Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Eine Welt im Wandel

Die Kirche um 1200

Eine Welt im Wandel
Für den Bischof Jakob von Vitry waren die „schlichten und armen Leute“, die Franziskus von Assisi um sich geschart hatte, von Gott selbst auserwählt – zur Schande der Prälaten, die sich viel zu sehr mit weltlichen und materiellen Dingen beschäftigten. Doch der Grat zwischen Heiligkeit und Ketzerei war schmal in dieser Zeit.

In den letzten Tagen des Jahres 1215 machte sich der nordfranzösische Chorherr Jakob von Vitry auf den beschwerlichen Weg über die Alpen. Er war überraschend zum Bischof der fernen Kreuzfahrerstadt Akkon gewählt worden. Von seinem Heimatkonvent in Oignies nahe Namur sollte ihn der Weg zuerst an die päpstliche Kurie führen, wo er die Bischofs‧weihe und Anweisungen für sein künftiges Amt empfangen wollte. Erst danach sollte er sich in einer der italienischen Hafenstädte ins Heilige Land einschiffen. Als Oberhirte jener Stadt, auf die sich alle Hoffnungen und Anstrengungen einer Rückeroberung des an Saladin verlorenen Königreichs Jerusalem richteten, nutzte er die Etappen seiner langen Reise, um neue Anhänger für die fast verlorene Sache des Kreuzzugs zu gewinnen.

Der Nachwelt blieb Jakob als talentierter Prediger und gelehrter Schriftsteller in Erinnerung. Der spätere Generalmagister des Dominikanerordens Humbert von Romans bewunderte seine Fähigkeit, das Volk durch anschauliche Ermahnungen und Anekdoten in den Bann zu ziehen. Jakobs Werdegang vom Pariser Theologiestudenten und Schüler des berühmten Petrus Cantor über seine Tätigkeit als Beichtvater und Biograph der heiligen Maria von Oignies, über verschie‧dene Stationen als päpstlicher Prediger und Schriftsteller bis zur Wahl zum Bischof von Akkon (1216–1229) und schließlich zum Kardinalbischof von Tusculum (1229–1240) ist ein höchst eindrucksvolles Abbild und Zeugnis des religiösen Wandels im Zeitalter des Franziskus.

In seinen Briefen und in der um 1219 abgeschlossenen „Geschichte des Abendlandes“ beschreibt Jakob von Vitry nicht nur die ersten Anfänge der franziskanischen Bewegung, die er auf seiner Italien-Reise 1216 kennengelernt hatte, sondern er erfasst wie ein zuverlässiger Seismograph die Erschütterungen und Bewegungen in Kirche und Gesellschaft seiner Zeit: die Reformdiskussionen in der Kirche, den neuen Stellenwert der Seelsorge, die Intrigen an der päpstlichen Kurie, die erlahmende Kreuzzugsbegeisterung in Europa, die Schlagkraft ketzerischer Überzeugungen, die reiche Vielfalt neuer religiöser Strömungen, das verbreitete Bedürfnis nach neuen Heiligen und die zunehmende Bedeutung der großen städtischen Zentren. Damit sind zugleich jene Momente benannt, die für Franziskus und seine Anhänger prägend werden sollten. Die Franziskaner profilierten sich im 13. Jahrhundert als vom Papsttum geförderter Reformorden, dessen Schwerpunkte auf der städtischen Seelsorge und auf der Ketzerbekämpfung lagen, sei es durch das überzeugende Lebensideal des Franziskus oder durch die Gewaltmittel der Inquisition.

Besonders das Thema der Ketzerei hatte im 12. Jahrhundert im westlichen Europa zu einer tiefgreifenden Beunruhigung von Kirche und Gesellschaft geführt. In Oberitalien und Südfrankreich, aber auch im Rheinland und in Flandern erzielten ketzerische Gruppen große Erfolge, indem sie die Verdorbenheit der römischen Amtskirche anprangerten und zugleich glaubwürdige Konzepte der apostolischen Lebensweise, des Armutsgedankens und der individuellen Erlösung anboten. Noch 1179 wussten sich die auf dem Dritten Laterankonzil unter Papst Alex-ander III. in Rom versammelten Kirchenoberen nicht anders zu helfen, als gegen die in Südfrankreich stark verbreiteten Katharer einen Kreuzzug auszurufen, während man die auf dem Konzil vorgeladenen Waldenser verhöhnte.

Anzeige

Nur im akademischen Milieu der Pariser Universität machten sich Professoren und Studenten zu dieser Zeit bereits deutlich fortschrittlichere Gedanken darüber, wie die Kirche wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen und damit die Ketzerei mit ihren eigenen Mitteln überwinden könne. Insbesondere die theologische Schule, die sich um den Professor Petrus Cantor (gest. 1197) gebildet hatte, verfolgte dabei das Ziel einer Verbesserung von Seelsorge und Lebenswandel. Durch Predigt und Beichte könne die Kirche der Gemeinde ihre Botschaft vermitteln, aber nur dann, wenn der Seelsorger selbst durch sein Lebensbeispiel diese Botschaft glaubwürdig verkörpere. Das Programm der „Lehre durch Wort und Tat“ war entschieden gegen machtgierige Bischöfe und ungebildete Dorfpriester ausgerichtet, die nach Ansicht der Pariser Theologen das Ansehen der Kirche ruinierten. In seinem Hauptwerk „Verbum abbreviatum“ gab Petrus Cantor detaillierte Anweisungen, wie ein Prediger beim Volk ankomme: kurze Sätze in der Volkssprache, anschauliche Beispielgeschichten, die genaue Kenntnis der Gemeinde und ihrerBedürfnisse sowie – immer wieder – das tadellose Auftreten des Predigers selbst.

Als Franziskus 1181/82 in Assisi geboren wurde, waren viele seiner späteren Ideen bereits in der Welt, wenn auch zunächst nur in einem kleinen akademischen Kreis, dessen Mitglieder allerdings in den Jahren der Bekehrung des Franziskus Kar‧riere machen und damit zu den Wegbereitern der großen Bettelorden des 13. Jahrhunderts werden sollten. Neben Jakob von Vitry gehörten der spätere Kardinal Robert von Courçon, der Erzbischof von Canterbury Stephen Langton (1207–1228), der Prediger Fulko von Neuilly, der Zisterzienser Eustache von Flay und nicht zuletzt der junge Italiener Lothar von Segni dazu, der als Innozenz III. (1198–1216) den Papstthron besteigen und zum entschiedensten Förderer des Franziskus werden sollte. Von Oktober 1216 datiert ein Brief Jakobs von Vitry an seinen Heimatkonvent in Flandern, in dem er über die Ereignisse seiner Italien-Reise Auskunft gibt. Wohl kein zweites mittelalter‧liches Zeugnis kann die religiöse Spannung, die Probleme und Hoffnungen der Kirche dieser Tage anschaulicher beschreiben…

Literatur: Lettres de Jacques de Vitry. Édition critique, ed. R. B. C. Huygens. Leiden 1960. The Historia occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, ed. J. F. Hinnebusch. Fribourg 1972. Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert. Darmstadt 1977. Jörg Oberste, Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters. Köln / Weimar / Wien 2003. Jörg Oberste, Ketzerei und Inquisition im Mittelalter. Darmstadt 2007.

Prof. Dr. Jörg Oberste

Anzeige
DAMALS | Aktuelles Heft
Bildband DAMALS Galerie
Der Podcast zur Geschichte

Geschichten von Alexander dem Großen bis ins 21. Jahrhundert. 2x im Monat reden zwei Historiker über ein Thema aus der Geschichte. In Kooperation mit DAMALS - Das Magazin für Geschichte.
Hören Sie hier die aktuelle Episode:
 
Anzeige
Wissenschaftslexikon

Him|beer|glas|flüg|ler  〈m. 3; Zool.〉 Schmetterling aus der Familie der Glasflügler, dessen Raupe in unteren Rutenteilen der Himbeere u.U. schädlich ist: Bembecia hylaeiformis

Schmeiß|flie|ge  〈f. 19; Zool.〉 stahlblaue Fliege aus der Familie der Fleischfliegen von etwa Bienengröße, wird von faulendem Fleisch angelockt, in das sie Eier legt: Calliphora; Sy Aasfliege … mehr

Ruß|fil|ter  〈m. 3; Kfz〉 Vorrichtung bei Kraftfahrzeugen mit Dieselmotor, die den Ausstoß von Ruß im Abgas verringert ● Autos mit ~; einen ~ einbauen

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige