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Ein Verhängnis für Deutschland?

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Ein Verhängnis für Deutschland?
John C. G. Röhl beschäftigt sich seit seiner Dissertation im Jahr 1965 mit Wilhelm II. und seiner Herrschaft. Bis heute steht der Kaiser, den er „für eine absolut dominante Persönlichkeit“ hält, im Zentrum seiner Forschungen.

Herr Professor Röhl: Was fasziniert Sie an Wilhelm II., daß Sie ihm so viel Ihrer Zeit widmen wollten? Das ist natürlich ein sehr weites Feld, aber hier ein paar Hinweise: Ich habe früh festgestellt, wie mächtig seine Stellung im Entscheidungsprozeß des Kaiserreichs war. Zu mei-nem großen Erstaunen galt er in den 1960er Jahren bei den deutschen Historikern aber als Quantité négligeable, als Schattenkaiser, der nichts zu sagen hatte, allenfalls die Staatsmänner bei ihrer ernsthaften Arbeit störte.

Sie dagegen räumen ihm eine zentrale Rolle ein? Mit der Thronbesteigung Wilhelms II. am 15. Juni 1888 wird die Lebensschilderung dieses Mannes, der so energievoll, vielseitig und mächtig war, fast zwangsläufig zu einer politischen Geschichte des wilhelminischen Kaiserreichs. Ich halte ihn für den zentralen Gestaltungsfaktor der deutschen Politik in den Jahren bis zum Kriegsausbruch 1914 und alles in allem für ein Verhängnis für Deutschland und die Welt.

Unterwarf die Verfassung Wilhelm nicht klaren Beschränkungen? Die Rolle des Kaisers war nach der Reichsverfassung in der Tat beschränkt, aber Wilhelm war nicht nur Deutscher Kaiser, sondern auch König von Preußen, Oberster Kriegsherr und Summus Episcopus der evangelischen Kirche. Diese Rollen hat er nicht getrennt, sondern sich als halbabsolutistischer König und als Militär empfunden. Hinzu kommt, daß er nach 28 Jahren der Bismarck-Herrschaft die Vorstellung hatte, das Reich müsse von einem starken Mann geführt werden. „Einer nur ist Herr im Reich, und das bin ich“, sagte er 1891. Der Soldatenkönig, Friedrich der Große und sein Großvater „Wilhelm der Große“ (wie der Enkel es gern haben wollte) waren Vorbilder, aber auch Napoleon.

Neigen wir nicht zu sehr dazu, die bramarbasierende Art und Tonlage für das Fait accompli zu nehmen? Bei meiner Behauptung, Wilhelm sei von 1888 bis 1914 der entscheidende Machtfaktor gewesen, stütze ich mich natürlich nicht nur auf seine Selbsteinschätzung, die man vielleicht als übertrieben ansehen könnte, sondern auf zahllose Quellen aus dem Hoflager, dem Offizierskorps, den Reichsämtern und Ministerien, den Parlamentariern und Journalisten … Die Dokumente erzählen alle dieselbe Geschichte. Der zweite Band meiner Biographie trägt den Titel „Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900“ und zeigt detailgenau, wie Wilhelm in vielen Kämpfen und Krisen gegen erheblichen Widerstand seine persönliche Macht aufbaute.

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Die Tonlage Wilhelms II. führte bekanntermaßen zu vielfältigen Irritationen, insbesondere im Ausland. Inwieweit folgten auf die wilden Worte aber auch Taten, die Wilhelm persönlich zu verantworten hatte? Ob auf die wilden Worte auch Taten folgten? Und ob! Die Entlassung Bismarcks, der Übergang zur Weltmachtpolitik und der fatale Schlachtflottenbau gegen England zählen in diesen Jahren zu seinen bedeutendsten Entscheidungen, aber ich könnte noch Dutzende aufzählen.

Hatte Wilhelm wirklich die Kraft, die Macht und die Fähigkeit, aus sich heraus und quasi im Selbstlauf das „Wilhelminische Zeitalter“ zu schaffen und zu gestalten? Wilhelm II. hatte einen riesigen Hof von mehr als 3000 Menschen um sich, dazu zählten das Hausministerium, das Militär-, Zivil- und Marinekabinett, das Militärische Gefolge mit den General- und Flügeladjutanten, ein Kreis von Günstlingen wie Philipp Graf zu Eulenburg und der Chef des Generalstabs Alfred Graf von Waldersee. Mit der Hilfe dieser Männer setzte sich der Monarch im Lauf der 1890er Jahre gegen den Widerstand der Staatsbürokratie in der Wilhelmstraße (Reichskanzler, Staatsse?kretäre, die preußischen Minister, das Auswärtige Amt mit Friedrich von Holstein als Grauer Eminenz und diplomatischem Korps) durch. Auf der ersten Seite herrschte blinde Ergebenheit gegenüber dem König, die an?dere Seite sah sehr wohl, wie absurd die Errichtung eines quasi-absolutistischen Regiments an der Schwelle zum 20. Jahrhundert war – sie besaß aber letzten Endes nicht den rücksichtslosen politischen Willen, sich gegen den Monarchen durchzusetzen.

Was halten Sie davon, Wilhelm als wichtigen Exponenten seiner Zeit zu sehen, deren zahlreiche wenig erfreuliche Eigenarten er widerspiegelte? Wilhelm war in der Tat ein Exponent „seiner Zeit“, aber in dieser „Zeit“ lagen unendlich viele Möglichkeiten und Tendenzen. Als Kaiser und König war er in der Lage, zu entscheiden, welche Richtungen zum Durchbruch kommen und welche scheitern sollten. Bei seiner Energie und Vielseitigkeit beschränkte sich dieser „Königsmechanismus“, wie ich ihn genannt habe, nicht nur auf die Politik im engeren Sinn, sondern war beispielsweise auch für die Architektur und die Malerei prägend – der Berliner Dom, fast alle Regierungsbauten und Bahnhöfe, mehrere Dutzend Kirchen usw. waren von Wilhelm persönlich beeinflußt. Seine wichtigste Gestaltungsmöglichkeit lag in der Personalpolitik, da er das Recht hatte, jeden Offizier und jeden höheren Beamten im Reich und in Preußen zu ernennen, zu befördern oder zu entlassen. Auch die Macht der Worte sollte nicht unterschätzt werden. In China töteten deutsche Soldaten unter Hinweis auf die „Hunnenrede“ des Kaisers; drei Jahre später sagte August Bebel im Reichstag, jede Rede des Kaisers führe der Sozialdemokratie 100000 neue Stimmen zu.

In welchem Bereich wirkten sich Positionen Wilhelms II. Ihrer Meinung nach am verheerendsten aus? Am gefährlichsten war sein Einfluß in der Außenpolitik – mit dem Erfolg, daß die russische, französische und britische Regierung sehr bald und sehr zu Recht mit größtem Mißtrauen erfüllt waren. Das Kernstück von Wilhelms Weltmachtpolitik war der Schlachtflottenbau. Durch ihn sollte Großbritannien zum Bündnis mit Deutschland, also zur Aufgabe seiner Rolle als Garant des europäischen Gleichgewichts, gezwungen werden. Die Schlachtflotte war Wilhelms ureigene Idee, ohne seine Unterstützung für Tirpitz (seit 1892 Stabschef des Oberkommandos der Marine und seit 1897 Staatssekretär des Reichsmarineamts) wäre sie nicht gebaut worden. Es war der verhängnisvollste Fehler seiner Politik vor 1914. Entscheidend war nicht einmal, daß Schiffe gebaut wurden, sondern was für Schiffe in welchem Zeitraum. Die Engländer waren sich sicher: Diese Schiffe könnten nur gegen die Royal Navy kämpfen. So trieb man sie regelrecht in die Arme erst Japans, dann Frankreichs und Rußlands.

Trauen Sie Wilhelm nicht etwas zu viel zu? Ich will nicht sagen, daß alle Fragen der deutschen Politik von Wilhelm in seinem Sinn entschieden wurden. Für einige Bereiche interessierte er sich wenig, anderes – etwa die Wirtschaftsentwicklung – konnte er ebensowenig beeinflussen wie unsere heutigen Staatsmänner. Die Außenpolitik war sein liebster Tummelplatz, aber selbst hier mußte er Kompromisse eingehen. Dennoch: Auch in den Fällen, in denen er sich nicht durchsetzte, war sein Beitrag zu der endgültigen Entscheidung groß. Beispiel: die Krüger-Depesche vom 3. Januar 1896, die mehr als jedes andere Ereignis vor 1914 die britische Öffentlichkeit gegen ihn und gegen Deutschland einnahm. Die Depesche war nicht seine Idee, sondern die des Außensekretärs Marschall von Bieberstein. Der wollte damit aber nur Schlimmeres verhüten: Denn der Kaiser war mit drei Admirälen im Reichskanzlerpalais erschienen und hatte die Entsendung von Truppen nach Südafrika gefordert, um die „germanischen“ Buren zu unterstützen. Entsetzt rief der alte Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst aus: „Aber Majestät, das wäre der Krieg mit England“, woraufhin Wilhelm entgegnete: „Ja, aber nur zu Land.“ Dann kam man auf die Idee, ein kaiserliches Glückwunschtelegramm an „Ohm“ Krüger zu schicken.

Ich will nochmals insistieren: Wollten nicht auch Politik und Gesellschaft die neue „Weltmachtrolle“, wenn auch vielleicht nicht in der spezifisch draufgängerischen Form? Im Zeitalter des Imperialismus könnte man tatsächlich davon ausgehen, daß ein neugegründetes Deutsches Reich mit einem spektakulären Industriewachstum und einer Bevölkerungszunahme von 40 auf 67 Millionen zwischen 1871 und 1914 eine expansive Außenpolitik betreiben würde. Die Frage ist aber erneut: wie und wo! Wilhelm nannte schon 1892 als sein Ziel die napoleonische Suprematie in Europa. Dafür wollte er die anderen Großmächte gegeneinander hetzen: 1898 England gegen Frankreich, 1902 bis 1904 Rußland gegen Japan. 1903 und erneut 1908 schlug er den USA vor, gemeinsam mit Deutschland das britische Weltreich zu zertrümmern. Solche Pläne beruhten keinesfalls auf Druck von unten.

Kann ein König wirklich entscheiden, welche politischen Tendenzen zum Durchbruch kommen? Die gesellschaftlichen Zwänge haben diese Politik nicht unabwendbar gemacht. Selbst innerhalb des kleinen Berliner Führungskreises war man über das „Persönliche Regiment“ zutiefst entsetzt und hätte mit Sicherheit eine behutsamere, erfolgreichere Politik befolgt, hätte man nur die Chance gehabt. In der weiteren Gesellschaft war man so empört, daß man schon früh offen von Geisteskrankheit und Absetzung sprach. Um 1900 gab es dunkle Pläne der Bundesfürsten und einer Mehrheit im Reichstag, den Kaiser unter Kuratel zu stellen. Im November 1908 stimmte der Reichstag einstimmig gegen seine Art zu regieren. Die eigene Schwester, Charlotte, schlug 1908 vor, die deutschen Bundesfürsten sollten eine Art Kollektivregentschaft errichten, um Wilhelm zu entmachten. 1912 stimmte ein Drittel aller Wähler für die republikanische und marxistische SPD. Ob das nicht mit ein Grund war für die Flucht nach vorn, die man im Juli 1914 ergriff?

Was erwarten Sie als Ergebnis Ihrer Forschungen? Ich denke, meine quellengesät-tigte Interpretation hat zu einem Umschwung in der Beurteilung Wilhelms II. und seines Orts in der deutschen Geschichte geführt. Damit sehe ich meine jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Thema als gerechtfertigt. Es macht jedenfalls Spaß und ist weiterhin äußerst interessant.

Das Interview führte Dr. Marlene P. Hiller

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