vorbereitung zum Theologiestudium ausgerichtet. Dann aber brach in diese Lebensplanung der Machtspruch des regierenden Fürsten ein: Carl Eugen von Württemberg war auf der Suche nach Eleven für seine als „militärische Pflanzschule“ eingerichtete „Karlsschule“ auf den jungen Lateinschüler aufmerksam gemacht worden. Schillers Vater versuchte zwar, sich dem fürstlichen Begehren zu widersetzen, aber ihm blieb als Untertan und Offizier schließlich nur das abgenötigte Einverständnis übrig. So wurde Schiller 1773 der Karlsschüler, der nicht mehr Theologie, sondern die Jurisprudenz betreiben sollte. Da sie ihm gänzlich ungeliebt blieb – er wehrte sich durch Lernfaulheit –, wechselte er auf das Studium der Medizin über, das 1775 in der Karlsschule eingerichtet wurde. Er schloß es 1780 ab.

Die Zeit auf der Karlsschule und Schillers Beziehung zum Herzog, der sich selbst zum Rektor der Schule gemacht hatte und in fast täglichem Verkehr mit seinen Schülern stand, sind als Kampf zwischen „Tyrann“ und „Genie“ zur Legende geworden. Schiller selbst gab dazu die Stichworte: In der zitierten „Ankündigung“ stellte er sich vor als zum Dichter geborener, junger Mensch, aus dessen Kampf „mit der militärischen Regel“ die „Räuber“ hervorgingen, „das Beispiel einer Geburt …, die der naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius in die Welt setzte.“ Seine „Neigung für Poesie“, früh erwacht und hartnäckig festgehalten, „beleidigte die Gesetze des Instituts“. Und wie tief ihn auch die Unterwerfung unter den militärischen Schulzwang traf, bezeugt das seine Dichtung prägende Thema von der Auflehnung des Freiheitswillens gegen Gesetz, Herrschaft, Despotie. Schiller hat immer wieder die Defizite seines Bildungsganges beklagt, aber die Karlsschule vermittelte ihm doch über das medizini?sche Fachstudium hinaus auch die intellektuelle Bildung des Zeitalters, die aus dem frommen Knaben einen Adepten (Anhänger) aufgeklärten Denkens machte. Von seinem Lehrer Jakob Friedrich Abel wurde er in die Moralphilosophie und Anthropologie der Aufklärung eingeführt; das prägte bis zu seinem Kant-Studium, ja darüber hinaus, seine literarischen Schriften.

Der Herzog hatte Schillers Vater eine gute Versorgung des Sohnes versprochen, aber dem aus der Schule Entlassenen wies er eine Stelle zu, die dürftiger kaum sein konnte. Schiller wurde zum elend besoldeten Medikus in einem desolaten Stuttgarter Regiment. Knapp zwei Jahre verrichtete er widerwillig diesen Dienst. Es ist der Beginn einer Periode seines Lebens, die Goethes Bemerkung über Karl Philipp Moritz auch für ihn zutreffend macht: „da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin“. Er verbrachte diese Jahre beschränkter Freiheit und dürftiger Lebensumstände im Kreis von Freunden aus der Schulzeit. Die Erinnerungen der Freunde sprechen von der Wüstheit seines Wohnens, vom Trinken, Spielen, Wirtshaus, Bordell. Die Schuldennot, die ihm lange zu schaffen gemacht hat, nahm hier ihren Anfang, zunächst durch die im Selbstverlag gedruckten „Räuber“. Denn das kam zur unordentlichen Lebensweise hinzu: die Unentwegtheit, mit der er seine Karriere als Dichter verfolgte, nicht nur als Dramatiker, auch mit lyrischen Gedichten („Anthologie auf das Jahr 1782“), deren unbändiges Gebaren hinter den revoltierenden „Räubern“ kaum zurückblieb.

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Carl Eugen setzte dieser Lebensperiode mit einem erneuten Machtspruch ein Ende: Eine lächerliche Affäre, ausgelöst durch einen frechen Satz in den „Räubern“, führte zu dem herzoglichen Gebot, das Schiller alle literarischen Veröffentlichungen untersagte. Der entzog sich dem Diktat durch die in Begleitung des Freundes Johann Andreas Streicher unternommene Flucht nach Mannheim am 22. September 1782. Es war das Ende von Schillers „Heimatjahren“, nur noch einmal, ein Jahrzehnt später, kam er als Besucher nach Württemberg zurück. Am Mannheimer „Nationaltheater“ waren die „Räuber“ im Januar 1782 mit überwältigendem Erfolg zur Aufführung gelangt und bescherten ihm den Ruhm eines „wilden“ Genies. Der Leiter des Theaters, Wolfgang Heribert von Dalberg, schien an einer Verbindung mit ihm interessiert, und Schiller gab sich der Hoffnung hin, in der kurpfälzischen Residenzstadt von der Arbeit für die dortige Bühne leben zu können – ein zweites Trauerspiel, „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“, brachte er bereits mit, ein drittes, „Kabale und Liebe“, hatte er begonnen. Aber Dalberg enttäuschte solche Erwartungen, und der mittellose, auch die mögliche Verfolgung durch den Herzog befürchtende Schiller setzte seine Flucht fort.

Die Freifrau Henriette von Wolzogen – sie war ihm in Stuttgart, wo ihre Söhne auf die Karlsschule gingen, zur mütterlichen Freundin geworden – hatte ihm ihr Gut im thüringischen Bauerbach als Asyl angeboten. Dort lebte er vom Dezember 1782 an, ein im bürgerlichen Sinn Gescheiterter, der freilich weit davon entfernt war, sich als solcher zu begreifen. Zum erstenmal war er ganz frei, unbelastet von der aktuellen Sorge um das tägliche Auskommen, und die Zuversicht künftiger erfolgreicher Lebenswende, so illusionär sie sich bisher auch erwiesen hatte, war eine nicht versiegende Quelle, aus der sich seine Selbstbehauptung speiste.

Voller Pläne führte er die Arbeit an „Kabale und Liebe“ weiter und begann sich mit einem dramatischen Stoff zu befassen, der ihn vier Jahre lang beschäftigen sollte: „Don Karlos“. Mit der nötigen Literatur versorgte ihn der herzogliche Bibliothekar Reinwald im nahen Meiningen, der später mit der Heirat von Schillers älterer Schwester Christophine zu seinem Schwager wurde. Dann brachte ein Sinneswandel Dalbergs Schiller im Juli 1783 nach Mannheim zurück: Ein Jahresvertrag machte ihn zum Theaterdichter, der umgearbeitete „Fiesko“ und „Kabale und Liebe“ kamen zur Aufführung.

Durch die Aufnahme in die kurfürstliche „Deutsche Gesellschaft“, zu deren illustren Mitgliedern Wieland und Klopstock gehörten, wurde Schiller „Kurpfälzischer Unterthan“, was ihn vor der noch immer be?fürchteten herzoglichen Verfolgung sicherte. In Charlotte von Kalb fand Schiller eine Freundin, von der Christophine nach einem Besuch in Mannheim dem Bruder schrieb, sie „schätze sie unter allen von meinem Geschlecht am höchsten“.

Charlotte von Kalb gehörte zu den bedeutenden Frauengestalten aus dem Umkreis der Weimarer Klassik und führte ihn auch in die dortige Welt ein. Denn alle Mannheimer Versprechen mündeten schließlich in neue Aussichtslosigkeit. Dalberg verlängerte den abgelaufenen Vertrag nicht, und Schiller mußte erfahren, wie erbarmungslos ein „freier Schriftsteller“ noch immer sozialer Ungesichertheit ausgeliefert war. Auch das Unternehmen einer eigenen Zeitschrift, der „Rheinischen Thalia“, half ihm nicht aus dieser Zwangslage, sondern vergrößerte zunächst nur seine Schuldenlast.

Dann trat ein Mann in sein Leben, der für ihn zum Inbegriff des Freundes wurde und lebenslang mit ihm verbunden bleiben sollte: Eine Brief- und Geschenksendung kam ihm aus Leipzig zu, deren (anonymer) Absender Christian Gottfried Körner, ein wohlhabender juristischer Beamter in sächsischen Diensten, sich „mit drey Personen, die insgesamt werth sind Ihre Werke zu lesen, vereinigte Ihnen zu danken und zu huldigen“. Nach der fatalen Lebenslenkung kraft willkürlicher Verfügungsgewalt durch den fürstlichen Landesherrn bewirkte Körners bürgerliches Mäzenatentum eine neue schicksalhafte Wegscheide in Schillers Biographie.

Es ist ein Datum von mehr als individualgeschichtlicher Bedeutung: Die unter Klopstocks Leserschaft neu entstehende Dichterverehrung fand ihre soziale Ausprägung in poetischen Zirkeln, privaten Zusammenschlüssen von „Dichtergemeinden“, die man als säkulare Form pietistischer Kreise sehen kann. So wandte sich auch Körner dem Dichter zu in Gemeinschaft mit dem Freund Ludwig Ferdinand Huber und beider Verlobten, den Schwestern Minna und Dora Stock. Aber ihre „Dichteranbetung“, so Schillers eigener Ausdruck, ging nicht auf in Schwärmerei; sie wollten mit ihm zusammen leben in einer „freundschaftlichen Theilnehmung“, die auch praktisch werden sollte in der materiellen Hilfe für den Augenblick und die nächste Zukunft.

Schiller verließ das ihm „zuwider“ gewordene Mannheim, traf im April 1785 in Leipzig ein und folgte Kör-ner einige Wochen später an dessen neuen Dienstort Dresden: „Wie schön liegt die Dresdener Zukunft vor meinen Augen, wie fange ich jetzt an mich meines Lebens zu freuen, weil ich es würdig genießen will“ – eine Lebensstimmung, aus der die Ode „An die Freude“ hervorgegangen ist. Schillers sächsische Jahre waren eine Zeit gehäufter publizistischer Tätigkeit, vor allem für sein – jetzt „Thalia“ genanntes – Journal, in dem er Szenen aus dem „Don Karlos“ und philosophische, poetische und erzählende Texte veröffentlichte, unter letzteren den „Geisterseher“. Aus dem Lesehunger, den er mit ihm beim Publikum erregte, Nutzen zu ziehen, hatte Schiller dann aber doch keine Lust, und der Roman, ein echter „Reißer“, blieb Fragment.

Daneben begann Schiller mit dem Studium der Geschichte, das zwei große Werke zeitigen sollte: über den Abfall der Niederlande von der spanischen Regierung und über den Dreißigjährigen Krieg. Seine Hauptarbeit aber blieb „Don Karlos“, mit dem er nur mühsam vorankam. Vielfach umgearbeitet, wuchs das Drama zu immer größerem Umfang an, nahm alle Themen, Motive, Ideen auf, die Leben und Lektüre dem Autor zutrugen, und wurde nach Lessings „Nathan“ und Goethes „Iphigenie“ zum dritten Schauspiel aus dem Geist aufgeklärter Humanität.

Als das Werk zur ersten Aufführung am Hamburger Nationaltheater gelangte, befand sich Schiller, von Charlotte von Kalb eingeladen, in Weimar. Keine Angebot einer Lebensversorgung führte ihn dorthin: Weimar war der „Ort seiner Bestimmung“. Daß es ihn dorthin zog, erinnert an die Rede des zwölfjährigen Jesus im Tempel: „Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist.“ Rückblickend schreibt er an Körner: „Es ist traurig, daß die Glückseligkeit, die unser ruhiges Zusammenleben mir verschaffte mit der einzigen Angelegenheit, die ich der Freundschaft selbst nicht zum Opfer bringen kann, mit dem inneren Leben meines Geistes, unverträglich war.“

Gegen Ende seiner Mannheimer Zeit hatte er bei einem Zusammentreffen mit dem Herzog Carl August von Weimar diesen um die Gunst gebeten, ihm den Titel eines Weimarischen Rates zu verleihen. Sie wurde gewährt, und Schiller nannte Carl August von nun an „meinen Herzog“. Auch mit Christoph Martin Wieland, dem schwäbischen Landsmann, war er in briefliche Verbindung gekommen. Dieser nahm ihn, wie auch Herder, sehr freundlich auf, und bald konnte er sich selbst zu den weimarischen „Geistesgrößen“ zählen. Goethe allerdings, aus Italien zurückgekehrt, hielt sich betont zurück. Schiller empfand sich mißachtet und reagierte mit einer immer wieder zum Ausdruck kommenden Haßliebe. Er war als Autor etabliert, konnte mit seinen literarischen Arbeiten seinen Lebensunterhalt bestreiten und begann die Schriftstellerei als wirtschaftlichen Ertrag bringendes Unternehmen zu betreiben.

Dabei trat die wenig eintragende Poesie zurück zugunsten der Geschichtsschreibung. Mit ihr reüssierte er nicht nur beim Publikum, sondern hatte auch einen Erfolg unerwarteter Art: Nach dem Erscheinen der „Niederländischen Geschichte“ bot der Herzog ihm eine Professur an der Jenaer Universität an. Sie war zwar nur mit geringen Einkünften verbunden, versprach aber den Eingang in die entbehrte bürgerliche Sicherheit. Schiller wechselte den Wohnort und hielt am 26. Mai 1789 in Jena seine Antrittsvorlesung: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Das akademische Aufsehen, das sie erregte, bezeugt den Grad seiner Bekanntheit und die Hochschätzung, die man ihm entgegenbrachte. Schillers Liebesbeziehungen sind kein besonders ergiebiges Thema für die Biographen, wir wissen auch wenig über die intime Seite dieser Beziehungen. Das gilt selbst für die leidenschaftliche Verliebtheit in Henriette von Arnim, die ihn in den letzten Dresdener Monaten umtrieb, und für sein Verhältnis zu Charlotte von Kalb, die seine und ihre Briefe verbrannte. Nur in einem Fall liegen die Dinge anders: offener, da die (brieflichen) Zeugnisse erhalten sind, und ungewöhnlich, da diese Liebesbeziehung in Gestalt einer ménage à trois erscheint.

Bei einem Sommeraufenthalt in Rudolstadt 1788 war Schiller zum vertrauten Freund Charlotte von Lengefelds und ihrer Schwester Caroline von Beulwitz geworden. (Sie wurde später die Frau seines Freundes von Wolzogen und veröffentlichte 1830 die erste große Biographie des Dichters.) Trotz solcher problematischer Doppelliebe nahm das Verhältnis einen unspektakulären Verlauf, führte, von Caroline gelenkt, zur Verlobung mit Charlotte und im Februar 1790 zur harmonisch, ja glücklich geratenden Ehe. Zwei Söhne und zwei Töchter gingen aus ihr hervor.

Kaum ein Jahr später zog Unheil in Schillers Haus: Eine schwere Lungenentzündung, in deren Folge auch das Rippenfell sich entzündete, was zu einer chronischen Vereiterung führte, brachte den 31jährigen im Januar 1791 an den Rand des Todes. An dem lebte er fortan, von qualvollen Anfällen immer wieder aufs Krankenbett geworfen. Daß er sich gegen die Gewalt des kranken Körpers behauptete, die ihn wochen- und monatelang arbeitsunfähig machte, und ihr widerstehend die Werke schrieb, die ihn zum klassischen Autor machten, bringt in seine Biographie den „heroischen“ Zug, von dem sein Bild in der Geschichte geprägt ist.

Seine Krankheit ruinierte nicht nur seinen Körper, sie untergrub auch seine wirtschaftliche Existenz. Der Ausgang des unheilvoll begonnenen Jahres brachte unverhoffte Hilfe durch einen Kreis von Verehrern, diesmal höchsten gesellschaftlichen Ranges. Vom Prinzen von Augustenburg erhielt er ein mehrjähriges Stipendium, dessen Höhe ihn von der Sorge um den Unterhalt befreite. Er war nicht mehr auf seine akademische Lehre angewiesen, der er durch seine Erkrankung auch kaum mehr nachkommen konnte, und die Freiheit von materiellen Zwängen gab ihm Zeit, sich in das Studium der Kantschen Philosophie zu vertiefen.

Wie fruchtbar es wurde, bezeugen die in den folgenden Jahren entstandenen ästhetischen Abhandlungen, in denen er, Kants „Kritik der Urteilskraft“ folgend, seine eigene Spielart der „Autonomieästhetik“ entwickelte. Die Poesie selbst stand noch immer hinter den theoretischen Arbeiten zurück, das „Wallenstein“-Projekt, dem er sich gerade zuwandte, als ihn die Krankheit befiel, brauchte noch viele Jahre bis zu seiner Realisierung.

Schillers Jenaer Jahrzehnt – 1800 wechselte er ein letztes Mal den Wohnort, danach lebte er bis zu seinem Tod in Weimar – fällt in die Hochzeit der dortigen Universität, die mit Fichte und Schelling, dann auch Hegel, zum Zentrum des nachkantischen deutschen Idealismus wurde, Aufenthaltsort bedeutender Geister der Zeit, die auch Schillers Bekanntschaft suchten. Novalis gehörte zu seinen Schülern, Hölderlin drängte in seine Nähe, August Wilhelm Schlegel war einige Jahre wichtiger Mitarbeiter bei Schillers publizistischen Unternehmungen. Vor allen anderen wurde Wilhelm von Humboldt für einige Jahre zu dem idealen Gesprächspartner, nach dem Schiller um der „Gedanken-Lockung“ und „Geistesreibung“ willen zeitlebens verlangte. Ihre Briefe gehören zum literarischen Grundbestand der klassischen Periode unserer Literaturgeschichte – neben dem Briefwechsel Schillers mit Goethe, der im August 1794 beginnt. Eine eher zufällige Begegnung beider leitete ihren Freundschaftsbund ein, der sich sogleich bewährte bei der Zusammenarbeit für die Zeitschrift „Die Horen“ (1795–1797), deren Herausgabe Schiller mit höchstem – freilich schließlich scheiterndem – Anspruch unternahm, unterstützt von dem aufstrebenden Tübinger Verleger Johann Friedrich Cotta, der zum zuverlässigen Geschäftspartner bei dem Unternehmen „Weimarer Klassik“ wurde. In seinen Beiträgen für die „Horen“ trat Schiller endlich wieder als Dichter hervor, mehr noch mit dem „Musen-Almanach“ (1796–1800), der die meisten seiner nun in großer Zahl geschriebenen Gedichte aufnahm. Vom Aufführungsjahr des Vorspiels „Wallensteins Lager“ (1798) an datiert dann nach mehr als zehnjähriger Pause die bis zu seinem Tod nicht mehr unterbrochene Folge seiner dramatischen Werke. In welchem Maße er in seinen letzten Lebensjahren zum „Volksdichter“ geworden ist, bezeugen die Huldigungen, die ihm 1804 während eines mehrwöchigen Aufenthalts in Berlin zuteil wurden. Die preußische Regierung bot ihm eine wohldotierte Stelle an, aber Schiller blieb trotz anfänglicher Unentschiedenheit Weimaraner – für das kurze Jahr, das ihm noch vergönnt war. Am 9. Mai 1805 endete sein 45 Jahre währendes Leben und begann sein Nachleben, das ein Jahrhundert hindurch im Zeichen höch?sten Ruhmes stand.

Ruhm, heißt es, ist die Summe der Mißverständnisse über einen Menschen und sein Werk. Schillers Mit- und Nachwelt machte sich, von Zweifeln unbeeinträchtigt, Goethes Vers „Denn er war unser“ zu eigen. Keinem anderen deutschen Dichter kam je solche „Popularität“ zu – ein Begriff, der ein Verhältnis zwischen Publikum und Autor bezeichnet, das weiter ist als die Verehrung einer Dichtergemeinde und auch nicht des Urteils einer intellektuellen Elite bedarf. Es ist im buchstäblichen Sinn „primitiver“: eine unmittelbare Zu- und Übereinstimmung, deren festen Grund die allgemeine Geistesteilhabe einer Epoche ausmacht. Schillers Dichtungen enthielten den Stoff, in dem das Publikum seine Gesinnungen und Gefühle, seinen Weltglauben und seine Lebensbedenklichkeiten wiederfand. Auf solche Weise gingen Gedichte von der Art des „Liedes von der Glocke“ in den poetischen Katechismus des deutschen Bürgertums ein, das sich fortan als Erbe und treuer Verwalter der Dichterworte fühlte. Es feierte ihn nicht nur als „Dichterfür?sten“, sondern auch als „Schutzgeist“, „Führer“, „Lehrer“, „Propheten“, fand in seinen Werken die sittlichen Lehren, nach denen es das Leben führen wollte, die Empfindungen mitmenschlicher Teilhabe, und endlich auch die emphatische Beschwörung der Ideale von bürgerlicher Freiheit, nationaler Brüderlichkeit und Einheit, auf die es sich im Begreifen und Gestalten der aktuellen politischen Welt berufen konnte. So wurde Schiller zum deutschen „Nationaldichter“ – Repräsentant einer Spezies, die im 19. Jahrhundert von den Völkern erfunden wurde, die noch ihre staatliche Einheit und Unabhängigkeit entbehrten. Dokument dieser Repräsentanz sind die Zentenarfeiern 1859, die Schiller auf eine historisch einzigartige Weise verherrlichten. Berthold Auerbach ernannte ihn damals zum „deutschesten Dichter“. Heute gelesen, mag das an André Gides Antwort auf die Frage nach dem größten Dichter Frankreichs erinnern: „Victor Hugo, hélas!“ Aber das beigefügte „hélas!“ (leider) ist das eine, der Name, der da steht und bleibt, das andere. Heute taugt statt der verwegenen Identitätsbehaup-tung des Dichters und der Deutschen eher die Besinnung auf einen Satz, den nach Schillers Tod der Weimarer Schriftsteller Johann Daniel Falk schrieb: „Ein fremder Geist ist in sie eingekehrt, aber sie überreden sich, er habe hier seine Heimat gefunden, und sind überselig, ihn Freund, Bruder, ja den Liebling ihrer Seele zu nennen.“

Literatur Kurt Wölfel, Friedrich Schiller. München 2004.

Prof. Dr. Kurt Wölfel

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