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„Eine wilde Person bis zum Schluss“

Faszinierende Figuren: Jan Peter über May Picqueray

„Eine wilde Person bis zum Schluss“
Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft sprechen über historische Gestalten, die sie beeindruckt haben. In dieser Ausgabe: der Regisseur Jan Peter über die anarchistische Autorin und Widerstandskämpferin Marie-Jeanne „May“ Picqueray.

Wie sind Sie auf sie gekommen?

Jan Peter: Wir haben 2014 mit französischen Partnern eine Dokumentation als Serie über den Ersten Weltkrieg herausgebracht. Eine zweite Staffel sollte die 1920er und 1930er Jahre behandeln, wieder mit deutschen und französischen Geschichten im Zentrum. Auf der Suche nach Protagonisten sind wir auf ein zerfleddertes Exemplar der Autobiographie von May Picqueray gestoßen – und beim Blättern wuchs das Staunen: Sie läuft ihrem Mann weg. Wird eine moderne, eigenständige Frau. Sie fährt Anfang der 1920er Jahre nach Sowjetrussland. Dort trifft sie Leo Trotzki, tanzt auf dem Tisch im Kreml – wir waren begeistert.

Worüber konkret?

Ihre unglaubliche Kraft und ihre Lust, zu leben und zu kämpfen. Sie hat mit drei Kindern in bitterster Armut gelebt und unter politischen Verhältnissen, die viel dramatischer waren als unsere. Trotzdem gab es bei ihr nie dieses paralysierte Erstarren und Jammern, das wir heute manchmal erleben. Während der deutschen Besetzung Frankreichs war sie eine wichtige Figur in der Résistance. 1968 sang sie mit Studenten Revolutionslieder. In den letzten Jahren vor ihrem Tod 1983 engagierte sie sich in der Friedens- und Umweltbewegung. Sie war eine wilde Person und Anarchistin bis zum Schluss.

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Eine epochenübergreifende Revolutionsbiographie?

Sie hat dieses Gefühl des Anarchismus − nicht oben, nicht unten, niemandem gehorchen – durch ihre Person weitergetragen.

1921 verübte sie einen Sprengstoffanschlag auf die US-Botschaft. War sie eine Terroristin?

Sie beschreibt das in ihrer Autobiographie. Die Tat war damals nie aufgeklärt worden. Sie schickte die Bombe an die Botschaft, und zwar aus Empörung über das Todesurteil in den USA gegen die beiden italienischen Einwanderer und Anarchisten Sacco und Vanzetti, die für einen Mord, den sie nicht begangen haben konnten, hingerichtet wurden. Im Zuge der riesigen Aufregung über diesen Justizskandal verübte May Picqueray das Attentat. Zu ihrem großen Glück richtete die Explosion nur Sachschaden an. Aber ja, damals war sie Terroristin.

1922 beschimpfte sie im Kreml öffentlich ihre Gastgeber …

Sie war entsetzt und angewidert von diesem beginnenden staatsbürokratischen System, in dem die Bolschewisten ihre ehemaligen Partner in der Revolution einen nach dem anderen liquidierten. Sie ist auf den Tisch gesprungen und hat eine flammende Rede gehalten gegen Trotzki in dessen Anwesenheit. Irgendwie scheint Trotzki aber von dieser kleinen, wütenden Frau beeindruckt gewesen zu sein und besorgte ihr, nachdem sie zunächst verhaftet worden war, persönlich einen Pass für die Ausreise.

Interview: Dr. Winfried Dolderer

Jan Peter geb. 1968, Film- und Opernregisseur, Autor. Ende der 1980er Jahre in der DDR-Bürgerrechtsbewegung aktiv. Seit 1993 Filmproduzent in Leipzig. Werke unter anderem „Krieg der Träume. 1918 –1939“ (dokumentarische Dramaserie 2018, auch als DVD).

Marie-Jeanne („May“) Picqueray (1898 −1983), französische Autorin, Widerstandskämpferin, militante Anarchistin. 1940 bis 1944 aktiv in einer Fluchthelfergruppe für deutsche Juden und französische Zwangs‧arbeiter. 1974 bis 1983 Herausgeberin der Zeitschrift „Le Réfractaire“.

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