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Eine Großstadt wird zur Wasserwüste

Die Hamburger Sturmflut

Eine Großstadt wird zur Wasserwüste
Als in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 eine Sturmflut die deutsche Nordseeküste heimsuchte, konnte sich niemand vorstellen, daß dieses Ereignis Teile der 100 Kilometer entfernt liegenden Großstadt Hamburg in eine Wasserwüste verwandeln würde. 315 Tote waren die traurige Bilanz der Jahrhundertflut.

Der Wetterbericht vom Mittwoch, dem 14. Februar 1962, verzeichnete das Einströmen polarer Kaltluftmassen zwischen einem Island-Tief und einem Azoren-Hoch in die Norddeutsche Bucht bei Windstärke sechs. Am Donnerstag, dem 15., verstärkte sich das Tief bereits zu einem Sturm mit Windstärke neun: „Vincinette“, so sein Name, drehte auf Ost und drückte gegen die nordfriesische Küste. Gegen 21 Uhr brachte Radio „Norddeich“ eine erste Sturmwarnung. Während des ganzen Freitags schwoll der Sturm zum Orkan an – drehte auf Südost und preßte mit unheimlicher Gewalt die bereits aufgestauten Wassermassen in die Elbmündung.

Dort, wo man seit jeher mit Ebbe und Flut lebt, unmittelbar hinter den Deichen, wußte man Pegelstände einzuschätzen. Es war 21.28 Uhr, als der automatische Pegel in Cuxhaven ausfiel: Bei 3,2 Meter über Normalnull (NN) war er stehengeblieben. Fortan konnte er nur noch von Hand gemessen werden. Zwölf Minuten später stand die Flut dicht unter den Deichkronen. Cuxhaven gab mit Luftschutzsirenen Katastrophenalarm. Gegen 21.53 Uhr brach der erste Deich. Eine knappe Stunde später wurde auch auf der anderen Seite der Elbmündung in Brunsbüttel Katastrophenalarm ausgelöst. Zu dieser Zeit war der alte Hafen in Cuxhaven schon in den Fluten versunken: Jetzt drohte der Deich auf 1000 Metern Länge überspült zu werden. Um 22.53 und noch einmal um 23.13 Uhr wurde über alle zur Verfügung stehenden Radiosender auf den Ernst der Lage hingewiesen: „Für Cuxhaven besteht Deichbruchgefahr. Die Bevölkerung wird dringend gebeten, die höheren Stockwerke aufzusuchen. Sagen Sie bitte ihren Nachbarn Bescheid.“ Solch klare Worte gab es in Hamburg nie – aber 315 Tote.

Über das Ausmaß der Gefährdung waren sich 100 Kilometer weiter landeinwärts nur diejenigen im klaren, die von Berufs wegen ständig mit der Nordseeküste in Verbindung standen. Freilich hatte auch die Bevölkerung der Hansestadt an diesem 16. Februar wahrgenommen, daß ein Sturm über Norddeutschland hinwegfegte. Den ganzen Tag über war die Feuerwehr damit beschäftigt gewesen, abgebrochene Äste und herabgestürzte Dachziegel zu beseitigen. Doch daß dem Sturm eine Flut folgen würde, die ein Fünftel ihrer Stadt in eine Wasserwüste verwandelte, erschien den meisten Hamburgern unvorstellbar. Die Meteorologen im Deutschen Hydrographischen Institut hingegen hatten schon bei ihrer Frühberatung am Freitag morgen den Ernst der Lage erkannt. Was sie auf den Dienstweg schickten, erreichte die nachgeordneten Stellen unverzüglich. Schon um zehn Uhr löste die Hauptabteilung Wasserwirtschaft den „Alarmplan zur Sicherung der Wehrdeiche bei Sturmfluten“ aus, dem zufolge gleich eine entsprechende Einsatzstelle eingerichtet werden sollte. Um 11.33 Uhr war auch die Feuerwehr im Ausnahmezustand. Dank eines im Dezember 1961 eingerichteten Warn‧systems samt Katastrophenplan funktionierte die Übermittlung wichtiger Informationen reibungslos. Danach galt ab einem Wasserstand von 2,50 über NN Alarmstufe II, spätestens bei Alarmstufe III waren alle nur denkbaren Organisationen vom Technischen Hilfswerk (THW) über die Wasserschutzpolizei bis hin zu Pionier-Bataillonen der Bundeswehr und Sandlieferanten in den Katastrophenplan eingebunden. Nur: Die Aufmerksamkeit dieses Apparats war ganz auf die Sicherung der Deichanlagen gerichtet, einen Plan zur Evakuierung von Menschen gab es nicht.

Im Lauf des Nachmittags und Abends mußten die zuständigen Behörden die erwarteten Wasserstände fortlaufend nach oben korrigieren. Um 17.25 Uhr gab das Seewetteramt die Warnung „Gefahr schwerer Orkanböen, Stärke zehn bis zwölf aus Nordwest, auch nachts noch anhaltend“ heraus. Gegen 19 Uhr wurde der Direktor des Hydrographischen Instituts, Horn, unruhig. Diesmal gab es eine Warnung von zu erwartenden drei Metern über NN. Horn hielt es für seine Pflicht, die Bevölkerung durch die Medien direkt über die aufziehende Gefahr zu informieren. Denn deren einzige Möglichkeit, sich über den Ernst der Lage zu informieren, war aufgrund einer Polizeiverordnung aus dem Jahr 1955 eingerichtet worden. Sie besagte: „Sobald in Cuxhaven ein Wasserstand von 1,30 über mittlerem Hochwasser [= drei Meter über NN] eintritt, werden am Stintfang, am Stadtdeich und in Finkenwerder zwei schnell aufeinanderfolgende Böllerschüsse abgegeben.“

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Wer das Zeichen zu deuten verstand, wußte nunmehr, daß das Wasser in Hamburg drei Stunden später um etwa 1,4 Meter steigen würde. Wurden nach einiger Zeit noch einmal zwei Böllerschüsse abgegeben, bedeutete dies einen Pegel von über zwei Metern Normal-Hochwasser bei Cuxhaven, ein darauf folgender einzelner Böllerschuß stand schließlich für mindestens 2,5 Meter.

Horn rief beim Norddeutschen Rundfunk an und erbat die Durchsage einer Sondermeldung. Um 20.33 Uhr unterbrach der Sender die Übertragung von Haydns „Schöpfung“: „Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer sehr schweren Sturmflut. Das Nacht-Hochwasser wird etwa drei Meter höher als das mittlere Hochwasser eintreten“. Der nachfolgende Satz freilich klang schon fast wie eine halbe Entwarnung: „Das folgende Mittagshochwasser wird nicht mehr so eintreten.“ Kein Wort fiel indessen über eine mögliche Gefährdung Hamburgs.

Da es Horn nicht ausreichend erschien, nur die Radiohörer zu informieren, beschloß er, auch beim Fernsehen anzurufen. Es dauerte über 20 Minuten, bis der zuständige Redakteur bereit war, eine Sondermeldung zu bringen, allerdings erst in den Spätnachrichten gegen 22.15 Uhr. Denn im Augenblick lief die beliebte Familienserie „Die Hesselbachs“. Und danach kam erst noch eine Dokumentation von Thilo Koch über Sex in den USA. Beides könne nicht unterbrochen werden. Horn meinte, sein möglichstes getan zu haben. Und so meldete die Spätausgabe der „Tagesschau“: „Für die Nordseeküste besteht Gefahr einer sehr schweren Sturmflut.“ Immer noch war von einer unmittelbaren Gefahr für die Hamburger Bevölkerung keine Rede.

In dem am niedrigsten, zwischen Norder- und Süderelbe gelegenen Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg gingen die Menschen allmählich ins Bett. Hier wohnten, vor allem in den meist flachen Behelfswohnheimen und Barackenkolonien südlich der Ernst-August-Schleuse, viele Flüchtlinge, kinderreiche Familien, aber auch viele Rentner. Daß bereits gegen 21 Uhr bei den Einsatzkräften Alarmstufe III ausgelöst worden war, ahnten die Wilhelmsburger nicht. Im Gegenteil: Da es Lohnzahlung gegeben hatte, war die Stimmung gelöst, das Wochenende stand bevor. Kurz nach Mitternacht stand der Pegel bei Cuxhaven bei 3,6 Metern, in Hamburg erst bei 2,7 Metern, doch nur eine knappe Stunde später, so wußte man im Hydrographischen Institut, würde die Flut auf 3,5 bis vier Meter (= 5,7 Meter über NN) steigen. Das hieß: Die Deiche würden überspült werden. Die im Alarmzustand stehenden Spezialeinheiten bereiteten sich auf Sicherungsmaßnahmen vor. Noch immer wäre etwas Zeit zur Evakuierung gewesen. Doch sie war nicht vorgesehen…

Dr. Dirk Schindelbeck

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